Die Gruppenarbeit in den Kirchengemeinden als stabiler Pfeiler der
doppelgesichtigen Volkskirche: Frauenhilfe, Jugendarbeit, Männerwerk
Wenn sich einer bei den Stadtansichten von damals auf den
Boden der Kirchengemeinden begibt und nicht nur auf der Kommandobrücke des
gesunkenen Kirchenschiffes verharrt, dann kommen Gruppen in Sicht, die bei
Gesamtdarstellungen jener Zeit mehr am Rande behandelt werden. Zur kirchlichen
Situation jener Zeit gehört auch die Tatsache, dass die verschiedenen Gemeindegruppen,
die sich keineswegs aufgelöst oder „gleichgeschaltet“ hatten, während der
nationalsozialistischen Zeit ihr Eigenleben in den Kirchengemeinden
fortsetzten. Es ist für manche Leser vielleicht etwas zu kirchenintern, aber
die Beharrlichkeit dieser Gruppen bedarf der Beschreibung und Interpretation im
Kontext der Stadtgeschichte. Ein stiller Vergleich mit der Jetztzeit ist nicht
reizlos.
Die Frauenhilfen in den Kirchengemeinden
1933 gab es in allen Stadtkirchengemeinden eine oder sogar
mehrere Frauenhilfsgruppen. Wo mehrere Pfarrer tätig waren, sammelte sich jeder
seine eigene Frauenhilfsgruppe um sich. Es gab in der Stadt 16 Frauenhilfen mit
insgesamt 3.409 Frauenhilfsschwestern.[1]
Nach den Eingemeindungen 1934 war die Zahl der Frauenhilfen auf 24 gewachsen.[2]
Die Frauenarbeit war in der Kirchengemeinde fest verwurzelt. Einige
evangelische Frauenhilfen hatten sich schon vor dem 1. Weltkrieg gebildet. In
der Jakobigemeinde bestand sie bereits seit 1912,[3]
in der Andreasgemeinde seit 1913. Im Jahr 1912 wurde eine Frauenhilfe in
Gliesmarode gegründet. Ihrer hartnäckigen Aktivität ist es u.a. zu verdanken,
dass in Gliesmarode 1936 eine Kirche errichtet wurde, die Bugenhagenkirche.[4]
Zu den Jüngsten gehörte die Frauenhilfe der Brüdernkirche, die 1936 ihr zehn
jähriges Bestehen mit einem Abendmahlsgottesdienst in der Kirche feierte, an
dem 80 Frauenhilfsschwestern teilnahmen.[5]
Solche sakramental-gottesdienstliche Bindung war vor 1933 nicht üblich.
Die mitgliederstärkste Frauenhilfe war die vom 2.
Gemeindebezirk der Johannisgemeinde mit 508 Mitgliedern, gefolgt vom 1.
Gemeindebezirk von Johannis mit 385 Mitgliedern. Von einer der drei
Frauenhilfen der Pauligemeinde sind 180 Mitglieder bekannt.
Einmal im Jahr traf sich jede Frauenhilfe zur
Jahresversammlung, die besonders gut besucht war und in der die Vorsitzende den
Jahresrückblick und Kassenbericht erstattete. Eine Säule der Frauenhilfsarbeit
war ein fester Kreis von Helferinnen, die sich in der Gemeindearbeit, aber auch
in den zu jeder Gemeinde zugehörenden Gemeindepflegestationen betätigten. Der
Jahresbericht von 1932/33 nennt 328 Helferinnen in der Stadt. Sie bildeten
zwischen dem breiten Mitgliederbestand und den Leitungskräften einen Mittelbau,
der auch zu Schulungen und weiterer Förderung eingeladen wurde. Er traf sich
monatlich und war der harte Kern. Pfarrer Gennrich berichtete, dass 1939 die
Frauenhilfe seines Gemeindebezirkes praktisch zusammengebrochen sei und die
Mitglieder nicht mehr kämen, aber der Helferinnenkreis sei noch aktiv. Eine
ganz besondere Aufgabe war die Kinderbetreuung im Sommer, wenn die
Kirchengemeinden die Kinder zu Sommerausflügen mit Spielen und biblischer
Geschichte in die nähere Umgebung einluden, oft dreimal wöchentlich über drei
Wochen lang. Eine Liste aus dem Jahr 1932 zählt aus elf Gemeinden die
Beteiligung von insgesamt 1.067 Kindern auf.[6]
Die Frauenhilfsarbeit am Beispiel der St. Jakobigemeinde
Im Gemeindeblatt für St. Jakobi wurde über die
Frauenhilfsarbeit zur Information der Gemeindemitglieder von Jahr zu Jahr
Bericht erstattet, der ein genaues Bild ermöglicht. Im Folgenden sind die Jahre
1936 und 1937 chronologisch erfasst:
Die Frauenhilfsarbeit am Beispiel der St. Jakobigemeinde
Jahresbericht für das Jahr 1936 von Frieda Schelble
10. 5. 1936 Hauptversammlung Verlesung des Jahres- und
Kassenberichtes
29. 9. 1936 Lichtbildervortrag von Pastor Kalberlah
„Feriengedanken“
28.10. 1936 Vortrag von Pastor Dietz über „Lutherstätten“.
3. 12. 1936 Adventsfeier erstmals in der Kirche
20.12. 1936 Großmütterkaffee
28.1. 1937 Vortrag von Pastor Dietz über das Kirchenjahr
17.2. 1937 Lichtbildervortrag von Pastor Kalberlah „Auf den
Spuren eines deutschen Künstlers –Rudolf Schäfer“.
10.5 1937 Alle Frauenhilfen der Stadt treffen sich in der
Brüdernkirche zum Müttertag. Ansprache: Landesbischof Johnsen
30. 8. 1937 Missionsfest in Riddagshausen. Vormittags
Festgottesdienst in der Jakobikirche
27.9.1937 Fahrt nach Wittenberg
31.10.1937 Gemeinsamer Gottesdienst aller Frauenhilfen der
Stadt zum Reformationstag in der Martinikirche
25.11.1937 Jahresfest des Stadtverbandes der Frauenhilfen im
großen Saal des Hofjägers. Pastor Rauls begrüßt statt des Landesbischofs.
Pastor Barg spricht über „Ich glaube an den Heiligen Geist.“ [7]
1938: Hauptversammlung. Im Juli wurden an drei Tagen fünf
Wochen lang die Waldspiele von 130-150 Kindern beaufsichtigt. Es gab Kaffee und
Kuchen.
Im September in 6 Omnibussen Fahrt zur neuen Rühmer Kapelle
am Wendenturm. Vortrag von Pastor Dietz über Friedrich v. Bodelschwingh und von
Missionsinspektor Brecht, Hildesheim über „Gottes Wort in China heute“.
Adventsfeier im Grotrian Steinweg Saal. Großmütterkaffee am 4. Advent für
Einsame und Alte und Krippenspiel.
Ein namhafter Betrag für die Hauspflegestation wurde an den
Stadtkirchenverband überwiesen.
Auch 1939 Ausflüge, gemeinsame Gottesdienste, Vorträge.
Adventsfeier. Da die Jahreshauptversammlung am 19. April 1939, einen Tag vor
dem 5o. Geburtstag Hitlers stattfand, dankte die Vorsitzende Frau Schwarz
rückblickend: „Als evangelische Christen und gute Nationalsozialisten wollen
wir stolz auf unsern Führer und unser Großdeutsches Reich sein.“ Pastor Dietz
rühmte Hitler, das deutsche Volk werde von der ganzen Welt um diesen Führer
beneidet. „Wir aber grüßten den Führer an seinem Geburtstage in dankbarer
Liebe“.[8]
Im letzten erscheinenden Gemeindeblatt stellte Pastor
Kalberlah noch einmal die Frauenhilfe zusammenfassend vor: „Die Frauenhilfe,
wie unser Frauenverein jetzt heißt, kommt monatlich zusammen, Eine Betrachtung
über ein Schriftwort leitet die Versammlung ein; Vortrag des Gemeindepfarrers
oder eines anderen Pfarrers, oft mit Lichtbildern, gibt Einblicke in
evangelisch-kirchliches Leben in der Jetztzeit, in Mission, Gustav Adolf
Verein, Evangelischen Bund und in die Arbeit der Frauenhilfe im Reich. Stets
wird dabei evangelisches Liedgut gepflegt, christliche Dichtung und Kunst
herangezogen. Im letzten Jahr wurde u.a. geboten Leben und Werk des Matthias
Claudius, Fahrt zu den Lutherstätten, Weihnachten im Lied der deutschen
Landschaften, Heimkehr der evangelischen Balten-, Wolhynien- und
Bessarabien-Deutschen; Aufbauarbeit der Kirche in dem Gebiet der Hermann Göring
Werke. Feierstunden und Besichtigungen wurden gehalten in der Bugenhagenkirche
in Gliesmarode, in der St. Georgkirche im Siegfriedviertel. Die Frauenhilfe
setzt sich auch für die Verbreitung evangelischen Schrifttums ein und sorgt für
die Verteilungsschriften in den Krankenhäusern.“[9]
Diese Grundstruktur der Veranstaltungen der Frauenhilfe kann
als repräsentativ für alle Stadtgemeinden gelten. Variationen ergaben sich
durch die Persönlichkeit und Vorlieben des Gemeindepfarrers.
Bezeichnenderweise war die Frauenhilfe nicht Gegenstand der
Visitation durch den Propst, weil die Frauenhilfsarbeit grundsätzlich
unabhängig vom Einfluss oder gar von einer Aufsicht durch die Kirchenbehörde
war. Sie kam auf dem Fragebogen der Visitation nicht vor.
Diese Durchmischung von Geistlichem und Geselligem, von
Hilfstätigem an Kindern und Alten und Weiterbildung in Kunst und Literatur
schufen ein spezifisches evangelisches Milieu.
Der Stadtkirchenverband der Frauenhilfe
Alle Frauenhilfen der Stadt waren im Stadtkirchenverband
zusammengefasst. Vorsitzende des Stadtkirchenverbandes war Elise Zschäbitz,[10]
die Vorsitzende der Frauenhilfe in Magni, Schriftführerin die Pfarrerswitwe
Sinemus. Einmal im Jahr organisierte der Stadtverband der Frauenhilfe ein
Jahresfest, zu dem sich alle Braunschweiger Frauenhilfsgruppen meist im
Spätherbst trafen.
Die Jahrestreffen fand entweder im Hofjäger oder im
Konzerthaus statt. Dazu war noch 1938 wie schon 1934 der große Saal zeitgemäß
festlich geschmückt. „Die Fahnen des Dritten Reiches und der Frauenhilfe
grüßten von den Wänden. Sie waren ein Zeichen dafür, dass die Frauenhilfe sich
freudig zum Staat bekennt, dass sie ihre besondere Aufgabe zu erfüllen hat. Die
Frauenhilfe gehörte zu den wenigen parteiungebundenen Organisationen, die noch
öffentliche Räume in Anspruch nahm.
Die Kirchenchöre der Stadt beteiligten sich an der
musikalischen Ausgestaltung, der Chor von St. Katharinen meist am Nachmittag,
der Chor von St. Petri bei den Abendgottesdiensten. Die Theatergruppe des
Wilhelmgymnasiums führte Stücke auf, 1934 ein Apostelspiel, 1936 Otto
Riethmüllers Sprechstück „Lobgesang“, 1937 unter Leitung von Otto Meves das
Balladenstück „Die Schnitterin“. Für Gottesdienste, die manchmal das Jahresfest
beschlossen, hatte der Stadtverband auswärtige Prediger gewinnen können. Am
Abend des 10. Oktober 1937 predigte Hauptpastor Schöffel, Hamburg in der
Andreaskirche über das erste Gebot, im Jahr 1938 war Prof. Hans Dieter Wendland
aus Kiel Gastprediger, der die neue Jahreslosung „Fürchte dich nicht, denn ich
habe dich erlöst“ auslegte. Die Liturgie hielt OKR Seebaß, Marienstift. Der
Mittelpunkt der Jahresfeste waren die jeweiligen Vorträge, meist zu den Jahresthemen.
1937 referierte Frau Pastor Herzberg aus Hofgeismar über „Die evangelische Frau
und das Evangelium“. Das Jahresthema lautete „Wort und Sakrament“. Das
Jahresfest am 9. Oktober 1938 stand unter dem Leitwort „Die Gemeinde unter
Wort und Sakrament“. Frau Pastor Fischer aus Saalfeld legte das Thema anhand
des Gesangbuchverses aus dem neuen Frauenhilfsgesangbuch aus: „Es tut ihn nicht
gereuen in dieser gefährlichen Zeit, sein Kirche zu erneuen, dich herrlich
auferbauen durch sein rein Wort und Sakrament.“ Der Redakteur des
Braunschweiger Volksblattes fasste das Ziel des Referates so zusammen: „Unser
vornehmster Dienst ist, unseren Gemeinden zu helfen im Suchen nach Gottes
Wort“.[11]
Einen besonderen, demonstrativen Charakter hatte das
Jahresfest am 26. Januar 1936. Im Herbst 1935 hatte keines stattgefunden und
war auf den Januar verlegt worden. Es war enorm besucht. 1.800 Frauen hatten
sich nachmittags im Hofjäger eingefunden. Vormittags nahmen die
Frauenhilfsgruppen teilweise „geschlossen“, will wohl heißen ziemlich
vollzählig, an den Vormittagsgottesdiensten in ihren Stadtkirchen teil. Der
Termin war kritisch. Propst Leistikow war noch nicht aus seinem
prozessbedingten unfreiwilligen Urlaub zurückgekehrt. Das Verhältnis zur
nationalsozialistischen Frauenschaft hatte sich verschärft. Auch die
Landesvorsitzende Agnes v. Grone war in politisches Sperrfeuer geraten und
hatte „krankheitsbedingt“ ihre Teilnahme abgesagt. Die Frauenhilfe sei
zusammengekommen, „um in geschlossener Einheit ihren Willen zur Kirche zu
bekennen,“ hieß es in der Begrüßung durch Magnipfarrer Rauls, der ausdrücklich
Bischof Johnsen dafür dankte, dass sich dieser vor die Frauenhilfe gestellt
hätte. [12]
Bischof Johnsen hielt ein Grundsatzreferat über „Ich glaube an Jesus Christus.“
Diesen zweiten Glaubensartikel hatte sich die Reichsfrauenhilfe als zentrales
Thema für die Winterarbeit der Frauenhilfen ausgewählt. Der Landesbischof
entwickelte in einem unverfroren-beharrlichen Stil seine Position der
kirchlichen Mitte des doppelten Ja zum unverfälschten Evangelium wie zur Treue
zur nationalsozialistischen Staatsführung. Er „wandte sich gegen alle Versuche,
die darauf abzielten, dem deutschen Volk eine anderes religiöses Bekenntnis zu
bringen als das vom gekreuzigten und auferstandenen Heiland.“ Der Auftrag der
Kirche sei es, das Evangelium „unverkürzt“ unter das Volk zu bringen. „Hierbei
wisse sie sich mitten in der Gesellschaft unseres Volkes stehend und dem Führer
des Volkes zur Treue verpflichtet.“
Noch am 25. Mai 1944 wurden die Frauenhilfe zur
Jahresversammlung eingeladen mit der Einschränkung, dass bei Fliegeralarm eine
halbe Stunde nach „Entwarnung“ die Versammlung fortgesetzt werde.
Diese alljährlichen Jahresfeste des Stadtverbandes der
Frauenhilfe waren in ihrer Kontinuität, in ihrem geistlichen wie öffentlichen
Erscheinungsbild ein beachtliche Repräsentation der Kirche in der
nationalsozialistischen Stadtgesellschaft.
Die Jahresfeste des Landesverbandes in der Stadt
Seltener fand auch das Jahresfest des Landesverbandes in
Braunschweig statt, wozu die Frauenhilfen aus der ganzen Landeskirche
eingeladen waren und in die Stadt strömten. Am 7. Mai 1933, dem Sonntag
Jubilate, fand ein solches großes Fest in Braunschweig statt. Am Vormittag
waren Festgottesdienste in der überfüllten Brüdernkirche und Martinikirche, am
Nachmittag trafen sich 3.000 Frauenhilfsschwestern in der Stadthalle. Nach
vielen Grußworten und einem Vortrag mit dem etwas frauenhilfsfernen Thema
„Deutsche Mütter – Deutschlands Zukunft“ sang die Braunschweiger Singakademie
unter Leitung von Willi Sonnen das Requiem von Brahms, was nicht gerade zur
Jahreszeit passte, aber die Braunschweiger Kulturgemeinde feierte den 100.
Geburtstag von Johannes Brahms.[13]
Am Vorabend hatte die Schülertheatergruppe des Wilhelmgymnasium im Hofjäger zwei
Stücke „Die Heimkehr“ und „Gevatter Tod“ aufgeführt. Die Frauenhilfe war fest
in wichtigen gesellschaftlichen Gruppen verankert. Nach vier Jahren war
wiederum Braunschweig mit der Ausrichtung des Jahresfestes des Landesverbandes
dran. Es fand am 11. April 1937 nachmittags in der Martinikirche mit Vorträgen
von den Pfarrern Wilhelm Brandt, Potsdam statt, der „Die Treue der Frauenhilfe
zur Kirche“ behandelte und Walter Jeep, dem früheren Leiter der Braunschweiger
Inneren Mission, der das Thema „die Treue der Frauenhilfe zum Volk“ ausführte.
Nach den Vorträgen war Gelegenheit zu Kaffe und Kuchen in den Gemeindesälen
oder Restaurants. Eine Schlusssfeier fand in der Katharinenkirche von
18.00-19.30 Uhr statt, in der Bischof Johnsen referierte. Für die Braunschweiger
Frauenhilfsschwestern wurden die Vorträge vom Nachmittag am Abend in der
Martinikirche wiederholt, denn mit 1.200 Besuchern war das Treffen überlaufen.[14]
Dem Jahresfest war eine Singwoche vom 6.-10. April in der Petrikirche
vorausgegangen, in der aus dem neuen Liederbuch der Frauenhilfe geprobt wurde.
Das Jahresfest stand unter dem Motto des Liedes, das auch das Motto des
Liederbuches war „Lob Gott getrost mit Singen“ (siehe weiter unten).
Der Landesverband der Frauenhilfe wurde seit 1925 von Agnes
v. Grone, Gutsherrin in Westerbrak, geleitet.[15]
Die Geschäftsführung hatte seit 1925 Helene v. Sengbusch, deren Büro in
Braunschweig bei der Magnkirche 7, später in der Peter Joseph Krahestraße lag.
Helene v. Sengbusch stammte aus dem Baltikum. Auf ihre rührige Arbeit und
Besuchstätigkeit in allen Teilen der Landeskirche geht die Gründung zahlreicher
Frauenhilfen in der Landeskirche zurück. Hochgewachsen, meist im schwarzen
Kostüm und hochgeschlossener Bluse strahlte sie eine freundliche, einnehmende,
aber auch distanzierende Autorität aus. Sie verkörperte die Art jenes
preußischen Pietismus, der Pflichtbewusstsein, Ordnungsliebe und Bescheidenheit
mit Frömmigkeit verband und vorlebte. Das hat auf die Braunschweiger
Kirchlichkeit Eindruck gemacht. Frau Edeling Unger hat in der Festschrift zum
90jährtigen Bestehen der Frauenhilfe in einer Porträtskizze an sie erinnert.[16]
Zu ihrem Begräbnis wünschte sie sich die Auslegung des Bibelwortes „Herr, so du
willst, kannst du mich wohl reinigen.“[17]
Es ist aus der Geschichte von der Reinigung eines aussätzigen Menschen (Mt.
8,2) entnommen. Wer wünscht sich einen solchen Text zur Beerdigung? Das ist
jemand, der die Welt, die Menschen und sich selber für unrein und
reinigungsbedürftig, erlösungsbedürftig hält. Diese persönliche und
gesellschaftliche Erlösung geht von Jesus aus, und von sonst niemandem. Der Ruf
zu Jesus hält ihn von Dünkel und Hochmut ab. Er nimmt ihn in Pflicht, für
Aufräumen und Reinigen in Kirche und Gesellschaft zu sorgen. Das lässt ihn auch
nicht ruhen, weil dieser Ruf von Jesus immer gilt, täglich. Es ist das Wort
einer eindrucksvollen Frömmigkeit, eben jenes preußischen Pietismus. „Ihr
ganzes Leben gehörte dem Dienst, den sie mit Freude tat, immer wieder Kraft
schöpfend aus dem Glauben, aus dem heiligen Wort“, schrieb Agnes von Grone im
Nachruf.[18]
Die Braunschweiger Landeskirche hat durchaus ihre „Pietisten“ gehabt.
Die Reichsfrauenhilfe verfügte über eigene Zeitungen,
darunter „der Bote“, der in der Frauenhilfszentrale in Potsdam redigiert wurde,
ab 1938 von Pfarrer Rudolf Brinckmeier, der aus seiner Vorwohler Gemeinde in
die Geschäftsstelle der Reichsfrauenhilfe nach Potsdam gewechselt war.
Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen
Frauenschaft
Die Frauenhilfsarbeit hat auch in den Jahren des
Nationalsozialismus Bestand gehabt. Das war nicht selbstverständlich. Die NSDAP
hatte schon vor 1933 mit der Gründung einer nationalsozialistischen
Frauenschaft eine eigene Frauenarbeit begonnen, mit der eine gedeihliche
Zusammenarbeit erwünscht war und auch durchgeführt wurde. Zur Hauptversammlung
der Frauenhilfe von St. Andreas im Mai 1933 erschienen auch Mitglieder der
Frauenschaft im Haus der Loge, und Kirchenrat Runte wünschte in seinem
Schlusswort, dass sich das Verhältnis von Frauenhilfe und Frauenschaft in
gegenseitiger Anregung und Freundschaft gestalten möge.[19]
Die Frauenhilfe schloss ein geordnetes Nebeneinander von Frauenhilfe und
Frauenschaft ihrerseits nicht aus, wenn es von der nationalsozialistischen
Partei gewünscht wurde. Aber mit dem zunehmenden Totalitätsanspruch der Partei
wurde schon 1934 ein Nebeneinander immer schwieriger. Der Konflikt spielte sich
vor allem auf der Führungsebene ab [20]
und erreichte für kurze Zeit die Gemeindeebene, als den Frauenhilfen verboten
wurde, neue Mitglieder aufzunehmen. Der für die Frauenhilfsarbeit in der
Landeskirche inzwischen beauftragte Pfarrer Rauls von der Magnikirche teilte
den Frauenhilfsschwestern die Aufhebung dieses Verbotes zum 1.1.1935 mit. „Es
ist also endlich der Weg zu lebendiger Frauenhilfsarbeit wieder frei“.[21]
Auf die Dauer erwies sich das Frauenhilfsmilieu als so selbständig, dass ein
Zusammengehen mit der NS Frauenschaft undurchführbar war. Es ist schlecht
vorstellbar, dass sich eine der elf Ortsgruppen der Braunschweiger NS
Frauenschaft an einer Busfahrt nach Bethel beteiligt hätte, zu der die
Braunschweiger Frauenhilfen in vier Bussen am 1. September 1937 aufgebrochen
waren.[22]
Vor allem die Frauenschaftsspitze in Gestalt der
Reichsfrauenschaftsführerin Scholtz-Klink wünschte kein Nebeneinander, sie
duldete nur unbedingte Gefolgschaft. Sie selber hatte sich schon dem Führer
unterworfen. Die Reichsfrauenschaftsführerin war der prominente Gast auf der
Tagung der niedersächsischen Gaufrauenschaft am 1.- 3. November 1935 in
Braunschweig. Die Tagung wurde stimmungsvoll zur Nachtzeit im Braunschweiger
Dom eröffnet, in dem Laien- und Weihespiele und musikalische Stücke von Händel,
Gluck, Bach und den Modernen Gerhard Maasz und Hermann Grote („Deutsches
Gebet“) abwechselten. Die Veranstaltung hätte vom Programm her genauso gut im
Hofjäger oder Konzerthaus stattfinden können. Aber der Dom bot die erwünschte
Stimmung.[23]
Möglicherweise wollte der Braunschweiger Staat den Anspruch auf Benutzung des
Domes als Staatseigentum mal wieder geltend machen, wie schon zwei Wochen zuvor
bei einer HJ Veranstaltung, für die auch der Dom für eine Grundsatzrede von
Baldur v. Schirach in Anspruch genommen worden war.[24]
Die Tagung endete mit einer groß aufgezogenen Kundgebung am Sonntag auf dem
Schlossplatz, wo die Reichsfrauenschaftsführerin Gertrud Scholtz-Klink eine
Grundsatzrede hielt. Die „geistvolle Rede“ habe sich „mit dem Problem wahrer
Religiösität und echtem Deutschtum“ beschäftigt, berichtete der Reporter der
Braunschweiger Neusten Nachrichten. Es gehe nicht an, sich wegen
konfessioneller Meinungsunterschiede zu bekriegen, es komme vielmehr darauf an,
alle Kräfte dem wegweisenden Gedanken unterzuordnen: dem Glauben an
Deutschland.[25]
Das war die Position der Deutschen Glaubensbewegung, die in Braunschweig schon
oft vorgetragen worden war. Was jedoch den wiederholten Jubel der vielen Frauen
auf dem Schlossplatz hervorrief, war der Ton und die polemische Zuspitzung
dieser Position, die erst der Bericht der Parteizeitung treffend wiedergab. Scholtz-Klink
zog über die „ewig Gestrigen“ her, die die Frauenschaft darauf hinwiesen, dass
sie, also die bürgerlichen Frauenverbände, früher eben dieselbe praktische
Arbeit gemacht hätten wie jetzt die Frauenschaft. Das Entscheidende jedoch habe
ihnen gefehlt, so Scholtz-Klink, nämlich „die zielklare und weltanschaulich
bedingte Richtung“. Daher sei ihr Erfolg „kümmerlich“ gewesen. Sie spottete
über jene Frauen, die, bevor sie einen Entschluss fassten, zu ihrem Pfarrer
hingingen und ihn befragten. „Sucht euren Herrgott dort, wo er euch lebendig
ist“, rief sie aus, „wo ihr ihn fühlt. Nicht im unklaren, törichten Streit von
Dogmatik besessenen Theologen, nicht in verstaubten, alten Bibeln, sondern
dort, wo ihr selber seid, in euch, in euren Familien, in euren Kindern. Betet
zu eurem Gott, der da droben wohnt, aber ruft ihn nicht an als katholischen
Vater, als evangelischen Herrn, als euren Bekenntnisgott oder als euren
deutschen Christvater, denn es gibt nur einen Herrn, der über euch wohnt, und
das ist unser Gott“.[26]
Zur Veranstaltung war auch die evangelische Frauenhilfe eingeladen, die diese
schnoddrigen Passagen nur als Gemeinheit empfinden konnten. Es war ein Schlag
gegen das von ihr vertretene Modell eines geordneten Nebeneinanders von
nationalsozialistischer Frauenschaft und evangelischer Frauenhilfe. Das Modell
lag nun zerdeppert auf dem Schlossplatz und war nicht wieder zu kitten.
Die Berichterstattung über die Veranstaltung auf dem
Schlossplatz war in der Regionalpresse sehr unterschiedlich. Der Braunschweiger
Allgemeine Anzeiger brachte nicht die kirchenpolemischen Attacken[27]
und die Braunschweiger Landeszeitung sprach sogar von einem Miteinander von
Frauenschaft und Frauenhilfe.[28]
Scholtz-Klink war damals 33 Jahre alt und überzeugte
Hitleranhängerin. „In unbeirrbarem Glauben an den Führer sind wir Frauen damals
(nämlich vor 1933 D.K.) unsern Weg gegangen,“ erklärte sie in einem Interview
zu dieser Tagung.[29]
Dabei ist sie ihr Leben lang geblieben. 1978 veröffentlichte sie eine sog
Dokumentation „die Frau im Dritten Reich“, in der sie ihre bleibende
Faszination von Hitler beschrieb: „Um uns herum in unseren wesentlichen
Entwicklungsjahren: Kampf, Hass, Dunkel –Hoffnungslosigkeit. Bis eines Tages
der Name Adolf Hitler in unser Bewusstsein drang – eines Frontsoldaten, der
unser Volk wachrüttelte, uns Licht zeigte, wo wir nur Dunkel sahen, der uns
nicht mehr aus der Hand ließ, und uns das gab, was ein Mensch damals dringender
brauchte als alles andere: Selbstvertrauen, Glauben an eine Zukunft und den Mut
zu diesem Glauben“.[30]
Nichts hatte diese Frau auch 30 Jahre nach dem militärischen Ende des
Nationalsozialismus in ihrem verdrehten Hitlerbild beirren lassen. Ihr Bild von
1978 entsprach dem Gedicht, das die BTZ zur Gaufrauenschaftstagung
veröffentlichte: „Die deutsche Frau an Adolf Hitler. Du hast ihr Herz in deine
Hand genommen/ und formst es um mit echter Meisterschaft/ du bist in jedes
deutsche Haus gekommen/ein Freund, ein Helfer, eine stille Kraft// Die
halberloschenen Flammen unsrer Herde/ sie brennen neu durch deines Glaubens Glut/
und neues Korn wächst aus der deutschen Erde/ die unterm Schatten deiner Treue
ruht// Du führtest uns bis an die letzten Stufen/ Nun stießen wir mit dir die
Tore auf/ du hast in uns die Kräfte wachgerufen/ Nun gehen wir mit dir den Weg
hinauf“.[31]
Die Strophen sind weit mehr als der poetische Versuch einer vereinzelten,
verirrten „Nazisse“, sie geben die Gefühlswelt vieler Frauen damals wieder. Vom
Hitlerbild Braunschweiger Pfarrer ist noch weiter unten die Rede, und man kann
nicht pauschal feststellen, dass die Mitglieder der Braunschweiger Frauenhilfe
gegen dieses Hitlerbegeisterung gefeit gewesen seien. Aber das Modell des
doppelten Ja zu Jesus Christus und zu Adolf Hitler enthielt nun doch als
Korrektiv das andere Ja, zum Evangelium und den „verstaubten Bibeln“, eine
Bemerkung, die für die anwesenden Frauenhilfsschwestern auf dem Schlossplatz
eine besondere Kränkung darstellte.
Bollwerk Bibelarbeit und Frauenhilfsgesangbuch „Lobt Gott getrost mit
Singen“
Als das eigentliche Hemmnis für eine Verschmelzung von
Frauenhilfe und Frauenschaft erwies sich die Bibelarbeit und das neue
Liederbuch. Anders als heute war die Bibelstunde noch ein fester Bestandteil im
Terminkalender des Gemeindepfarrers und der wöchentlichen Veranstaltungen im
Kirchenkalender. Sie wurden zeitweise sogar in der Regionalpresse
veröffentlicht. Zu dem Sonntag, an dem Scholtz-Klink in Braunschweig sprach,
veröffentlichte die Braunschweiger Tageszeitung den Namen des Sonntags – es
war der 20. Sonntag nach Trinitatis – die Gottesdienstzeiten und Orte und
Prediger, und weiterhin die Bibelstunden in der kommenden Woche: in Brüdern,
Johannis, Martin Luther, Martini und Pauli am Dienstag, in Magni am Mittwoch,
in Katharinen und Pauli am Donnerstag, in Andreas, Jakobi und Petri am Freitag,
dazu sogar die Themen, nämlich den 2. Thessalonicherbrief und das Leben des
Paulus an Hand der Apostelgeschichte. Damit nicht genug, es wurden auch
sämtliche Termine der Veranstaltungen der Evangelischen Jugendarbeit in der
Woche gemeldet. Das passte wenig zum provozierenden Ton der
Reichsfrauenschaftsführerin, zumal die Braunschweiger Tageszeitung die erklärte
Parteizeitung war und bis 1945 blieb.
Aber die Bibelarbeit wurde zeitweise vom radikalen Teil der
Braunschweiger Staatsregierung als gefährlich eingestuft worden. Im Dezember
1934 hatte ein ängstlicher Landpfarrer im Landeskirchenamt angefragt, ob er in
seinem Pfarrhaus Bibelstunden halten dürfe. Staatsrat Jeckeln, im
Innenministerium tätig, hielt eine Bibelstunde für eine „öffentliche Veranstaltung“,
die Ende 1934 verboten waren. Oberkirchenrat Röpke bat dringend das
Staatsministerium, keine Maßnahmen gegen die Abhaltung von Bibelstunden zu
unternehmen.[32]
Ministerpräsident Klagges entschied, dass Bibelstunden abgehalten werden
dürften.
Im Monatsblatt der Reichsfrauenhilfe war in jeder Nummer
eine Bibelarbeit meist fortlaufend über ein biblisches Buch abgedruckt, 1933
von Generalsuperintendent Zoellner über den 1. Petrusbrief. [33]
Es waren betuliche, predigtartige Auslegungen für eine zuhörende Gemeinde. In
den Braunschweiger Frauenhilfen wurde die Bibelarbeit meist durch eine Andacht
des jeweiligen Gemeindepfarrers zu Beginn einer Veranstaltung ersetzt.
Ganz anders verstand Maria Weigle das Ziel und die Methodik
einer Bibelarbeit. Maria Weigle war ausgebildete Theologin und arbeitete seit
1928 in der Reichsfrauenhilfe.[34]
Sie reiste durch die Frauenhilfen und bot Bibelarbeiten an, in denen ein
biblischer Text von den Teilnehmern selbständig erarbeitet wurde. Maria Weigle
gab Anstöße zum Verständnis des Textes, aber kein fertiges Ergebnis. Sie
verwandelte die Kursusteilnehmer aus einem zuhörenden zu einem mitarbeitenden
Arbeitskreis. Das war damals neu und stieß auf viel Zustimmung. Ihre Methode
widersprach vor allem den autoritären Formen jener Zeit und fand nur schwer
Zugang in einem autoritär geführten Pfarramt.
Im März 1934 war Maria Weigle zu einer dreitägigen
Bibelschulung in Braunschweig im Petripfarramt.[35]
Diese verlief offensichtlich so erfolgreich, dass am 14./15. Februar 1936
wiederum zweitägige Bibelschulungen angeboten wurden, die Frau Magdalene v.
Tiling, Potsdam leitete. Das Programm sah vor: Freitag 15.00-18.00 und
20.00-22.00 Uhr Bibelarbeit. Sonnabend: 10.00-12.00 Uhr und 16.1/2 – 19.00 Uhr
Bibelarbeit. Das war eine stramme und intensive Beschäftigung mit der Heiligen
Schrift.[36]
Im Januar 1941 war Vikarin Maria Weigle erneut für drei Tage Gast des
Landesverbandes und legte die Gebote 4-8 aus.[37]
Es gab auch weniger anstrengende Angebote, die von der
Volksmissionarin Fanny Anacker und Frau Schewenz aus Hildesheim durchgeführt
wurden. Dabei wurde die Bibelarbeit auf den Vormittag beschränkt, der
Nachmittag war biblischen oder praktischen Vorträgen oder Ausflügen und
Besuchen in der Stadt vorbehalten. [38]
Diese Form der Bibelarbeit stand eher unter einem appellativen Aspekt.[39]
Die Frauen fanden eine solche Freude an den Bibelarbeiten,
dass die Frauenhilfe der Magnigemeinde Frauen auf dem Lande zu einer Bibelwoche
vom 15.-21. Februar 1937 einluden. 19 Teilnehmerinnen fanden sich ein: „Die
Hauptsache war die Bibelarbeit, die jeden Morgen von der Schwester Fanny
Anacker geleitet wurde, dem der 3. Glaubensartikel zugrunde gelegt wurde. Am
Nachmittag wurde das Marienstift, das Vaterländische Museum oder die
Bugenhagenkirche in Gliesmarode besucht.[40]
Die Frauenhilfe Pauli lud im November/Dezember die Landfrauen zu einer
Bibelwoche ein, die Johannisgemeinde im Dezember 1938 in die Leonhardskapelle.
Um der Bibelarbeit einen besonderen Anschub zu verleihen,
wurde die Winterarbeit an einem bestimmten Thema gelegentlich mit einem
Festgottesdienst eingeleitet, so die Winterarbeit im Oktober 1934 und am 1.
November 1942 in der Petrikirche mit einer Predigt von Pfarrer Wilhelm Brandt,
Potsdam, dem neuen Geschäftsführer und Nachfolger von Adolf Brandmeyer. Im Arbeitsbericht
hieß es: „Mehr denn je steht die Bibelarbeit im Mittelpunkt.“
Neben der Bibelarbeit war die Einführung eines eigenen
Gesangbuches für die Frauenhilfsarbeit jener Jahre prägend. Es war von einer
Kommission der evangelischen Reichsfrauenhilfe erarbeitet worden, umfasste 203
Liednummern, hatte ein handliches Format für die Handtasche, in den
Frauenhilfsfarben blau/weiß gefasst und trug den Titel „Lob
Gott getrost mit Singen“. Es fand eine rasend schnelle Verbreitung. Im Jahr
1935 waren bereits über 300.000 Exemplare aufgelegt. Ab 1936 gehörte es zum
festen Mitbringsel jeder Frauenhilfsveranstaltung. Es enthielt bekannte
Choräle, neues Liedgut von Otto Riethmüller und Walter Schäfer, Volkslieder,
Fahrtenlieder, im Bus zu singen oder Kanons im Kreis auf der Wiese. 44 der
Choräle standen bereits im gebräuchlichen Braunschweiger Gesangbuch von 1902.
Die Braunschweiger Frauenhilfsschwestern hatten also kein unbekanntes Buch in
der Hand. 30 Choräle indessen waren für sie neu. Da diese später in das Evangelische
Kirchengesangbuch von 1950 übernommen wurden, bildete das Frauenhilfsgesangbuch
eine sehr wichtige Brücke zum Singen in der Nachkriegszeit.[41]
Zum Einüben veranstaltete der Stadtverband
Singewochen, so vom 6.-10. April 1936 im Magnigemeindesaal,
die von Pastor Finck aus Halle geleitet wurde, der zusammen mit der
Kammersängerin Meta Diestel zum beratenden Ausschuss bei der Herstellung des
Gesangbuches gehörte.
Der Titel des Buches, das Lied „Lob Gott getrost mit
Singen“, wurde zum Lieblingslied der Frauenhilfe. Ein Frauenhilfsabend wurde in
vielen Kreisen mit dem gefühlvollen „Nun wollen wir singen das Abendlied“
beschlossen. Dem rigorosen Kahlschlag von OLKR Mahrenholz, der grundsätzlich
das Liedgut des 19. Jahrhunderts bei der Gesangbuchreform 1950 ausschloss, fiel
auch dieses Frauenhilfslied zum Opfer. Es wurde nicht in den Stammteil des
Evangelischen Kirchengesangbuches EKG aufgenommen, fand jedoch Berücksichtigung
im Braunschweiger Anhang, eben weil es in den Frauenhilfen so außerordentlich beliebt
war. Auch das Abendlied „Mein schönste Zier und Kleinod bist“, das sich noch
nicht im damaligen Braunschweiger Gesangbuch fand, bürgerte sich durch das
Liederbuch der Frauenhilfe in den Gemeinden rasch ein.
Mir scheint, dass es eine doppelte Bewegung gab. Mit der
allmählichen Verfestigung der nationalsozialistischen Herrschaft wurde das
Distanzvermögen, das die Konstruktion eines Nebeneinanders voraussetzt,
schwächer. Das Kriegsgeschehen zwang auch die Frauenhilfe unter dem Fluch des
Sieges zu einem größeren Einvernehmen mit Person und Werk Hitlers. Zugleich
blieb bis zum Kriegsende ein selbständiges Profil der Frauenhilfe erhalten, an
dem nach dem Krieg leicht angeknüpft werden konnte. So war die Frauenhilfe ein
Abbild der doppelgesichtigen Volkskirche.
Jugendarbeit [42]
Die Jugendarbeit gestaltete sich in der Kirche auf zwei
Ebenen: mit dem traditionellen Konfirmandenunterricht hatte die Kirche viele
Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Jugendlichen. Er dauerte früher ein
viertel Jahr, später ein ganzes Jahr ab Mai, und wurde schloeßlich auf zwei
Unterrichtsjahre erweitert. Aber die Pfarrer waren in der Mehrzahl methodisch
überfordert und dem gelegentlich aggressiven Selbstbewusstsein der Hitlerjungen
kaum gewachsen. Es kam auch zu bisher unbekannten, bösartigen
Auseinandersetzungen und Denunziationen in der St. Georggemeinde und in
Timmerlah.
Freiwillige Jugendgruppen von Jungen und Mädchen im Alter
von 10 – 18 Jahren gehörten neben den Frauenhilfen zu den die Volkskirche
stabilisierenden Gruppen. In den Braunschweiger Stadtkirchen herrschte 1933
eine seit Jahren gewachsene, lebendige Jugendarbeit. Es gab in allen Gemeinden
Mädchen- und /oder Jungenarbeit, nach Altersgruppen und Geschlecht getrennt.
Die wöchentlichen Kirchennachrichten informierten auch in der städtischen
Regionalpresse unter der Rubrik „Evangelischer Jugenddienst“ über Termine der
Jungscharen, Jungmädchenkreise, Jungmannen, Abende für konfirmierte Mädchen,
Offene Abende für Konfirmanden.[43]
Oft beteiligten sich die Gemeindeschwestern an der Gestaltung der
Gruppenarbeit. In den Sommerferien wurden wochenlange Zeltlager veranstaltet.
Längst hatte die Jugendbewegung der 20er Jahre auch die kirchliche Jugendarbeit
erfasst und belebt.
Diese Arbeit wurde früh gestört. Die NSDAP hatte im Braunschweigischen
als Jugendorganisation seit ca. 1931 eine Hitlerjugend (HJ) und den Bund
Deutscher Mädel (BDM) unter Hermann Lauterbacher aufgebaut,[44]
so wie die anderen Parteien ebenfalls längst vorher ihre Jugendarbeit
betrieben, wie u.a. die Falken und die Naturfreunde, die Bismarckjugend, der
Jungstahlhelm. Nachdem diese sämtlich verboten waren, blieb nur noch die HJ,
deren Mitgliedstärke von 300 Jugendlichen im März 1933 auf 1.200 im November
1933 anstieg.[45]
Sie profitierte von der Hitlerbegeisterung der ersten Jahre. Die HJ wirkte auf
junge Leute wegen ihres antiautoritär- autoritären Charakters anziehend, des
Kommando- und lustvollen Unterwerfungsmilieus. Der Gleichschaltungswahn
breitete sich auch auf die Jugendarbeit aus und in der deutsch-christlichen
Phase wurde unter Reichsbischof Müller die evangelische Jugend „in die
Hitlerjugend eingegliedert“, jedoch die evangelische Jugendarbeit nicht
aufgelöst. Auf deutsch-christlicher Seite machte man sich groteske Hoffnungen
auf eine Verchristlichung von HJ und BDM. Im Kern waren staatliche und
kirchliche Jungendarbeit unvereinbar, denn Hitler köderte und missbrauchte die
Jugend als Kanonenfutter im künftigen, längst geplanten Krieg,
Die monatelange Verunsicherung, wie denn ein Miteinander
funktionieren sollte, hatten schon Mitte 1934 ein Ende, und in den
Kirchengemeinden siegte der pragmatische Sinn, auch unter Einschränkungen
weiterzumachen wie bisher. Wo es zum Konflikt kam, konnte sich 1935 noch die
Bannführung der Braunschweiger HJ zugunsten der Gemeindejugend durchsetzen, wie
es im Gemeindebrief von St. Katharinen beiläufig erwähnt wird. Immerhin war die
Frage nach dem Nebeneinander akut und wurde von Hans Bandusch und Walter
Schildt im Beitrag „aus der Arbeit der Jungmannengruppe“ so beantwortet: „Wir
stehen zur HJ nicht feindlich, sondern freundschaftlich und kameradschaftlich,
zumal wir alle seit der Eingliederung der ev. Jugendvereine Mitglieder der HJ
sind. Wenn wir uns als ev. Jungens und Mädels außerdem noch zusammenfinden in
den Gemeindejugendgruppen, so tun wir dies um unsres Glaubens willen für unsere
Kirche und unser Volk; denn ein Volk ohne Glauben ist verloren.“[46]
Auch als im Dezember 1936 HJ und BDM zur Staatsjugend befördert wurden, und die
evangelischen Mädchen und Jungen vom 10. Lebensjahr an in die Staatsjugend
kommandiert wurden, änderte sich im innerkirchlichen Betrieb der Jugendarbeit
wenig. Der kirchlichen Jugendarbeit wurde zwar jede öffentlichkeitswirksame
Darstellung nach außen verboten und die Teilnahme an einem evangelischen Lager
war bei der HJ- und BDM-Führung meldepflichtig, was auf Eltern und Jugendliche
abschreckend wirkte, aber die vom Staat geplante Ghettoisierung bewirkte eine
Intensivierung der Arbeit nach innen und zwar in Form von intensiver
Bibelarbeit.
Bischof Johnsen nutzte die günstige Finanzsituation der
Landeskirche für die Einstellung mehrerer Jugendwarte. Jugendwart für die Stadt
Braunschweig wurde ab 1935 der 25jährige Alfred Haferlach[47]
und zwei Jahre später der 27jährige Hermann Kolb[48],
die beide in den nächsten Jahren einen großen prägenden Einfluss auf die
Jugendarbeit in der Stadt ausübten. In drei Berichten gab Alfred Haferlach
einen Einblick in seine Arbeit. „Ferientage / Wege zu rechter Kraft und rechter
Freude“ ist ein Bericht über ein Sommerlager auf Juist überschrieben. [49]
Die Überschrift nahm den Titel der nationalsozialistischen KdF (= Kraft durch
Freude) Arbeit auf, im Jugendsommerlager erlebten aber die Jugendlichen
„rechte“ Kraft und „rechte“ Freude, nämlich durch die Arbeit mit dem Neuen
Testament am Vormittag und der darin vermittelten Begegnung mit dem lebendigen
Christus. Das sei wie ein heimliches Feuer. „Wo dieses heimliche Feuer einen
ganzen Kerl gepackt hat, da ist es inzwischen aufgelodert zu einem heiligen
Brand, der sich ausdehnt auf die Umgebung – im Elternhaus, in der Schule und im
Kameradenkreis – der auch den Alttag und die schwierigsten Verhältnisse
überstrahlt und durchglüht.“ Haferlach formulierte wohl weniger die
tatsächliche Situation, sondern das erzieherische, volksmissionarischer Ziel
des Lagers: die Schaffung eines neuen, christusgläubigen Menschen. „Wenn aber
ein Mensch ernst macht mit der Botschaft des lebendigen Gottes und seinem Geist
still hält und nicht feige ausweicht, um sich hinter Ausflüchten zu
verschanzen, dann wird ein n e u e r Mensch.... die Erinnerung verblasst –
Erholung und Sonnenbräune weichen – das Erlebnis mit dem Wort aber bleibt und
brennt weiter im Herzen als ein heiliges Feuer und gibt täglich neue Lebens-
und Segenskräfte.“ Haferlach gewährte mit diesem Bericht einen Einblick in sein
persönliches Glaubensleben, wie es in der Ausbildung zum evangelischen
Jugendwart beim CVJM Werk in Kassel entstanden war. Ein weiterer Bericht stammt
aus dem Jahr 1938, als 300 Jungen und Mädchen wieder an die Nordsee, in die
Lüneburger Heide, ins Bergische Land oder in den Schwarzwald fuhren. [50]
Haferlach: „Diese Stunden ums Wort Gottes am Vormittag waren Quellstunden der
Kraft und Freude für Jungen und Mädel, die mit wachem Herzen dabei saßen.
Gerade junge Menschen brauchen Kraft aus dem nie versiegenden Quell des
lebendigen Gottes zu zielklarer Lebensgestaltung und im Abwehrkampf gegen die
niederreißenden Mächte des menschlichen Lebens“. Rein bleiben und reif werden
lautete das Motto jener Generation der heute über 80 Jährigen, deren
Abwehrkampf sích gegen Unreinheit und Unreife im persönlichen Leben richtete.
Annemarie Haedke[51],
wie Alfred Haferlach seit 1935 in der Propstei Braunschweig tätig, und
zuständig für die Mädchenarbeit, schilderte die Vormittage so: „Die Morgenstunden
um die Bibel waren ganz verschieden. Oft wurden die Mädel mit einer Bibelarbeit
nicht fertig. Sie steckten voll ernsthafter Fragen und wollten Antwort haben.
Manchmal war es dann wieder so, dass sie über einer Bibelstelle ganz still
wurden und nur noch zuhörten. Aber immer freuten sie sich auf diese Stunde und
saßen schon mit Liederbuch und Bibel beisammen, wenn die Leiterin kam. Aus der
Bibelarbeit erwuchsen die Fragenbesprechungen. Wir hatten einen Fragekasten
eingerichtet, der nie leer war und obwohl die Besprechung der gestellten Fragen
immer freiwillig war, hat nie ein Mädel gefehlt. Es waren Fragen, die z.T.
entstehen aus den weltanschaulichen Auseinandersetzungen. Oder auch Fragen um
die biblischen Wahrheiten an sich. Die Besprechungen derselben wurden mit zum
Zentrum unserer Arbeit.“ Zu dieser evangelischen Lebensgemeinschaft gehörte das
Singen aus dem Liederbuch des Burckhardthauses „Ein neues Lied“. „So haben wir
tüchtig gesungen. Unsere alten Kirchenlieder, Kampflieder, Morgen-, Abend-, Tischlieder
und fröhliche Kanons machten wir uns zu eigen.“ [52]
Hier tut sich eine uns heute unvorstellbar fremde und
seinerzeit offenbar glückliche Zeit auf, die sich tief in das Bewusstsein der
Teilnehmer eingegraben hat. Fotoalben jener Zeit wecken derlei Erinnerungen
auf. Zugleich markieren die Berichte Haferlachs den Abstand zur Jugendarbeit
der Nazis. Es war ein Abstand, den die evangelische Jugendarbeit von sich aus
nicht suchte, eher vermeiden wollte, in den sie aber hineingedrängt wurde.
Im Gemeindeblatt St. Katharinen veröffentlichte Haferlach
einen werbenden Aufsatz „Evangelische Jugendarbeit – heute“. [53]
Der Zulauf zur Jugendarbeit in den Gemeindegruppen war geringer geworden.
„Natürlich sind es nur kleine Gruppen, manchmal nur 5 oder 6, die in Treue
zusammenkommen.“ Umso wichtiger waren zentrale Veranstaltungen wie der
Luthertag im November 1936, als sich in der Stadt Braunschweig 1.500 junge
Menschen zu Gottesdiensten und Gruppenarbeit trafen oder Jugendtage in Räbke,
wo die Landeskirche ein Jugendheim unterhielt und sich im Frühjahr 1937 120
evangelische Jungen und Mädchen eingefunden hatten. Es gehe, so Haferlach „um
ein gesundes evangelisches Selbstbewusstsein“. Denn die Jugend stehe zwischen
zwei Fronten: „einerseits der Front der Christusgegner, die mit großem
Selbstbewusstsein ihre Fahne entrollen und andrerseits der Schar der Christen,
deren Selbstbewusstsein sich oft so leicht erschüttern lässt.“ Haferlach hielt
die nicht unerheblichen Einschränkungen durch die Partei für die Jugendarbeit für
nicht allzu bedrohlich. „Natürlich bedeutet das Einholen der Beurlaubung jedes
Mal ein Bekenntnis zur Kirchengemeinde. Dieses Bekenntnis wird aber nur da
möglich sein, wo der Jugendliche in seinem Elternhaus dazu ermuntert und
bestärkt wird.“ Wenn Gottesdienst und HJ/BDM Dienst zu gleicher Zeit
stattfanden, was begreiflicherweise von der HJ-Führung leicht zu organisieren
war,[54]
musste der Junge oder das Mädchen, die den Gottesdienst wählten, sich erst
einen Abmeldeschein von der jeweiligen Führerin holen. Natürlich war das
Schikane und abschreckend. Für Haferlach aber ein überwindbares Hindernis. Das
Verhältnis zueinander war keineswegs durchgehend gespannt, sondern war abhängig
von der persönlichen Einstellung der jeweiligen HJ/BDM Führung und fand Wege dort,
wo Pastorensöhne und -töchter sich in Führungspositionen von HJ und BDM
befanden.
Haferlach unterließ es auch nicht, sich von
deutsch-christlichen Positionen abzugrenzen. „Das Evangelium behält heute wie
zu allen Zeiten seinen Wert. Es ist immer zeitgemäß, aber es ist nie artgemäß.“
Das mochte der Katharinenpfarrer v. Wernsdorff in seinem Gemeindebrief nicht
gerade mit Zustimmung gelesen haben.
Für die evangelische Jugend blieb es ein stolzer Augenblick,
wenn sich in dieser Situation in der Stadt Braunschweig immer noch Hunderte von
Jugendlichen zu Gottesdienst, Bibelarbeit und Austausch trafen. Zum
Jugendgottesdienst am 15. Mai 1938 kamen 500 Jugendliche mit dem bekannten
Berliner Pfarrer Otto Riethmüller in Braunschweig im Magnigemeindesaal zusammen.
[55]
Am Sonntag dem 12. 11.1939 versammelten sich 300 Jugendliche in der
Magnikirche zum Luthertag 1939. „Es war wirklich eine festliche junge Gemeinde,
die hier beisammen war, um unter dem Wort und Lied still zu werden. Und es war
eine Gemeinde der Freude. „In dir ist Freude in allem Leide, o du süßer Jesu
Christ“, so klang es durch den Raum“.[56]
Nach dem Gottesdienst fanden getrennte Treffen der Jungen und Mädchen im
Magnigemeindesaal und im Ev. Vereinshaus statt. Zum Abschluss hörten wieder im
übervollem Gemeindesaal Magni die Jugendlichen einen Vortrag von Reichssekretär
Lüst und sahen ein Laienspiel.
So blieb die evangelische Jugendarbeit in der Stadt
Braunschweig ein Störfaktor für die Partei, weil sie sich der bedingungslosen
Gefolgschaft entzog.
Andrerseits entwickelten die Massenveranstaltungen der
Partei gerade auf Jugendliche ihre faszinierende, aber todbringende Sogkraft.
Wer mit Tausenden von jungen Männern zusammen auf dem Monumentalgelände des
Reichsparteitages in Nürnberg halbnackt stundenlang vor „seinem Führer“ stand
und seinen entblößten Oberkörper Hitler als Schlachtopfer auf dem Schlachtfeld
anbot, der hat das nie vergessen und hat sein Versprechen, ihm „für
Deutschlands Ehre“ bis in den Tod zu folgen, Elternhaus, Beruf, Freundschaften
vergessend womöglich eingelöst. Die Sogkraft des Todes sollte sich im Blutsumpf
der Fronten furchtbar bewahrheiten. Die Nachfolge Jesu ging in eine andere
Richtung.
Die Männerarbeit [57]
Erstaunlicherweise gehört zu den stabilisierenden Faktoren
der doppelgesichtigen Volkskirche auch die Männerarbeit. Es war beliebt und
billig, über die Abwesenheit der Männer im sonntäglichen Gottesdienst zu
spotten und man glaubte, damit ihre Einstellung zur Kirche vollständig
beschrieben zu haben. Die evangelischen Männer hatten andere Betätigungsfelder,
z.B. in den Kirchenvorständen, z.B. in den Synoden auf hoher und mittlerer
Ebene, z.B. im Stadtkirchenverband. In der Stadt Braunschweig gab es bereits
seit Jahrhundertanfang Gruppen von Männern, die sich in den Kirchengemeinden organisierten.
Eine erste entstand mit der Gründung der Pauligemeinde. Gerhard Kalberlah
berichtet in einem Rückblick auf die Männerarbeit in der Stadt Braunschweig von
weiteren Männergruppen in der Jakobi, Petri, Magni, Martini und der
Johannisgemeinde.[58]
Dabei wurden Vorträge gehalten, kirchliche Stätten besichtigt, und es war der
Wohlfahrtspfarrer Walter Staats, der ihnen auch diakonische Arbeit bei
Vormundschaften und Pflegschaften zuwies. Einen regelrechten Aufbruch erlebte
die Männerarbeit, als Landesbischof Johnsen die Leitung des Reichsmännerwerkes
in Berlin übernahm. In der Landeskirche wurde Propst Leistikow zum Landesobmann
für die Männerarbeit bestimmt, der die Männerarbeit über die
Kirchenvorstandsarbeit aktivieren sollte. Es wurde ein „Männersonntag“ im
Herbst eingeführt und zentrale Veranstaltungen für die Männergruppen
durchgeführt. Die Gruppen bezogen das in Berlin redigierte Blatt „Kirche und
Mann“, in dem der Paulipfarrer Otto Henneberger zahlreiche Aufsätze
veröffentlichte. Bischof Johnsen richtete ein übergemeindliches Pfarramt für
Männerarbeit ein und besetzte es mit Pfarrer lic. Walter Schäfer.[59]
Schäfer veröffentlichte im Braunschweiger Volksblatt einige für ihn und die
damalige Zeit typische selbstgemachte Verse: „Wir rufen jeden/ der Volk und
Führer die Treue hält/ dem gottlos Wesen nicht gefällt/ der Christi Namen
ehrlich trägt/ den manche Frage heut bewegt/ der Wahrheit sucht, Antwort
begehrt/ und gern das Evangelium hört/ den Mann, die Frau der Jugend Schar/und
wissen: Gottes Wort bleibt wahr“.[60]
Das waren Werbeverse, die zu einer kirchlichen Woche in Wolfenbüttel einladen
sollten. Sie charakterisieren den in Schäfers Augen mustergültigen christlichen
Mann von 1937: Führertreue, an erster Stelle, fragend, Wahrheit suchend, aber
nicht bei den Gottlosen, sondern bei denen, die, wie Schäfer, sich als ehrliche
Christen bezeichnen würden. Man spürt den Versen die ehrliche Bemühung und
zugleich die verzweifelte Hoffnung auf Änderung der reformbedürftigen Situation
an.
In den Gemeindebriefen wurde die Männerarbeit zu einem
unverhofften und reich ausgeführten Thema. Katharinenpfarrer Gennrich stellte
in seinem Aufsatz „Deutsche evangelische Männer für Christus und die Kirche“
das Winterprogramm des Deutschen Ev. Männerwerkes vor, das zentral erarbeitet
worden war und die Behandlung der Sakramente und den 1. Petrusbrief in den
Männerkreisen zum Thema hatte. Dabei überwog das apologetische Moment, die
Männer in Fragen der Kirche auskunftsfähig zu machen. Was erwidert z.B. ein
Vater einem gottgläubigen Kollegen, der sich darüber mokiert, dass bei der
Taufe ein Kind von der Erbsünde reingewaschen würde?[61]
Ein Beispiel, wie es auf einem Männerabend zugehen könnte,
bot der Artikel von Diederichs (ohne Vorname) „Wir Männer und die Kirche“. [62]
Die Bibel müsste zusammengestrichen und entrümpelt, die kitschigen Gesänge aus
dem Gesangbuch ausgemerzt werden, na und überhaupt: „Christliches Männerleben
hinter Mauern und behüteten Häusern ist heute keinen Pfifferling mehr wert. Ein
Christ, der sich nicht bemüht, zu den Besten seines Volkes zu gehören, nicht an
seiner Stelle in seinem Beruf das Beste leistet, ist nicht ein Vorkämpfer,
sondern ein Schädling der Kirche und wenn er jeden Sonntag in der Kirche säße
und das ganze Gesangbuch auswendig wüsste.“ [63]
Der Artikel fand eine tapfere Erwiderung von Frau v. Strotha, die auf Männer
wie Fliedner, Wichern, Stöcker, Bodelschwingh verwies und empfahl, den Balken
im eigenen Auge zu suchen: „Das Christentum und die Gotteskindschaft sind eine
unbequeme Sache, sie fordern klare Entscheidung, und solche Entscheidung
scheuen die Menschen heutzutage sehr.“ [64]
Der Männerkreis der Michaeliskirche traf sich im Oktober
1937 in 14 tägigem Rhythmus und arbeitete nach dem Arbeitsplan des
Männerwerkes das erste Kapitel des 1. Petrusbriefes durch. „Die Beschäftigung
mit den religiösen Gegenwartsfragen führte zu recht lebhaften Aussprachen,“
berichtete Pastor Koenig. „An den Bibelstunden in unserm Gemeindeheim und an
den Gottesdiensten in unserer St. Michaeliskirche nehmen Männer in etwas
größerer Zahl Teil als es vordem war.“ Es sei noch ein weiter Weg, aber er
müsse gegangen werden „und wird auch zu dem Ziele führen, dass die Männer
wieder Träger des Glaubenslebens der Kirche werden,“ hofft der
Michaelispastor. [65]
Der Jakobigemeindebrief enthielt jährliche
Tätigkeitsberichte. Für die Jahre 1935/36 wurde von 30 Vereinsabenden
berichtet. Die Mitgliederzahl betrug 70 Männer, vorwiegend ältere, sodass ein
Mitgliederrückgang befürchtet wurde. Es wurde ein Programm mit allgemeinbildenden
Themen (Christianisierung der Germanen, die Kriegsgräber), Reiseberichte,
Lichtbildervorträge geboten. [66]
Offenbar ließ man sich in der neuen Zeit von Rhythmus im alten Geleise nicht
stören.
Der 1. Advent 1937 war für alle Stadtkirchen als
Männersonntag gedacht. „Die Gemeindegottesdienste hatten sich überall eines
sehr guten Männerbesuches zu erfreuen.“ Am Abend „fand sich ein gewaltiger
Kreis evangelischer Männer aus Stadt und Land in der Martinikirche ein“.
Bischof Johnsen predigte vom dreifachen Ruf der Kirche an die Männer: „Kehret
heim zu Gott! Gehet hin zu Christus! Kommet her zur Gemeinde!“ [67]
Das Männerwerk blieb auch in den ersten Kriegsjahren
beisammen und unternahm im Sommer Ausflüge in die nähere Umgebung.[68]
Pfarrer Schäfer verliess die Landeskirche 1939 und wurde
Gemeindepfarrer in einer Osnabrücker Kirche, später Superintendent in Verden.
Das Bestehen dieser Gemeindegruppen war ein erfreuliches
Ergebnis des kirchenpolitischen Kurses der kirchlichen Mitte. Ein weiteres war
der Aufschwung im Kirchbau.