Das Stadtkirchenamt
Am Stadtkirchenamt kam keiner vorbei. Hier waren die Scharen
von Eintrittsswilligen 1933 und 1934 erschienen, um formlos wieder ihren
Rücktritt in die evangelische Kirche zu tätigen. Hier wurden die Kirchenbücher
der Kirchengemeinden aufbewahrt und vor allem auch geführt. Im Unterschied zu
den Pfarrern auf dem Dorfe führten nämlich die Stadtpfarrer ihre Kirchenbücher
nicht selber, sondern überließen diese niedrigen Dienste ihrem Stadtkirchenamt.
Ich halte dies nicht für einen Vorzug. Die Kirchenbücher, also die
Taufregister, Konfirmandenregister und Trauregister, sind sämtlich erhalten,
auch für die Jahre 1933-1945 und sind eine bisher nicht ausgeschöpfte
historische Quelle. Im Stadtkirchenamt wurden die Kirchensteuern eingenommen
und verwaltet. Die Propstei Braunschweig erhob eine Landeskirchensteuer, deren
Höhe sich von der in allen anderen Propsteien erhobenen Landeskirchensteuer
erheblich unterschied und diese meist weit unterbot, außerdem eine eigene
Ortskirchensteuer. Im Stadtkirchenamt wurden die Haushaltspläne für das
Rechnungsjahr vorbereitet, vom Stadtkirchenamt wurden bis 1936 die Gehälter der
Stadtpfarrer gezahlt, aus den Rücklagen wurden die Summen für die Kirchbauten
und Kirchenrenovierungen und Pfarrhausbauten entnommen; kurz: eine wichtige
Behörde zum Funktionieren der Kirchengemeinden.
Das Stadtkirchenamt war eine Gründung des Jahres 1909, als
durch die Kirchengemeindeordnung von 1909 der Stadtkirchenverband mit einem
Stadtkirchenausschuss als geschäftsführendem Organ und dem Stadtkirchenrat als
synodaler Einrichtung geschaffen wurden und die engere Verzahnung von Stadt und
Stadtkirche gelockert wurde. Dem Stadtkirchenrat gehörten alle Pfarrer und
doppelt so viele Kirchenvorsteher an. Diese Grundstruktur wurde durch die neue
Kirchengemeindeordnung von 1922 nicht angetastet. Den Vorsitz im
Stadtkirchenausschuss hatte allerdings nicht mehr der Oberbürgermeister,
sondern der leitende Geistliche, das war 1922 bis 1934 Kirchenrat Heinrich
Runte. Der Stadtkirchenrat nannte sich jetzt Stadtkirchentag. Die Behörde des
Stadtkirchenamtes arbeitete dem fünfköpfigen Stadtkirchenausschuss und dem
Stadtkirchentag zu, vor allem aber dem Vorsitzenden des
Stadtkirchenausschusses, dem jeweiligen Propst, also bis 1933 Kirchenrat Runte,
bis 1935 dem Kreispfarrer Alfred Wagner und seit 1935 Propst Hans Leistikow, im
Vertretungsfalle dem stellvertretenden Propst Gerhard Kalberlah von der
Jakobkirche oder Pfarrer Otto Jürgens.
Das Stadtkirchenamt war bis 1938 in den Räumen des Rathauses
untergebracht, ein letztes räumliches Kennzeichen der Verbindung von
Stadtkirche und Stadtregiment.[1]
Die Räume lagen im Gewölbegeschoss neben dem Standesamt. Das war für Nachfragen
in Sachen Personenkartei günstig.
Aber die Räume waren zu eng geworden, und im November 1938
trennte sich das Stadtkirchenamt vom Rathausgebäude und zog in das Pfarrhaus
des 2. Katharinengemeindebezirkes in die Fallersleberstraße 3. Das Gebäude war
für diese Zwecke renoviert worden. Die Besucher konnten im Parterre gesondert
bedient werden, die Mitarbeiterinnen erhielten freundliche Räume, Friedhofsamt
und Stadtkirchenamt waren räumlich getrennt und auch für das Publikum getrennt
zu erreichen. Im ersten Stock hatten der Propst und der Finanzbevollmächtigte
ihre Diensträume. Für Mitarbeiterschaft und Gemeindepublikum ein Gewinn.
Zwischen den Räumen des Stadtkirchenamtes und des Friedhofsamtes, also an der
zentralen Stelle des Hauses, lag das Dienstzimmer von Karl Simon. Seit fast 40
Jahren arbeitete er dort, im Umzugsjahr 61 Jahre alt, und war der kompetente,
gute Geist der Behörde. Der Mitarbeiterkreis bestand aus zwei Beamten und zehn
Angestellten, davon fünf Frauen und fünf Männern.[2]
Von Karl Simons Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen waren acht zwischen 17 und 54
Jahre alt, also eine verhältnismäßig junge Mitarbeiterschaft, damals sagte man
„Gefolgschaft“. Von den insgesamt 12 Mitarbeitern gehörten nur drei der NSDAP
an, nämlich Karl Simon, sein Sohn Karl Heinz und Hermann Burchardt, der zweite
Beamte neben Simon in der Behörde. Das war parteimäßig ein ganz anderes Bild
als es das Landeskirchenamt bot, wo schon Ende 1933 alle Mitarbeiter
Parteigenossen waren.
Die Verwaltung des Hauptfriedhofes gehörte ebenfalls zum
Aufgabenbereich des Stadtkirchenamtes, die von Hermann Burchardt geleitet
wurde. Dort arbeiteten, vor allem wohl im Außendienst, insgesamt 33 Personen.
Der Stadtkirchentag löste sich 1935 ohne Not selber auf und
übertrug seine Aufgaben auf den Stadtkirchenausschuss. Diesem gehörten seit
1933 Landgerichtsdirektor i. R. Gerhard als Vorsitzender und als sein
Stellvertreter Pfarrer Benndorf von der Martinikirche an, außerdem Kreispfarrer
Wagner, Vertreter Otto Jürgens, Ministerialrat Kiehne, Stellvertreter Prof.
Viereck, Reichsbankdirektor Rose, Stellvertreter Fabrikant Meyer und
Gewerbelehrer Heinemann, Stellvertreter Rieche. Es gab noch einige personelle
Veränderungen, die wichtigste war, dass Pfarrer Gerhard Kalberlah ab Sommer
1938 stellvertretender Vorsitzender des Stadtkirchenausschusses wurde. Der
Stadtkirchenausschuss tagte bis 1944.
Die Finanzen des Stadtkirchenverbandes waren seinerzeit
solide. Dafür nur folgende Hinweise. Der Vergleich des Haushaltspläne 1934/35
und 1935/36 ergab folgendes Bild: das Haushaltsvolumen stieg von 271.826 RM auf
338.591 RM. Der Vollzug für das Jahr 1935/36 hingegen wies den Betrag von
418.019,46 RM auf. Der Betrag für die Besoldung der Stadtpfarrer wurde in
diesem Zeitraum von 120.745 RM auf 162.500 RM angehoben, der Betrag für die
Dienstaufwandentschädigung von 9.426 RM auf 12.400 RM.[3]
Die Rücklagen betrugen 1935: Kirchenhauptkasse: 223.339 RM; Friedhofskasse:
237.794 RM; Ausgleichsfonds: 176.999 RM; weitere 75.000 RM als Rest.
Die solide Finanzgrundlage änderte sich auch später nicht:
die Kirchensteuereinnahmen stiegen von 180.834,94 RM (1938/39) auf 258.182, 21.[4]
Im Dezember 1945 schrieb OLKR Dr. Breust an den Stadtkirchentag von
„erheblichen Rückklagen“, die allerdings nicht verfügbar seien, weil sie in
Reichsanleihen angelegt seien.[5]
Diese Zahlen sind nur ein dürftiger Hinweis, dass sich die finanzielle Lage der
Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus nicht dramatisch verschlechterte. Es
ist allerdings ein Gebiet, das in der Kirchengeschichte kaum behandelt wird,
weil die Kirche an keiner Stelle so kitzelig und verschwiegen ist, wie bei
ihren Finanzen – bis auf den heutigen Tag.
In diese ruhig und zuverlässig arbeitende Behörde kam eine
ärgerliche und hochpolitische Unruhe, als der 1934 beurlaubte Oberkirchenrat,
Parteigenosse und Deutsche Christ Dr. Reinhold Breust[6]
als Bevollmächtigter der Finanzabteilung in Wolfenbüttel noch vor 1938 in das
Haus zog und sich nicht auf die Kontrolle der Finanzen beschränkte, sondern die
Gesamtverantwortung der Behörde eigenmächtig an sich zog. Er entschied über die
Personalien, stellte ein und entließ, setzte die Gehälter der Jugendwarte
herunter, er verweigerte in kleinlichster Weise die Bereitstellung von Stühlen
und Blumenschmuck zum Missionsfest in Riddagshausen. Besonders einschneidend
war es, dass er die Stadtkirchen oft gegen den Willen der Pfarrer und
Kirchenvorstände für deutsch-christliche Minderheitengottesdienste öffnen ließ.
Er entschied schließlich über das Vermögen der Kirchengemeinden, das
verfassungsgemäß in Mitverantwortung der Kirchenvorstände lag. Das schuf eine
unerträgliche Spannung zu den jeweils kirchlich verantwortlichen Pröpsten
Leistikow und dessen Stellvertreter Kalberlah. Dazu kam, dass sich Dr. Breust,
wenn es ihm richtig schien, grober bis brutaler Umgangsformen bedienen konnte.
Als Ansprechpartner im Landeskirchenamt mied Breust bewusst
die Oberkirchenräte Röpke und Seebaß und verkehrte geschäftlich ausschließlich
mit dem Finanzbevollmächtigten Hoffmeister, dem er diesen Posten verdankte und
der eine allmähliche Nazifizierung der Verwaltungsorgane der Landeskirche erstrebte.
So wurde das eigentlich kollegial zusammenarbeitende Stadtkirchenamt in seiner
Selbständigkeit und Loyalität zur Propstei ausgehebelt und Dr. Breust
unterworfen. Dieser Zustand hielt bis Kriegsende an.
Am 15. Oktober 1944 wurde das Gebäude des Stadtkirchenamtes
ausbombardiert und der größte Teil des Aktenbestandes vernichtet. Im 2.
Pfarrhaus der Magnigemeinde, in der Adolfstraße 36, nahm Karl Simon aber die
Arbeit sofort wieder auf. Dr. Breust dagegen ging krank in Kur und kehrte nicht
mehr zurück. Stattdessen boxte er sich auf seinen alten Posten im Wolfenbüttler
Landeskirchenamt zurück, wo er bereits seine Möbel untergestellt hatte, um sie
vor Bombenschaden zu schützen.