Der Putsch Hitlers gegen SA und Bürgertum im Juli 1934
und seine Bewertung in der Braunschweiger
Stadtpfarrerschaft [1]
Mal wieder Kriegszustand im Reich
Am Sonntag, dem 1. Juli 1934, erfuhren die Braunschweiger
aus der Sonntagsausgabe der Landeszeitung als Aufmacher auf Seite eins von
einem angeblichen Putsch der SA-Führung gegen Hitler, der von Hitler persönlich
aufgedeckt und niedergeschlagen worden sei. „Röhm-Komplott niedergeschlagen.
Rücksichtsloses Vorgehen des Führers gegen die Rebellen“. Röhm sei im Kurort
Wiesee verhaftet; an seinen Nachfolger Victor Lutze hatte Hitler eine
ausführlichen Brief gerichtet. Bei der Schilderung des angeblichen Ablaufes der
Ereignisse, der von Goebbels stammte, lasen die Braunschweiger, dass SA Führer
Heine mit einem jungen Mann im Bett angetroffen worden sei. Auf den nächsten
Seiten wurde die Erschießung von sechs namentlich genannten hohen SA Führern in
Bayern und von General Schleicher in Berlin berichtet. Also anscheinend eine
breite, politisch unterschiedliche Verschwörung mit dem Ziel des Sturzes von
Hitler? „Jetzt wird reiner Tisch gemacht – Vernichtungsschlag gegen Reaktion
und Meuterei – Unerschütterliche Verbundenheit des Führers und der SA“. In der
ausführlichen Presseerklärung Görings war zu lesen: „Der Prozess der Säuberung
wird nun rücksichtslos vorwärts getrieben“.[2]
Göring war für das Land Preußen und Berlin zuständig. Dort war die mörderische
Bartholomäusnacht schon angebrochen. Die Bezeichnung „Röhmputsch“ stammte von
Heydrich. Er hatte die jungen Mörder in Berlin mit dem knappen Befehl
„Röhmputsch, Staatsnotstand, Führerbefehl“ in das Todeskommando geschickt.
Der Name „Röhmputsch“, der noch lange in der historischen
Literatur Verwendung fand, stellt die Tatsachen auf den Kopf. Es war kein
Putsch der SA gegen Hitler, sondern ein Putsch Hitlers gegen die SA und Teile
des Bürgertums.
Die Nachricht muss die Braunschweiger SA schwer getroffen
haben. Erst am vorhergehenden Donnerstag hatten sich die alten Kämpfer der
Braunschweiger SA in Holsts Garten getroffen[3]
und Standartenführer Polikeit hatte erklärt: „Seit je war treueste Stütze im
Kampf des Führers die SA und SS.“ Am nächsten Tag, dem Freitag, machte die BTZ
mit der Überschrift auf „Das Deutschland Hitlers steht unerschütterlich“.[4]
Von drohenden Gewitterwolken war nichts zu lesen, aber im Kommentar vom
Sonnabend, dem 30.6, dass die Kampagne des Propagandaministeriums gegen
„Nörgler und Miesmacher“ nun beendet sei. Sie hatte sich wochenlang gegen „jene
geistige, impotente Schicht der Ewiggestrigen“ gerichtet, gegen die „breite
Schicht der nörgelnden Spießbürger.“ Die Partei hatte entdeckt, dass der
Rückhalt für die Regierung in der Bevölkerung keineswegs schon „rückhaltlos“
gewesen war.[5]
Für einen Schlag gegen die Reaktion war also gut vorgearbeitet, nämlich gegen
die Reste der Hugenbergianer und Papens, aber gegen die SA? Die Samstagausgabe
der BTZ veröffentlichte „Das Gesicht der SA“, eine Porträtaufnahme, aus dem
„bedingungslose Treue zum Führer“ und „fanatischer Glaube an Deutschland“ herausgelesen
werden sollte.[6]
Nicht das Gesicht eines Putschisten!
In der Brüdernkirche predigte an diesem Sonntag Paulipfarrer
Henneberger. Auch der erst seit kurzem amtierende neue „Kirchenführer“
Landesbischof Helmut Johnsen hatte den Gottesdienst in der traditionsreichen
Brüdernkirche besucht und verlas folgendes Telegramm an Hitler: „Das
braunschweigische ev. luth. Kirchenvolk steht in schwerer Stunde geschlossen
zum Führer und seinem Werk. Der Verantwortung eingedenk gelobt die Landeskirche
ihre Pflicht zu tun im Dritten Reich. Gott behüte Sie“.[7]
Geschlossenheit zum Führer demonstrierten die Braunschweiger
am Montagabend, als Robert Ley zu den Politischen Leitern sprach und nach
Zeitungsberichten 50.000 Braunschweiger die Wolfenbüttlerstraße verstopften, um
ihre Verbundenheit mit Hitler zu bekunden.[8]
Ohne Hitler war für sie Deutschland schon undenkbar geworden.
Aber die Berichterstattung ließ zu viele Fragen offen. In
Windeseile sprach sich in Berlin herum, dass das Ehepaar Schleicher in seinem
Dienstzimmer erschossen worden sei. Kein Katholik in Berlin mochte glauben, das
der gläubige und engagierte Erich Klausener, Ministerialdirektor in
Verkehrsministerium, Selbstmord begangen habe. Klausener hatte erst kürzlich
das Schlusswort auf einem gut besuchten Katholikentag in Berlin gesprochen. Der
Mörder hatte, um Selbstmord vorzutäuschen, eine Pistole neben die Leiche
gelegt. Pater Bernhard Stempfle „Mitwisser privater Hitler-Geheimnisse“,[9]
starb nach drei Herzschüssen und gebrochener Wirbelsäule. Die Mordzentralen
waren die Kadettenanstalt in Berlin-Lichtenrade und das Columbia-Haus, das ein
SS- KZ war.
Selbstmord hieß es auch bei Georg Strasser. Tatsächlich
wurde er von der Gestapo verhaftet und von einem SS Mann in seiner
Gefängniszelle rücklings erschossen. Der Pressechef Papens v. Bose wurde im
Dienstsitz des Vizekanzlers erschossen. Die Leiche des Ritter v. Kahr, der den
Putsch Hitlers im November 1923 im München vereitelt hatte, wurde durch
Spitzhacken verstümmelt im Dachauer Moor gefunden.
Aus den SS Zentralen verbreiteten sich Machtgier,
Blutrausch, Begleichung alter politischer Rechnungen. Es konnte sich in
Deutschland keiner mehr sicher fühlen, wenn z.B. auf der Todesliste Schmidt
stand; ein Irrtum konnte den falschen Schmidt treffen. So geschah es auch. Die
Historiker zählen 200 Todesopfer. Es können auch mehr gewesen sein. Deutschland
war wieder Frontgebiet geworden
Beruhigend sollte auf die Bevölkerung die Meldung wirken,
dass das Kabinett der Aktion den Status eines Staatsnotstandes gegeben hatte
und damit die Hinrichtungen und Verhaftungen als rechtmäßig anzusehen seien,
und dass der greise Reichspräsident v. Hindenburg die Aktion gebilligt habe,
der letzte verhängnisvolle Dienst dieses Mannes in einer Reihe von üblen
Fehlentscheidungen.
Aber die Auslandskorrespondenten berichteten von weiteren
Hinrichtungen und Erschießungen, sodass sich Goebbels in einer breit angelegten
Rundfunkansprache gegen „unsinnige Gerüchte“ wandte. Die Ansprache wurde in
mehrere Sprachen übersetzt und wiederholt gesendet.
Dankgottesdienst in der Magnikirche
In dieser aufgeregten, verunsichernden Atmosphäre lud
Pfarrer Brutzer zu einem „Dankgottesdienst aus Anlass der Säuberungsaktion“ am
Dienstag abend in die Magnikirche ein. Da war Gelegenheit gewesen, der zahlreichen
Familienangehörigen der Ermordeten und ohne Gerichtsurteil Erschossenen zu
gedenken. Die Frage, warum denn kein Hochverratsprozess eingeleitet, sondern
ein Todesurteil vorweggenommen und vollstreckt worden sei, hätte Platz in einem
Gottesdienst haben können.
Es wurde der seinerzeit viel missverstandene Bibeltext Röm.
13 von der Obrigkeit verlesen. Der Sonntagsgruß vom 8. Juli 1934
veröffentlichte die Ansprache als „Eine Stimme der Kirche zu den Ereignissen
des 30. Juni 1934“.[10]
Brutzers Ansprache legte nicht ein Bibelwort aus, sondern
kreiste allein um die Person Hitlers. Hitler sei der von Gott bestellte
Wächter, der über dem Vaterland wache. Er gebe Gott immer wieder die Ehre. Ihm
habe Gott beigestanden, ihm Entschluss und Tatkraft verliehen. „Wir danken es
in diesem Hause, das uns der Gegenwart Gottes bewusst werden lässt, unserem
Führer, dass er sich unter Gott beugt, und in der Vollmacht, die er ihm gegeben
hat, im höchsten Verantwortungsbewusstsein vor Gott und vor dem Volk, dessen
Schicksal ihm anvertraut ist, getan hat, was er tun musste, ohne Rücksicht auf
die Person, um unser Volk vor dem Verderben zu retten und zu bewahren vor
fremder Mächte Einmischung in unsere innere Angelegenheiten, die wir Deutschen
nach Gottes Willen selbst zu ordnen und zu leiten haben“.
Im Rückblick auf die vergangenen 16 Monate stellte Brutzer
fest. „Wir freuten uns von Herzen in der Erkenntnis, dass Gerechtigkeit unser
Land zu erhöhen begann und dass die volksverderblichen Mächte der Unordnung,
Zuchtlosigkeit, des Liberalismus, der Sünde immer mehr an Boden verloren.
Wie Jesus bei der Reinigung des Tempels die Geißel
geschwungen habe, so „hat Jesus wieder einmal durch die Hand Adolf Hitlers
seine Geißel geschwungen auch über unser deutsches Land“. Die Ansprache klang
aus in der Freude, dass „in diesem Eingriff Gottes durch unsern Kanzler eine
Freundlichkeit und Güte Gottes zum Besten unseres Volkes und Vaterlandes“
sichtbar werde.
Der 61 jährige Ernst Brutzer war Balte, er stammte aus Riga,
war zunächst bei der Leipziger Mission tätig gewesen, und war seit 1924
Pfarrer an der Magnikirche. Als Balte und Missionsmann brachte er ein
geschärftes Gespür für nationale Fragen mit, das sich auch leicht überreizen
konnte. Er hatte sich den Deutschen Christen angeschlossen.[11]
Er vertrat keine Einzelmeinung, denn im Braunschweigischen
Volksblatt war am 8. Juli zu lesen: „Gott hat unser Volk vor namenlosem Leid
und unausdenkbarer Zerrüttung bewahrt. Er hat die Gewissen angeschlagen. Adolf
Hitler ist entschlossen, mit unnachsichtiger Schärfe in allen Organisationen
der Partei aufzuräumen. Deutschland ist im letzten Augenblick von einem
unabsehbaren Chaos zurückgerissen worden. Hitler ist zum zweiten Mal Retter
unsres Volkes geworden“.[12]
Einführungspredigt des Katharinenpfarrers v. Wernsdorff
Eine Woche nach der Mordaktion Hitlers gegen Teile des
Bürgertums und die SA wurde der 32 Jahre alte Pfarrer Hans Georg v. Wernsdorff
als Pfarrer der Katharinenkirche von Kreispfarrer Wagner eingeführt. v.
Wernsdorff war Westpreuße, in Berlin aufgewachsen und fünf Jahre Pfarrer in
Rosenthal/Neumark gewesen.[13]
Im Gemeindeblatt von Katharinen sind „Gedanken aus der Antrittspredigt“
veröffentlicht. Sie geben den Hauptgedanken der Predigt wieder, der den Text
„Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr, in das Himmelreich kommen,
sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel“ (Matthäus 7,21) behandelte.
v. Wernsdorff legte nicht den Bibeltext aus aus, sondern
stellte die grundsätzliche Frage nach einer Verbindung zwischen Christentum und
Nationalsozialismus. Dabei ging er von den Ereignissen des 30. Juni aus. „Die
Ereignisse des 30. Juni haben allen Deutschen, die guten Willens sind,
schwerste Erschütterung bedeutet und ihnen die Augen geöffnet über die Tiefe
des Abgrundes, an dem wir standen, und in den wir unweigerlich hinabgestürzt
wären, wenn nicht der Führer im letzten Augenblick zugegriffen hätte.“ In dem
Aufruf Hitlers an die SA habe dieser das Wesen des Nationalsozialismus knapp
zusammengefasst. „Nicht Parteiabzeichen und Uniform und auch nicht ein
äußerliches sich-mit dem Munde- Bekennen sind ausschlaggebend für die rechte
Stellung zum Führer, sondern allein unser Tun in dem Geist, den Hitler uns
aufzuprägen versucht.“ Damit war die Verbindung zum Bibeltext hergestellt.
„Nicht das „Sagen“, sondern das „Tun“ entscheide hier. „In diesem heiligen
Appell Jesu Christi an die Aktivität derer, die seine Jünger sein wollen,
finden sich Nationalsozialismus und Evangelium auf derselben Ebene zusammen,
das Evangelium von oben, von Gott her, der Nationalsozialismus von unten, von
der Erde, vom Volk her. Wer hier noch tiefer bis zu den Wurzeln geht, der muss
sogar feststellen, dass sich rechter Nationalsozialismus überhaupt nur aus den
Grundwahrheiten der Botschaft Jesu Christi erklären lässt.“[14]
Diese weitreichende Schlussfolgerung über das Verhältnis von Christentum und
Nationalsozialismus, dass der Nationalsozialismus im Christentum wurzele, war
keineswegs einzig. Der Parteiprogrammpunkt „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ war
ebenfalls gerne auf die biblische Aufforderung zur Nächstenliebe zurückgeführt
worden. Das legt die bis heute unerledigte Frage nahe: Wäre der
Nationalsozialismus ohne das Christentum möglich gewesen?
v. Wernsdorff erklärte programmatisch, der
Katharinengemeinde stehe eine bedeutungsvolle Wende in ihrer Entwicklung bevor.
Die bestand zunächst darin, dass dieses deutsch-christliche Grundverständnis
von der engen Verbindung zwischen Christentum und Nationalsozialismus von
seinem Kollegen Pfarrer Korn geteilt wurde. Nun käme es auf das gemeinsame Tun
von Pfarrer und Kirchengemeindemitgliedern an, „dass mitten unter uns eine
lebendige Gemeinde Gottes entstehe... Nur unter dieser Losung können wir an
unserem Teil die volksnahe Kirche des dritten Reiches bauen, in der Gemeindeglieder
und Pastoren als Glieder eines Volkes und als Jünger eines Meisters sich die
Hand reichen zu gemeinsamer Arbeit.“
Korns Vortrag „Kirche und Volkstum“
Um die Programmatik zu betonen, hielt der andere,
zweieinhalb Jahre jüngere Katharinenpfarrer lic. Hans Korn, der seit November
Pfarrer an Katharinen war, am Mittwoch derselben Woche vor dem Männerkreis
Katharinen einen Vortrag über „Kirche und Volkstum.“[15]
Korn sah, wie es damals üblich war, den Nationalsozialismus im völligen
Gegensatz zum Liberalismus. „Wir können es dem Führer nicht genug danken, dass
er mit seinem scharfen Durchgriff es jedem bewiesen hat: Nationalsozialist sein
und Nationalsozialismus vertreten heißt, sich seinem Volk verantwortlich
wissen bis ins Letzte des persönlichen Lebens. Wer noch meint, ein Leben in
freier Verantwortung vor sich selbst führen zu können, der verstößt gegen diese
Grundforderung und trägt zur Auflösung und Zerstörung aller Ordnung bei.“ Die
Ereignisse des 30. Juni seien nur ein Nachspiel eben dieses „Liberalismus“, ein
nochmaliges Aufflackern eines Fiebers, einer Krankheit, die nun zur Krisis
ausgebrochen sei. „Nun ist es aber im totalen Staat zum Gegenstoß gegen die
zerstörenden Kräfte aller krankhaften Ichsucht gekommen. Wer heute noch allein
sich selbst leben will ohne Verantwortung gegen den andern, der verstößt nicht
nur gegen das Gesetz des Lebens, sondern auch gegen den Willen des totalen
Staates, der zur Überwindung der totalen Krisis um der Gesundung des Ganzen
willen alle krankhafte Ichsucht vernichten muss... Jetzt ist es ganz klar, dass
der totale Staat, unser drittes Reich, mit seinem Gesetz: Gemeinnutz geht vor
Eigennutz oder: Lebe deinem Nächsten, deinem Volksgenossen, Erfüller und
Förderer einer Ordnung ist, die sich nicht mehr aus sich selbst heraus
versteht, sondern die aus der Wirklichkeit ist, die Gotteswirklichkeit ist.“
Korn wiederholt den von v. Wernsdorff in der Predigt
ausgeführten Gedanken von der Verbindung der Gotteswirklichkeit mit der
Parteiwirklichkeit. Da der Mensch jedoch die Ordnung des Staates nicht von sich
aus erfüllen könne, bedürfe er des Helfers Jesus Christus, „damit er im Glauben
an ihn und in der Gemeinschaft seines Geistes als sündiger und doch neu
geschaffener Mensch Kraft zur Erfüllung eines Lebens der Verantwortung vor dem
andern als den Sinn seines eigenen Lebens finde“.
Mit diesen beiden programmatischen Aussagen positionierte
sich die Katharinengemeinde als klassische deutsch-christliche Hochburg, mit
einem zeitgemäßen, theologisch in sich geschlossen begründeten Profil. Dabei
waren sie von dem im Vordergrund stehenden politischen Ereignis ausgegangen,
das für sie keine Mordaktion Hitlers, sondern eine sittlich verantwortliche,
geradezu vorbildliche Tat war.
Pfarrer Grüner am Sonntag nach dem Hitlerputsch
An demselben Sonntag predigte in der Martinikirche Pfarrer
Grüner. Grüner war der Intimfreund des abgesetzten Bischofs Beye gewesen und
hatte ihn mehrfach auf seinen Dienstreisen nach Berlin begleitet. Im April 1934
hatte er durch einige im Gemeindebrief veröffentlichte Thesen Aufsehen erregt,
deren erste lautete: „In Adolf Hitler ist uns Jesus Christus erschienen“. So
gotteslästerlich uns diese These heute erscheint, so war sie die naheliegende
Folge der Bindung der Deutschen Christen an Person und Politik Hilers.
Grüner predigte anhand von Matthäus 18,1-10 über „Wahre
Größe“.[16]
Auch er ging von den Ereignissen des 30. Juni aus: „Es wird wohl kaum einen
hier unter uns geben, der nicht noch heute bis ins Innerste bewegt, den
Vorgängen gefolgt wäre, die in Berlin, München und in Bad Wiessee geschehen.
Uns allen entringt sich ein Befreiungsseufzer aus dankbewegter tiefer Brust,
dass der Führer mit einem persönlichen Mut ohnegleichen Deutschland zum zweiten
Mal gerettet hast aus tiefer Schmach und größter Not. In die Annalen deutscher
Geschichte wird der 30. Juni 1934 neben dem 30. Januar 1933 für ewige Zeiten
eingegraben sein als neues Flurzeichen der Welt. Der Herr hat Großes an uns
getan – nun danket alle Gott!“
Wie Jesus sei aber Hitler nicht nur Erlöser und Retter,
sondern auch Richter. „Bisher hatte das deutsche Volk in Hitler den Befreier
aus nationaler Schande und sozialer Not gesehen; es hatte ihn erkannt als den
Erbauer des Dritten Reiches und schenkte ihm darum sein Herz und seinen
Glauben. Am 30. Juni wurde er zum Vollstrecker eines Gottesgerichtes – weil er
Vollmacht von Gott hatte. Den Glauben an seine Sendung, den einst schon Luther
hatte; nicht nur vor Kaiser und Reich, Papst und Kirche zu treten, sondern auch
in das aufrührerische Wittenberg zu gehen, als verbrecherische Horden sein Werk
zu zerstören drohten, - diesen Glauben hat auch Hitler, und darum hat er im
Namen und im Auftrag eines Höheren handeln und siegen können. Fragst du, woher
diese Männer solchen unerhörten Mannesmut hernehmen, so gibt die Antwort unser
Text im 3. und 4. Verse: Es ist das kindliche, einfache unkomplizierte Gemüt,
der kindliche Glaube, der Berge versetzen kann. Darum ist er stark und der
Größte im Reich. Und die Vorsehung hält ihre Hände über ihm und segnet ihn. Nun
danket alle Gott.“
Grüner deutete die zahlreichen Hinrichtungen als
„Gottesgericht“ und nahm vorweg, was Hitler dann in seiner Reichstagsrede von
13. Juli verkündete, nämlich dass er oberster Richter des Dritten Reiches sei.
In der zweiten Hälfte der Predigt behandelte Grüner die
Aufforderung, gläubig wie die Kinder zu werden und schloss: „Darum lasst uns
für unsere Kinder und an unsern Kindern – selber Gottes Kinder werden, damit in
ihnen Gottes Reich im Dritten Reich erscheine! In unsern Kinderseelen können
wir Gott schauen und werden im Dienst an ihnen befreit von allem, was
Selbstsucht und Ehrgeiz heißt – um Gottes und unseres Volkes willen.
Lasst uns eine Gemeinde von Kindern Gottes werden – gläubig
wie Luther, mutig wie Hitler – dann werden wir groß sein im Reiche Gottes.
Amen.“
Die vier genannten Predigten stammten von überzeugten
Deutschen Christen. Ihnen ist eine völlig unkritische Beurteilung der Untaten
Hitlers und eine persönliche Bindung an die Person Hitlers gemeinsam. Sie
überboten die propagandistische Berichterstattung, indem sie die Person Hitler
noch religiös überhöhten., und von der Hand Gottes sprachen, die an der
Mörderhand Hitlers anschaulich werde. „Gott war am Werke“, war der einheitlich
Tenor, und zwar rettend.
Aus einer anderen theologischen Grundeinstellung war ein
Widerspruch zu erwarten. Ende Mai 1934 hatte in Barmen die erste
Bekenntnissynode getagt. Mit sechs Thesen wiedersprach sie scharf den Deutschen
Christen. In der ersten These verwarf die Synodalen die Lehre, als könne man
„auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes
Offenbarung anerkennen“. Eben dies hatte Grüner gepredigt, als er die
Mordaktion als „Gottesgericht“ interpretiert hatte. Und zur zweiten These hieß
es: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche, in denen wir nicht
Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir
nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürfen“. Das konnte leicht
als Angriff auf den Totalitätsanspruch der nationalsozialistischen Führung
verstanden werden. Diese Barmer Synode war Ende Juni noch frisch in Erinnerung
und Ruf und Rüstung, herausgegeben von Domprediger v. Schwartz, hatte sie
ausführlich dokumentiert.[17]
Nun hatte Hitler auffällig spät die Reichstagskulisse zum
13. Juli einberufen. Es war ein merkwürdiges Bild: Der Reichstag war von SS mit
Stahlhelm dicht besetzt, weil Hitler ein Attentat von aufgebrachten
Parteigenossen befürchtete[18],
auf der Regierungsbank fehlten Röhm und Papen, und unter den Reichstagsabgeordneten
fehlten 12 SA Führer, die erschossen worden waren. Es konnte der Eindruck einer
Regierungskrise entstehen. Hitler erklärte in einer zweistündigen Rede der
deutschen Bevölkerung, die zum Gemeinschaftsempfang am Rundfunk aufgefordert
worden war, seine Sicht seines Putsches gegen Bürgertum und SA. Er listete in
seiner Rede 77 Todesopfer auf, davon 74 auf Befehl erschossen.[19]
. Aber die Zahl war falsch, es waren nur die Ermordeten der SA und SS, nicht
die Bürgerlichen. Hitler erklärte unumwunden: „Ich habe den Befehl gegeben, die
Hauptschuldigen an diesem Verrat zu erschießen, ich gab weiteren Befehl, bei
jedem Versuch des Widerstandes der Meuterer gegen die Verhaftung diese sofort
mit der Waffe niederzumachen.[20]
Das war im Juli 1934 für alle erkennbar ein bisher einmaliger Rechtsbruch, und
in der jüngsten Rechtsgeschichte einzig.
Die Frau des stellvertretenden Bürgermeisters Gebensleben
schrieb an ihre Tochter am 14.7.: „Gestern abend um diese Zeit saßen wir hier
im Zimmer und hörten unseren Kanzler sprechen. Ich wollte, Ihr hättet die Worte
mal wirklich hören können, nicht nur lesen. Man wird ganz klein angesichts der
Größe, der Wahrhaftigkeit und Offenheit eines solchen Mannes.“[21]
Das war eine vielleicht repräsentative Stimme des
begeisterten, irregeführten und verblendeten Braunschweiger Bürgertums.
Die Andacht von Pfarrer Goetze nach der Hitlerrede
Am Sonntag nach der Rede Hitlers predigte Pastor Alfred
Goetze in der Paulikirche und veröffentlichte eine Andacht im Sonntagsgruß vom
22. Juli unter dem Bibelwort: „Ihr gedachtet`s böse mit mir zu machen; aber
Gott gedachte es gut zu machen, dass er täte, wie es jetzt am Tage ist zu
erhalten viel Volks“ (1. Mose 50,20). Goetze gehörte zum Pfarrernotbund, also
zur Bekennenden Kirche, die sich in der Barmer Synode zusammengefunden hatte.
Auch Pfarrer Goetze verstand, wie schon der gewählte Bibeltext verrät, den
Putsch Hitlers als ein von Gott gelenktes Geschehen. „Unter dem unmittelbaren
Eindruck der Sitzung des deutschen Reichstages muss diese Betrachtung geschrieben
werden... Wenn wir, wenn unser deutsches Volk in diesen letzten Junitagen in
Aufstand, Blutvergießen, ein entsetzliches Morden zwischen Volksbrüdern, wie in
einen Strudel hineingeraten wären?! Wenn die Verräter und Verführer triumphiert
hätten, der Führer unseres neugeeinten Volkes ihre Opfer geworden wäre?! Die
Nacht des Erzitterns vor solchen Möglichkeiten ist gewichen, ein neuer Morgen
ist angebrochen. Deutschland faltet in tiefer Ergriffenheit und Herzensbewegung
die Hände: Ihr gedachtet`s böse mit mir zu machen; aber Gott gedachte es gut zu
machen..“ Goetze benutzte nicht die Gelegenheit, den Kernsatz der Barmer
Erklärung aktuell auszulegen, dass es keinen Bereich gäbe, der Jesus Christus
nicht gehöre, er also auch Herr des Rechtes ist und nicht Hitler. Goetze
übernahm unkritisch und ohne Rückfragen die Version Hitlers und ließ keinen
Unterschied zu den deutsch-christlichen Predigerbrüdern erkennen.
Diese erste Barmer Bekenntnissynode April 1933 ist noch
lange nach 1945 auch als Widerspruch gegen den Nationalsozialismus
interpretiert worden. Völlig zu Unrecht. Auf eine Kurzformel gebracht
proklamierte die Synode ein scharfes Nein zu Reichsbischof Müller und ein Ja
zum nationalsozialistischen Staat unter Hitler. Das Mitglied des Braunschweiger
Pfarrernotbundes bestätigte diese Grundhaltung mit seiner Andacht nach der
Reichstagsrede Hitlers.
Alle fünf Predigten, Andachten, Reden, die aus
unterschiedlichen theologischen Lagern kamen, waren sich einig in der engen
Bindung an Hitler und in der religiösen Überhöhung der Mordaktion.. Zwischen
Prediger und Hörergemeinde bestand eine Wechselbeziehung. Der Prediger nahm die
begeisterte Stimmung in der Bevölkerung auf und deutete sie als Gotteswerk,
Gottesgeschenk, Gottesbewahrung. Typisch schloss Grüner daher seine deutenden
Predigtabschnitte mit dem Anfang des sog. „Chorals von Leuthen“ „Nun danket
alle Gott“. Prediger und Gemeinde wurden Teilhaber der Hitlerschen
Masseninfektion, einer Massenpsychose.
Hitler konnte viele Gesichter aufsetzen. Am Nachmittag der
Mordaktion charmierte er plaudernd im Garten der Reichkanzlei bei einer
Kaffeegesellschaft. Vor dem Reichstag gab er das Gesicht des entschlossenen
Kriegsherrn. Andere Parteigenossen erlebten noch ein ganz anderes Gesicht.
Nach dem Mordmorgen wollte am späten Vormittag des gleichen
Tages Hitler im Senatorensaal des Braunen Hauses in München einer Anzahl von SA
Führern seine Version erläutern. Ein Augenzeuge schilderte: „Er öffnete den
Mund zum Sprechen, da schoss ihm ein Ballen Schaum aus dem Munde, wie ich es
bei keinem Menschen je vorher oder hernach gesehen habe“. Hitlers Stimme habe
sich überschlagen und der Reichstatthalter von München, Ritter v. Epp murmelte:
„Verrückt!“[22]
War die Mordaktion eine Folge der psychopathischen Unruhe,
die bei Hitler wieder zum Ausbruch kam? Hitler hatte bemerkt, dass es in der
Öffentlichkeit an der „blinden“ Gefolgschaft fehlte. Es musste wieder eine
Kriegssituation hergestellt werden. Papen hatte in einer Rede in der
Universität Marburg scharfe Kritik an der Regierung geübt. Es gab auch
Spannungen zwischen Hitler und dem SA Stabschef Röhm. Beide boten für Hitler
das ausreichende Feindbild. Seit Februar 1934 bereits wurden Todeslisten in
Berlin zusammengestellt, der Kreis der Opfer teilweise auch wieder verkleinert.
Hitler lockte die SA Führung in das bayrisches Bad Wiessee und ließ sie dort
abschießen.
Mit einer erschreckenden Offenheit wurde die deutsche
Öffentlichkeit über die Mordserie informiert Es gab ja noch eine amtierende
Justiz, die den Vorwurf des Hochverrats durch die Staatsanwaltschaft
untersuchen und die Anklage auf Hochverrat vortragen konnte. Das aber musste
Hitler auf jeden Fall vermeiden, denn es gab keine Beweise für einen Aufstand
der SA, es gab nur die Todeslisten, die das Gegenteil bewiesen. Es meldete sich
kein Richter zu Wort. Auch der Kardinalstaatsekretär Pacelli (später Papst Pius
XII.) schwieg, obwohl sich unter den Opfern hochangesehene Katholiken befanden.
Sie ließen sich alle vom Psychopathen Hitler infizieren, wie
Karl Bonhoeffer feststellte und lagerten in sich eine Mordbereitschaft, die
dann in den 2. Weltkrieg mündete und sich schließlich gegen sie selbst
richtete.