Die Umgestaltung des Braunschweiger Doms zu einem
Staatsdom im „Dritten Reich“.[1]
Die Sonderstellung des Domes
Der Braunschweiger Dom gehörte nicht zum Kreis der
bürgerlichen Stadtkirchen. Er war etwas Besonderes. Der Domprediger war nicht
verpflichtet, am Konvent der Stadtpfarrer teilzunehmen. Sein Gehalt bezog er
vom Herzog, bzw. vom Staat. Auch der Organist wurde vom Staat bezahlt, wie auch
der Küster. Die Bauunterhaltung von Kirche und Pfarrhaus oblag vollständig dem
Staat. Interessanter Weise lösten die Linksregierungen nach 1918 das enge
Verhältnis vom Dom mit dem Staat nach ihrer Programmdevise: radikale Trennung
von Staat und Kirche nicht auf, sondern sie hielten die Hand weiter über den
Dom. Sepp Oerter veranstaltete zum Weihnachtsfest 1918 eine lautstarke
Kinderbescherung im Dom, wobei der Dom als gottesdienstliche Stätte missachtet
wurde. Es war jahrhundertealte Tradition, dass der Dom nur für
gottesdienstliche Zwecke benutzt wurde, vielleicht auch für Konzerte, aber
zunächst für die sonntäglichen Gottesdienste. Der Dom war sowas wie der
geistliche, räumliche Mittelpunkt der Landeskirche geworden. Hier wurde 1923
der erste Landesbischof Bernewitz in sein Amt eingeführt, hier hatten 1930 und
1931 große demonstrative Bekenntnisgottesdienste gegen das Auftreten der
Freidenker in der Stadt stattgefunden. Hier war der zweite Bischof Beye in sein
Amt eingeführt worden.
Die Domgemeinde war eine Personalgemeinde. Zu ihr gehörten
die Mitglieder des Kabinetts, der Hofgesellschaft, die Mitglieder des Theaters
und die Staatsmusiker. Aber es sammelten sich unter der Kanzel des Dompredigers
Sonntag für Sonntag auch die konservativen Kreise der Stadt. Sie bildeten eine
treue Gemeinde, insbesondere seit 1908 Karl v. Schwartz Domprediger geworden
war, ein exzellenter Prediger, ein standfester, aber gemäßigter Lutheraner und
ein Intellektueller mit einer gefürchteten ironischen Begabung.
Der Dom befand sich 1933 in einem sehenswerten, guten
Zustand. Im 19. Jahrhundert hatte man die ausladende barocke Ausgestaltung
beseitigt und die mittelalterlichen Malereien restauriert bzw. ergänzt. Die
herzogliche Bauabteilung hatte den Dom im historistischen Sinne mit
Schablonenmalereien des Hofmalers Adolf Quensen dekorieren lassen. Die
ursprünglichen mittelalterlichen Malereien verschwanden neben der üppigen
Dekoration des 19. Jahrhunderts. Wer 1933 den Dom betrat, kam in einen
reichlich vollgestellten Raum, ein monumentales Kruzifix vor dem Altar,
ausladende Kronleuchter. Der Dom entsprach nicht mehr den Kriterien der
liturgischen Bewegung der 20er Jahre und dem neuen ästhetischen
Stilbewusstsein.
Die Selbstnazifizierung des Domes durch die Deutschen Christen
Der Dom wurde ab 1933 von den Deutschen Christen in Beschlag
genommen. Zur Eröffnung des Landtages im April 1933 erschienen die Mitglieder
des gleichgeschalteten, nazifizierten Braunschweiger Landtages zum Gottesdienst
im Braunhemd, und Schlott predigte beziehungsreich über „Ihr seid das
auserwählte Geschlecht“.[2]
Als im Sommer 1933 der SS Mann Gerhard Landmann bei einer Streife wohl
versehentlich von eigenen Leuten erschossen worden war, organisierte die Partei
einen parteipolitischen Riesengottesdienst. Parteigenosse und Katharinenpfarrer
Schlott hielt eine schwülstige Rede über den Bibeltext „Denen, die Gott lieben,
müssen alle Dinge zum Besten dienen.“ „Ein Schuss fiel in der Nacht, ein Blitz
aus heiterem Himmel ging durch die Nebel mitten in dein Herz, Kamerad von der
SS. Aus Nacht wurde Tag, aus Tag wurde Nacht. Aus dem Alles wurde das Nichts,
aus Freude der Schmerz, aus der Ruhe die Unruhe. Das deutsche Volk liebt Gott,
es will sein Bestes, seine Aufgabe, die ihm gestellt ist, erfüllen aus
heißester Liebe, aus tiefstem Herzen heraus. So hat Gerhard Landmann Gott
geliebt, Dienst, Dienst, Dienst bei Nacht, Dienst für Gott. Dienst fürs Volk.
Wir müssen eins werden, ein Volk im Kampf gegen alles Böse. In diesem Kampf ist
Gerhard Landmann gefallen. Wir trauern nicht. Wir kämpfen weiter. Gott segne
unsern Kampf und führe ihn zum Ziel, zum Heil des ganzen Volkes.“ Nach Gebet
und Segen „Ich hatt’ einen Kameraden“, wozu die Fahnen gesenkt wurden.[3]
Die Stadtpfarrer nahmen im Talar daran teil, aber leider
nicht Johannes Schlott für diesen Unsinn ins Gebet. Diese Gottesdienste
bedeuteten eine sichtbare Selbstnazifizierung des Domes.[4]
Um diese Nazifizierung im Sinne der Deutschen Christen vorwärts zu treiben,
wurde dem Domprediger Karl v. Schwartz vom deutsch-christlichen Bischof Wilhelm
Beye nahe gelegt, sich aus der Domkirchengemeinde auf die vakante Pfarrstelle
in Pabstorf versetzen zu lassen. Im Januar 1934 wurde der Domprediger
dienstenthoben. Er hatte eine untersagte Kanzelabkündigung verlesen. Im
Gespräch mit Bischof Beye erfuhr v. Schwartz, dass der Ministerpräsident
Klagges seine Entfernung wünschte. Er verhalte sich zum Ministerium nicht
loyal.[5]
Träumte Klagges bereits davon, den Dom für sich und seine Religion zu
okkupieren? Eine Selbstnazifizierung des Domes hatte ja bereits stattgefunden.
Restaurierung des Grabes von Heinrich d. Löwen durch die Braunschweiger Staatsregierung
Es entsprach der Vorliebe der Nationalsozialisten und ihrer
Schwärmerei für die Helden des Mittelalters, dass die Gräber von Heinrich d.
Löwen und seiner Frau Mathilde wieder hergerichtet wurden. Sie befanden sich in
einem beklagenswerten Zustand. Dabei ging der braunschweigische Staat zunächst
nur von einer Herstellung einer würdigen Grabstätte aus.
Die bisherige Domliteratur beschäftigt sich ganz überwiegend
mit der baugeschichtlichen Umgestaltung der Gruft und des Domes. Es fehlt eine
Darstellung der kirchengeschichtlichen Umstände und eine Gesamtdomgeschichte,
die beide Gesichtpunkte zusammenfasst. Es ist misslich, wenn auch Bemerkungen
zum kirchengeschichtlichen Aspekt fallen, die quellenmäßig nicht gestützt sind,
etwa in der Art, dass die Landeskirche den Dom frühzeitig aufgegeben habe.[6]
Das ist grundfalsch. Richtig ist, dass die Kirchenbehörde von Anfang an vom
Staatsministerium hintergangen, belogen, übergangen, schließlich durch eine
Personalentscheidung im Landeskirchenamt vom Entscheidungsprozeß ausgeschaltet
wurde und dass sie sich von Anfang an mit Händen und Füßen gewehrt hat. Ich
werde daher im Folgenden, wenigsten diese Anfänge im Zeitlupentempo schildern.
Bisher war es üblich, dass die Schlüssel zum Dom beim
Dompfarramt, beim Organisten oder dem Domküster aufbewahrt wurden. Gruppen, die
den Dom besichtigen wollten, meldeten sich beim Domküster an und ließen sich
durch den Dom führen. Das Staatsministerium besaß verständlicherweise keinen
Schlüssel. Um ohne Absprache mit den allein zuständigen Stellen im Dom arbeiten
zu können, musste das Ministerium in den Besitz der Schlüssel gelangen. Das
fing harmlos mit einer Karikatur in der Zeitung an. „Kürzlich wollte ein
Berliner Professor mit seinen Studenten dem „Dom Heinrich d. Löwen“ einen
Besuch abstatten. Trotz stundenlanger Suche war der Domvogt, der den Schlüssel
zum Dom in der Tasche trug, nicht aufzufinden.“ Dieser Text wurde mit zwei
witzigen Bildern glossiert.[7]
Die später ausgehändigten Schlüssel aber wurden nicht wieder zurückgegeben,
stattdessen wurden zusätzlich zwei Duplikate der Schlüssel angefertigt. Damit
sollte demonstriert werden, wer der eigentliche Besitzer des Domes war. Der
Landesbischof wurde Mitte Juni vom Beginn der Arbeiten an der Gruft
unterrichtet und angefragt, ob der Dom für den Gottesdienst in der kommenden
Woche benötigt werde. „Um den Gottesdienst möglichst wenig zu stören, ist im
Aussicht genommen, mit den Arbeiten am Montag, dem 24. d. Mts. zu beginnen. Der
Herr Ministerpräsident hat mich beauftragt, Sie hiervon in Kenntnis zu setzen
und gleichzeitig anzufragen, ob im Laufe der genannten Woche der Dom für den
Gottesdienst benötigt wird.“[8]
Die Anfrage, die sich auf mögliche Veranstaltungen während der Woche bezog,
klang so, als ob die Arbeiten nur kurze Zeit dauern würden. Als die Arbeiten
rund um das Grabmal begannen, bot sich ein wenig erfreulicher Anblick: vor
allem eine Menge Bauschutt, aus dem teilweise ein Sarg herausragte.[9]
Eine ordentliche Gruft, wie sie sich ein begüterter Braunschweiger Landwirt
früher auf seinem Dorffriedhof leistete, war überhaupt nicht vorhanden. Es gab
keine Gruft, nur Bauschutt. Nach Abräumen von Bauschutt sowie von Erde
vermischt mit Knochenresten stieß man auf „Andeutungen eines weiteren großen
Holzsarges. Als man die mit Erde vermischten Holzreste vorsichtig abhob, fand
sich, frei in der Erde liegend, ein großer Ledermantel, der noch völlig
erhalten war.“[10]
Man spürt dem Bericht die Enttäuschung an, zunächst nur den einen Sarg gefunden
zu haben und die viel größere Entdeckerfreude beim Anblick eines textilen
Prachtstückes. Nun sollte der erhaltene Steinsarg auch geöffnet werden. Das war
zur Wiederherstellung einer ordentlichen Gruft völlig unnötig und hätte mit der
Kirchenleitung abgesprochen werden müssen.
Zur Öffnung des Steinsarges wurden Fachleute aus Berlin
gebeten. Der Professor für Anthropologie und Eugenik Dr. Eugen Fischer war vom
Vorhaben hell begeistert. Er möchte den Schädel des Herzogs in die Hand
bekommen. „Ich habe letztes Jahr um diese Zeit den Schwager Karls d. Großen
ausgegraben, leider waren die Gebeine ganz zerfallen. Hoffentlich haben wir bei
den Ihrigen mehr Glück.“ [11]
Prof. Ernst August Roloff, der bei der Öffnung am Sonnabend, dem 29. Juni 1935,
anwesend war, kam bei der Untersuchung des Sarginhaltes zum Ergebnis, dass es
sich bei dem Skelett des geöffneten Sarges gar nicht um Heinrich d. Löwen
handelte, sondern um seine Gemahlin.[12]
Prof. Fischer fuhr am 5. Juli mit einer geheimnisvollen kleinen Holzkiste (120
x 70 x 10 cm) in der 2. Klasse nach Berlin zurück und ließ den darin
befindlichen Mantel „in einen haltbaren Zustand“ zurückversetzen und auch sonst
untersuchen. Man fand Silberreste, möglicherweise von einer Schnalle. Nun war
klar, dass nach einer Woche oder wenig mehr eine würdige Grabstätte nicht
herzurichten war. Das Staatsministerium stellte 12 Ausweise zum Betreten des
Domes für einen begrenzten Kreis aus.[13]
Oberforstmeister Eißfeldt vermerkt in einem ersten Bericht am 6. Juli, die
Staatsregierung „beabsichtige, diese Grabstätte, die als eines der größten
Heiligtümer des deutschen Volkes angesprochen werden müsse, in einer Weise
wieder herzustellen, die seiner Bedeutung würdig“ sei. Die Vorfahren wären „in
pietätslosester Weise“ mit dem Grab verfahren. „Das Braunschweigische
Staatsministerium sah sich deshalb als Hüter dieses Nationalheiligtums
verpflichtet, hier Klarheit zu schaffen“.[14]
Der Bericht spiegelt etwas vom übertriebenen und besitzergreifenden
Selbstverständnis des Staatsministeriums wider, wurde aber durch einen weiteren
Bericht ersetzt, in dem die großspurigen Töne fehlten. Es sei beabsichtigt,
„die ehrwürdige Grabstätte in würdiger Weise wieder herzustellen, sodass sie
eine wertvolle geschichtliche Gedenkstätte des deutschen Volkes werden kann.“
In diesem zweiten Bericht begründete Eißfeldt auch die
Öffnung des Sarges mit öffentlich geäußerten oder konstruierten Zweifeln über
seinen Inhalt. War er womöglich leer? Er war seit der Beisetzung im Mittelalter
nicht geöffnet worden. Es sei unwürdig und unerträglich, über den Zustand der
Gruft unter dem Grabmal keine genaue Auskunft geben zu können, zumal das Grab
Heinrich d. Löwen, einem „frühen Vorläufer einer wahren deutschen
Nationalpolitik“ zu einem „Wallfahrtsort für ganz Deutschland“ zu werden
beginne. Da war offensichtlich der Wunsch der Vater des Gedankens.
Nun also war nicht mehr nur von der Herrichtung eines
Herzoggrabes die Rede, auch nicht von einer kurzfristigen Öffnung des Sarges,
sondern die Grabstätte wurde als „größtes Heiligtum“ angesprochen. Das war eine
maßlose Übertreibung. Es gab Kaiser- und Königsgräber in Quedlinburg, Aachen,
in Naumburg und anderswo. Die Wiederherrichtung der Grabstätte wurde also zu
einer Staatsaktion hochstilisiert und zwar von Klagges.
Anfang Juli kam es zur fälligen persönlichen Besprechung
zwischen Ministerpräsident Klagges und Landesbischof Johnsen und zu der
gütlichen Einigung, wegen der Bauarbeiten den sonntäglichen Gottesdienst „bis
auf weiteres“ ausfallen und auch „bis auf weiteres“ keine Besichtigungen
stattfinden zu lassen.[15]
Keine Besichtigungen? Es war Sommerzeit, Touristen strömten nach Braunschweig
und besichtigten die großen Kirchen, als erstes den Dom.
Als Tourist tauchte unvermutet am 17. Juli nächtens Adolf
Hitler in Braunschweig auf, in seiner Begleitung der künftige Minister für die
kirchlichen Angelegenheiten Hanns Kerrl, früher Kreisleiter von Peine und mit
der Gegend bestens bekannt.[16]
Kurz vorher war der Minister Rust in Braunschweig gewesen. Hatte Klagges ihm
einen Wink gegeben? Am 17. Mai war sogar Göring mit Minister Kerrl am Grab und
sah sich die Grabskulpturen an.[17]
Wurde über die Pläne einer Gruftöffnung gesprochen? Es lag nahe, dass einer von
ihnen mit Hitler über die Klaggesschen Pläne gesprochen hatte.
Klagges, aus dem Schlaf geholt, improvisierte einen Besuch
Hitlers im Dom an den Restaurationsarbeiten. Der schmalzige Bericht der
„Landestante“ sprach davon, dass die Grabstätte „zu einem Nationalheiligtum des
deutschen Volkes“ gestaltet werden sollte und zwar als eine Erleuchtung
Hitlers. „Die Locke goldenen Haares der Herzogin Mechthilde leuchtete auf, als
der Führer sie sinnend und in Betrachtung versunken in der Hand hielt und ein
suchender Strahl die stumme Szene umspielte. Leicht angelehnt an die
schmiedeeiserne Umrahmung ..steht der Führer; sein Blick umfasst das Kirchenschiff,
gleitet hinab in die offene Gruft, dann hebt der Führer das Haupt, sein Auge
leuchtet auf und in knappen Worten zeichnet er auf, wie er sich die künftige
Gestaltung denkt..die Grabstätte Heinrichs d. Löwen zu einem Nationalheiligtum
des deutschen Volkes zu gestalten.“[18]
In diesen Kitschbericht floss vielerlei zusammen: die enorme Popularität
Hitlers, das vom Besuch geschmeichelte Braunschweig, der übertriebene,
kleinbürgerliche Stolz Braunschweig, in seinem Mauern ein Nationalheiligtum zu
beherbergen, die geschickte Regie Klagges’, Hitler als Initiator der
Gruftneugestaltung erscheinen zu lassen. Die Gruft Heinrich d. Löwen sollte
nicht nur eine historische weihevolle Gedenkstätte sein, sondern ein Ort der
Besinnung zum Kampf gegen den Bolschewismus. Denn das verband nach der
Landeszeitung 1935 noch Heinrich d. Löwen mit Adolf Hitler: der Kampf gegen den
Bolschewismus. „Und doch schickte uns der Herrgott in Zeiten tiefster Not
wieder einen Retter. Heinrich des Löwen Kampf galt der von Osten anflutenden
Welle slawischer Zerstörung deutschen Wesens. Adolf Hitlers Kampf galt und gilt
dem aus Osten drohenden bolschewistischen Vernichtungswillen“.[19]
Die Idee zu einer erheblichen Erweiterung der Grabungen
hatte ohne Frage Klagges, er schob geschickt Hitler in den Vordergrund, um ihn
für die Arbeiten zu gewinnen. In diesem Sinne informierte Klagges auch die
Presse.[20]
Erst einen Monat später beauftragte Staatssekretär Lammers
die Architekten Krüger, Berlin, einen Entwurf für eine würdige Neugestaltung
der Gruft vorzulegen. Die Arbeiten wurden am 9. September wieder aufgenommen,
der Sarkophag im nördlichen Querschiff aufgestellt, die Kanzel ordnungsgemäß
abgebaut und gelagert und eine 2 Meter tiefe Grube ausgehoben. Aber erst im
Dezember lagen die Entwürfe vor und dann wurde über Finanzen geredet.
Dazwischen konnten im Dom wieder Gottesdienste und Veranstaltungen stattfinden.
Der Kampf um die Bestimmung des Domes
Es war für das Landeskirchenamt eine Überraschung, als es
aus der Zeitung von einer geplanten
HJ Feierstunde im Dom am 15. 10. 1935 las. Beim
Landeskirchenamt oder im Dompfarramt war keine Veranstaltung angekündigt. Und
die Schlüssel waren bereits in der Hand des Veranstalters. Drei Tage vor der
Veranstaltung bat das Landeskirchenamt um das Programm der Feierstunde und
zeigte sich nicht pikiert, eher gewitzt: „Wir freuen uns, dass die H.J. Führung
den Wunsch hat, während ihrer Arbeitstagung auch eine Feierstunde vor Gottes
Angesicht zu halten. Dass sie sich dafür den Dom Heinrich d. Löwen erwählen will,
trifft auf unser volles Verständnis. Wir setzen als selbstverständlich voraus,
dass diese Feierstunde die Bestimmung des Domes als einer ev.-luth. Kirche in
jeder Form achtet und berücksichtigt.“[21]
Das Landeskirchenamt machte gute Miene zum bösen Spiel, aber erinnerte in
gewisser Vorahnung an die Bestimmung des Domes. Für das Ministerium antwortete
telephonisch Ministerialrat Kiesel, dass das Staatsministerium der HJ die
Erlaubnis erteilt habe, da es ja Eigentümer des Domes sei, aber die Belange der
Domkirchengemeinde wolle das Staatsministerium nicht antasten.
Die Feierstunde am 15. Oktober 1935 wurde durch die die
Kirche überraschende und von Ministerialrat Kiesel auch nicht erwähnte
Anwesenheit des Reichjugendführers
Baldur von Schirach besonders aufgewertet. Da musste
fraglich werden, ob die Annahme der Kirchenbehörde, es handle sich um „eine
Feierstunde vor Gottes Angesicht“ noch zutreffend war. War der
Reichsjugendführer nur Gast bei einer HJ Feierstunde, oder war mehr geplant? Es
war sehr viel mehr geplant und dazu hätte die Landeskirche nicht ihr
Einverständnis gegeben. Vor den Gebietsjungvolkführern und Obergauführerinnen
des BDM setzte sich v. Schirach in einer Grundsatzrede von der konfessionellen
Jugendarbeit ab, die gegen den Staat und die Partei gerichtet sei. „Dieser
großen freiwilligen Armee der deutschen Jugend steht aber immer noch eine
Schicht junger Menschen gegenüber, die sich entweder in konfessionellen
Kampfbünden zusammengefunden haben, um gegen Staat und Bewegung anzugehen, oder
die glauben, als Einzelgänger im Jahre 1935 so leben zu können wie die Jugend
von 1920.“[22]
Er hoffe auf die Stunde, wo der Führer der Hitlerjugend den Befehl gebe, die
ganze deutsche Jugend in seinem Sinne zu erziehen.
Der Text des Schlussliedes „Herrgott, wir schauen gläubig
auf“ hatte u.a. folgende bezeichnende Strophen: „Herrgott, wir schauen gläubig
auf, vertraun auf dich und unsre Waffen/ wir werden in dem Weltenlauf/ ein
deutsches Volk erschaffen// Das Schwert zerbrach/ wir nahmen Stahl/ und
schmiedeten uns neue Wehre/ Es sollen in dem Sonnenstrahl/ erglänzen Schwert
und Ehre//Wir bitten dich, o Herre Gott/ du gibst uns Kraft und gibst uns
Willen/ Wir wollen aus der tiefsten Not/ das Freiheitssehnen stillen// Doch
siegen wir, so wollen wir/ ein großes deutsches Volk erschaffen/ Und das, o
Gott, geloben wir/ wir bau’n im Kleid der Waffen“.// [23]
Die Mischung aus Religiösität und Kriegsgehabe mit Schwert, Stahl, Wehre,
Waffen, schmieden und siegen mochte dem erlebnishungrigen Zwölf- bis
Sechszehnjährigen weit entgekommen, sie hatte eine lange Tradition, aber sie
schuf eine Mentalität, die sich im Kriegsfall selbstzerstörerisch gegen sie
selber richtete und sie in einer Welt ohne Waffen und Sieg rat- und sinnlos
machte. Die kümmerliche poetische Form sollte nicht über das Ausmaß von
verfühererischer Faszination hinwegtäuschen.
Bei dieser Feierstunde teilte eine riesige HJ-Fahne vom
Gewölbe herabhängend den Chor vom Mittelschiff und verdeckte das Triumphkreuz
in der Vierung. Das Kruzifix sei mit einer Fahne absichtlich verdeckt worden,
mutmaßte man in Kirchenkreisen. Der wegen Renovierungsarbeiten leergeräumte
Altar sei nicht würdig hergerichtet worden. Solche Bilder gingen durch die
Tagespresse.
Johnsen fühlte sich brüskiert. Bei einer derartig
hochgradigen Parteiveranstaltung in ihrem eigenen Haus hätte die Kirchenbehörde
mit einer Einladung rechnen müssen. Und die Stänkereien gegen die kirchlichen
Jugendverbände waren an diesem Ort deplaziert und unanständig. Johnsen befand
sich bei einer Pröpstetagung in Seesen und teilte den Pröpsten
unmissverständlich seine Meinung mit: „Hiermit fängt der Kirchenkampf bei uns
an.“ Die Öffnung des Grabes sei im Dom ohne Fühlungsnahme mit dem
Landeskirchenamt erfolgt. Beim Braunschweigischen Herzoghaus und dem englischen
Königshaus sei die Erregung groß. Er stünde in einem ungeheuren Kampf gegen den
Machtanspruch des Braunschweigischen Staates.[24]
Wutentbrannt fuhren Bischof Johnsen und OKR Röpke umgehend am 17. Oktober nach
Berlin und protestierten im Ministerium für die kirchlichen Angelegenheiten.[25]
Sie suchten Verbündete. In einem zweiseitigen Schreiben vom 18. Oktober zeigte
der Bischof dem Staatsministerium die Grenzen auf: das ausschließliche Recht
der Kirche an der Domkirche sei durch die Widmung gewährleistet. Der Dom habe
seit seiner Erbauung „nur als Gotteshaus gedient und kann auch künftighin
dieser Bestimmung in keiner Weise entzogen werden.“[26]
Nur die Kirche könne über die Benutzung des Domes entscheiden. Die
Schlüsselduplikate müssten nach Fertigstellung der Arbeiten zurückgegeben oder
vernichtet werden. Der Bischof befürchtete einen „ungeregelten Zustand“ und
künftige „untragbare Schwierigkeiten. Vor allem aber sah der Bischof sein
Grundsatzkonzept eines einvernehmlichen Miteinanders von lutherischer Kirche
und nationalsozialistischem Staat vor Ort gefährdet. Daher sein heftiger
Protest und die Vermittlung des Reichsministers für die kirchlichen
Angelegenheiten, Hanns Kerrl.
Aber es war schon die nächste Provokation geplant. Die NS
Frauenschaft beanspruchte am 2. November den Dom für eine weitere Feierstunde,
die sogar vom Sender Hamburg übertragen werden sollte. Solche Verbindungen
schufen Sachzwänge und die Veranstaltung lief erneut ohne Absprache mit der
Landeskirche ab. Allerdings erhielt das Landeskirchenamt eine Einladung. Wie
schon beim HJ Treffen war ein hochrangiger Besuch, diesmal der
Reichsfrauenschafsführerin Scholtz-Klink, angesagt. Ihre provokante Rede hielt
sie aber lieber zwei Tage später auf dem Schlossplatz (siehe Kapitel 11). Nun
teilte der Bischof dem Staatsministerium mit, dass er am Bußtag im Dom zu
predigen beabsichtige. Der Dom solle hergerichtet werden. Eißfeldt schrieb
zurück, der Bischof müsse mit dem Dom vorlieb nehmen, so wie es die ruhenden
Arbeiten zuliessen.
Da die Umbauarbeiten stockten, wurde der Dom provisorisch
für Gottesdienste wieder hergerichtet.[27]
Der Bischof predigte wie angekündigt das erste Mal am Bußtag 1935 wieder im
Dom.
Auf Vermittlung des Reichskirchenministers Kerrl, dem an
einer gütlichen Einigung viel lag, kam es zu einem Treffen von Vertretern des
Staatsministeriums und des Landeskirchenamtes, bei dem das Staatsministerium
einen Vorschlag vorlegte, der darauf hinauslief, dem Staatsministerium das
Verfügungsrecht über den Dom zu sichern. Der Vorschlag des Staatsministeriums
hatte folgenden Wortlaut. „Das Landeskirchenamt als Rechtsvertreter der
Domkirchengemeinde erkennt an, dass der Dom entsprechend seines Charakters als
Grabkirche Heinrich d. Löwen und als nationale Weihestätte vom
Staatsministerium zur Verfügung gestellt werden kann, die dieser Bedeutung
entsprechen. Das Staatsministerium sichert zu, dass es vor Erteilung der
Genehmigung durch Rückfrage beim Landeskirchenamt feststellt, ob kirchliche
Veranstaltungen der Domkirchengemeinde der beabsichtigten Feier nicht im Wege
stehen.“[28]
Dieser Vorschlag kehrte die bisherige Handhabe auf den Kopf. Das
Landeskirchenamt lehnte den Vorschlag des Staatsministeriums als „unannehmbar“
rundweg ab und wollte an der bisherigen Praxis festhalten. Dazu legte es einen
eigenen Vorschlag für ein gemeinsames Vorgehen vor, der mit dem
Reichskirchenministerium nach zwei Verhandlungen am 11. November und 18.
Dezember abgesprochen war. Er lautete: „Das Braunschweigische
Staatsministerium und das Landeskirchenamt in Wolfenbüttel sind darüber einig,
dass der Dom zu Braunschweig als Grabkirche Heinrich d. Löwen im Einvernehmen
mit dem Landeskirchenamt zu Veranstaltungen zu Verfügung gestellt werden kann,
die dem Charakter einer nationalen Weihestunde entsprechen. – Das
Staatsministerium sicherte zu, dass es vor Erteilung der Genehmigung durch
Rückfrage beim Landeskirchenamt feststellt, ob die Benutzung des Domes für
kirchliche Veranstaltungen der beabsichtigten Feier nicht im Wege steht. Es
sagt zu, dass es die auf Anfrage erfolgende Äußerungen des Landeskirchenamtes
berücksichtigen wird, und übernimmt die Gewähr, dass solche Feiern den Dom in
seiner Widmung als evangelisch lutherischer Kirche in jede Form achten und
berücksichtigen.“[29]
Die Festlegung des Domes als evangelisch-lutherische Kirche widersprach den
veröffentlichten Absichten, an der Gruft ein antibolschewistisches
Nationalheiligtum zu schaffen. Dabei war bedeutsam, dass dieser Vorschlag mit
dem Reichskirchenministerium abgesprochen war. Sein Minister hieß Hanns Kerrl,
der mit Hitler im Sommer im Dom geweilt hatte. Daher wundert es nicht, dass das
Braunschweigische Staatsministerium auf diesen Vorschlag nicht weiter einging.
Dieser Vorschlag ist ein interessantes Dokument als Antwort der Landeskirche
auf den Hitlerbesuch.[30]
Klagges spürte den Widerstand des Landeskirchenamtes und
ging nicht weiter auf diesen Vorschlag des Landeskirchenamtes ein. Stattdessen
stellte er im Grotrian-Steinweg Saal in einer groß angelegten
Informationsveranstaltung zusammen mit dem Landeskonservator und anhand von
Lichtbildern den bisherigen Ablauf der Grabungsuntersuchungen vor.[31]
Klagges hob dabei den von ihm anvisierten Bedeutungswandel Heinrich d. Löwen
als „Vorkämpfer deutschen Volkstums“, „Begründer deutschen Bauerntums,
„Ausweiter des deutschen Lebensraumes“ hervor. „Damit ist erreicht, was wir,
die wir die Öffnung der Gruft veranlasst haben, erreichen wollten“.
Bei einem Gespräch mit Hitler am 11. Dezember 1935 wurden in
Anwesenheit der Architekten Krüger die Entwürfe für den Unterbau und Oberbau
der Gruft ausgewählt.[32]
Bei dieser Unterredung bekam Klagges die Zurückhaltung Hitlers zu spüren. „Zur
Kostenfrage wiederholte der Führer seine Erklärung, dass er sich beteiligen
wolle.“ Klagges bat daraufhin Hitler nach seinem eigenen Vermerk, „doch die Anlage
als Ganzes Braunschweig zum Geschenk zu machen. Der Führer erklärte, er wolle
sehen, ob das möglich sei und mit Staatssekretär Lammers besprechen, ob die
Kosten auf zwei Etatjahre verteilt werden könnten“.[33]
Ende Dezember teilte Staatssekretär Lammers Klagges mit, Hitler sei „auf
Vorschlag von Lammers grundsätzlich geneigt, die Kosten des Grabmals Heinrich
d. Löwen auf Reichsmittel zu übernehmen.“[34]
In den Antworten von Lammers fehlte die rechte Begeisterung. Als er anfragte,
wann mit einem Ende der Arbeiten zu rechnen sei, nannte Klagges den Herbst
1936.[35]
Fortgesetzte Gottesdienste im Dom
Die Landeskirche blieb in der Zwischenzeit nicht untätig.
Sie bekräftigte ihren Anspruch auf den Dom als evangelische Predigtstätte,
richtete die Baustelle notdürftig her, und seit dem 1. Advent wurde im Dom
nicht nur die nächsten Monate, sondern die nächsten zwei Jahre
Predigtgottesdienste gehalten. Bischof Johnsen eröffnete die regelmäßige
Wiederbenutzung des Domes für Gottesdienste mit einem Gottesdienst am 1. Advent
1935. Er predigte außerdem am Heilig Abend, am 1. Weihnachtstag, dem Sonntag
nach Weihnachten und zu Silvester im Dom, ganz außergewöhnlich viermal in einer
Woche. Es war ein deutliches Signal an das Staatsministerium, als in den
Kirchennachrichten zu lesen war: „Im Rahmen des Sonntagsgottesdienstes wurde am
5. Januar Lic. Dr. Strothmann durch Landesbischof Dr. Johnsen in feierlicher
Weise als Domvikar eingeführt.“[36]
In völliger Verkennung der kirchenpolitischen Lage protestierte der
Braunschweiger Pfarrernotbund gegen die Besetzung der Dompfarrstelle mit Dr.
Strothmann, sie bekräftigte den Anspruch auf den Dom für den früheren
Dompfarrer Karl v. Schwartz. Aber das hätte Klagges nur einen Vorwand
geliefert, die Dompfarrstelle ganz zu streichen. Strothmann war die rechte Hand
des Bischofs und bat in seiner Predigt die Domgemeinde, „unter ihr das Werk
eines Pfarrers und Pflegers tun zu dürfen mit dem Ziel, dass Gott den Menschen
offenbar werde.“[37]
Das klang nicht nach einer Übergangslösung.
Klagges hatte in der Baubeschreibung, die er am 17. Januar
1936 der Reichskanzlei zuschickte, vorgeschlagen, das Mittelschiff in Zukunft
vom Gottesdienst ganz freizuhalten, dafür blieben der Chor und die Taufkapelle
reserviert. Erst Monate später informierte Klagges das Landeskirchenamt von
dieser Absicht und nannte als neuen Termin für den Abschluss der Arbeiten nicht
den Herbst 1936 sondern das Frühjahr 1937.[38]
Der Hohe Chor war geräumig, durch die Chorwand vom Hauptschiff und den dortigen
Arbeiten getrennt und hatte mit dem Siebenarmigen Leuchter einen besonderen
Blickpunkt. Der Hohe Chor war durch einem eigenen Eingang von der Straße zu
erreichen. Die Domgottesdienste und der jeweilige Prediger waren in den
Kirchennachrichten des Volksblattes annonciert. Die regelmäßigen Gottesdienste
und die Besetzung der Dompfarrstelle waren sehr viel mehr als Protest und
„Widerstand“. Sie setzten den Willen der Landeskirche auf die ursprüngliche
Bestimmung des Domes durch, und zwar nicht mir Gewalt sondern mit dem
gepredigten Wort.
Das Landeskirchenamt konnte damit rechnen, dass
möglicherweise das Hauptschiff mit der neuen Gruft einen Domkomplex bildete und
der Hohe Chor und die Taufkapelle einen zweiten, gottesdienstlich genutzten
Domkomplex. Auf eine bizarre Weise entsprach diese Raumaufteilung dem Konzept
eines geregelten Nebeneinanders von lutherischer Kirche und
nationalsozialistischem Staat, das der Bischof und der Ministerpräsident auf je
ihre Weise vertraten.[39]
Um dieses Konzept auch unter den veränderten Bedingungen am
Braunschweiger Dom zu realisieren, führte Propst Leistikow am 8. August 1936
als Nachfolger Strothmanns einen neuen prominenten Domprediger ein, Johannes
Schomerus, 33 Jahre alt. Die Regionalpresse berichtete „Der neue Domprediger
Einführung im Hohen Chor des Domes“.[40]
Schomerus lag ganz auf der kirchenpolitischen Linie von Bischof Johnsen,
bekundete seine Sympathie für den nationalsozialistischen Staat und bestand auf
einer gesicherten Position für die lutherische Kirche im „Dritten Reich“.
Schomerus hatte in einer Abhandlung von 1935 den Nationalsozialismus als – so
der Titel – „Das Ende des Säkularismus“ bezeichnet.[41]
Es bildete sich rasch eine treue Personalgemeinde. Ins Dompfarramt lud
Schomerus damals bekannte Dichter und Schriftsteller ein und schuf einen literarisches
Mittelpunkt. Auch Taufen, Trauungen und Konfirmationen gingen unter diesen
neuen Bedingungen am Dom weiter. Es fanden im Dom folgende Amtshandlungen
statt. Am 5. April 1936 Konfirmation mit 12 Konfirmanden, am 21. März 1937 mit
19 Konfirmanden und am 27. März 1938 mit 44 Konfirmanden davon 15 Jugendliche
aus dem Waisenhaus. Die Väter der Konfirmanden spiegeln etwas vom
Gemeindezuschnitt wieder. 13 Väter waren Lehrer, sieben Kaufmann, einer
Juwelier, Rechtsanwalt, Photograf, Kellner, Kriminalangestellter. Es wurde im
Dom auch geheiratet: 1935: 16 Brautpaare, 1936: 21 Brautpaare, 1937: 13
Brautpaare und sogar 1938 zwei Brautpaare. Am 28. Juni 1938 und am 29. August
1938 fanden die letzten Trauungen statt.[42]
Widerstand mit Tönen
Auch Walrad Guericke, der Domorganist, behauptete seinen
Platz während der laufenden Arbeiten, und zwar so konsequent, dass sich die
Bauarbeiter durch das Orgelspiel mit allen Registern gestört fühlten. Klagges
bat ihn, sein Orgelspiel auf die Zeit nach 16.30 zu verschieben.[43]
Der Domorganist hatte noch eine bessere Idee. Er musizierte mit der Sing- und
Spielgemeinschaft des Wolfenbüttler Oratorienvereins im Hohen Chor des Domes
vom 3. Oktober 1936 an alle vierzehn Tage am Sonnabend Musikalische Vespern,
in denen Musik und Ansprache abwechselten, meist am Abend, wenn die Arbeiten
eingestellt waren.[44]
Diese Vespergottesdienste waren überfüllt.[45]
Sie können als ein Ausdruck der Selbstbehauptung der Domgemeinde und des
Widerstandes mit friedlichen Mitteln gedeutet werden.
Beim 10. Vespergottesdienst am 20. Februar 1937 wurde die
Bachkantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ für Soli, Chor und Orchester
mit Originalinstrumenten aufgeführt. Die Ansprache hielt Domprediger Schomerus.
Beim 11. Vespergottesdienst führte Guericke den 23. Psalm von Heinrich Schütz
auf. Nach dem gemeinsam gesprochenen Vaterunser sangen alle mit Instrumenten
„Verleih uns Frieden gnädiglich“. Die Ansprache hielt Pfarrer Henneberger. Bei
den folgenden Vespern im April und Mai wurden Orgelmusik von Hans Friedrich
Micheelsen, Solokantaten von Dietrich Buxtehude, von Michael Prätorius „Wer
unter dem Schirm des Höchsten sitzt“ und „Nun freut euch liebe Christengmein“
für Doppelchor, am 8. Mai das „Musikalische Opfer“ aufgeführt. Es sprachen
Domprediger Schomerus, Pfarrer Gennrich und v. Wernstorff von der
Katharinenkirche und bei der letzten Vesper am 19. Juni 1937 der Landesbischof.
Dabei wurde die Bachkantate „Schmücke dich, o liebe Seele“ aufgeführt. Wenige
Tage vorher erhielt Guericke die Nachricht, dass die Chorschranke abgerissen
würde, die den Hohen Chor bisher noch vom Hauptschiff trennte. Daher musste die
letzte Vespermusik in den Kreuzgang der Brüdernkirche verlegt werden.
Völlige Umgestaltung des Domes
Inzwischen hatte der Architekturstab um Ministerpräsident
Klagges eine weitergehende Idee, die am Anfang so noch nicht bestanden hatte. Dürkop
verfasste für Klagges am 17.5.1937 eine weitergehende „Anregung zur
Domrestaurierung“. Es würde „ in ganz Deutschland Beachtung finden, wenn der
Gruftbau im Dom Heinrich d. Löwen immer mehr zu einer Generalbereinigung des
gesamten Inneren und damit zu einer denkmalpflegerischen Tat großen Ausmaßes
führt“. Dürkop plädierte für eine Entfernung des Triumphkreuzes und der
Altarwand. Es „übertönt die wichtigsten Kunstwerke aus der Zeit Heinrich d.
Löwen: den siebenarmigen Leuchter, den Altar und das Grabmal.“ Auch die
Fürstenprieche sollte beseitigt werden. „Ganz verschwinden müssten auch die
Malereien in der Hauptapsis, die durchaus neu und entsprechend schlecht sind.“
Die Gebrüder Krüger, die auch ein Exemplar erhielten, begrüßten die Anregungen
von Dürkop in einem Schreiben an Klagges vom 29.5.1937.[46]
Das Gestühl des Domes sollte nicht wieder eingeräumt werden,
vielmehr sollten sich die Renovierungsmaßnahmen nicht mehr auf die Grabstätte
beschränken, sondern den ganzen Dom in die Arbeiten einbeziehen. Nun wurden die
Wände von der historistischen Schablonenmalerei gereinigt und die
mittelalterlichen und mittelaltertümlichen bischöflichen und heiligen Figuren
wiederhergestellt. Auch die wuchtigen Epitaphe wurden in die
Restaurationswerkstätten verbracht und gründlich gereinigt. Bei allen diesen
Maßnahmen wurde die Kirchenleitung nicht gefragt.
Am Ende der Auseinandersetzung wurde der Dom seiner
ursprünglichen Widmung zu ausschließlichen Gottesdiensten entzogen und das
Grundstück des Domes im Grundbuch dem Staat übertragen. Das war nur möglich,
weil der verbleibende Jurist Dr. Lambrecht im Sommer 1938 mit großer Wehmut
seinen Dienst in der Landeskirche quittierte und seine Stelle mit
Oberregierungsrat Hoffmeister besetzt wurde, der seine Stelle im
Staatsministerium behielt, aber einen rigorosen antikirchlichen Kurs im
Landeskirchenamt einführte. Er spaltete die Behörde in eine Finanzabteilung,
die praktisch das ganze Landeskirchenamt unter seiner Führung besetzte und eine
zweite Personalabteilung unter OKR Röpke und OKR Seebaß, die isoliert wurden.
Hoffmeister willigte ohne Umstände bereits Ende 1938 – er war gerade ein halbes
Jahr im Amt - in die Überführung des Domes in Staatsbesitz ein. Auch das
Reichskirchenministerium in Berlin stimmte im Frühjahr 1939 zu, und der Streit
mit dem Braunschweiger Staat war verloren. Die Braunschweiger Stadtpfarrer
formulierten einmütig noch eine Protestresolution, gegen die als einziger Pfarrer
Schlott stimmte.
Domprediger Schomerus verließ Braunschweig und wurde
Seminardirektor in Wittenberg. Die Gemeindearbeit der Stadtkirchen wurde durch
die drastischen Veränderungen am Dom nicht beeinträchtigt. Dafür standen ihnen
genügende Räume zur Verfügung. Auch für Großveranstaltungen blieben der
Stadtpfarrerschaft die Martinikirche, St. Andreas, St. Katharinen und die
Brüdernkirche, in der viele hundert Gemeindemitglieder Platz hatten. Die
Katharinenkirche und die Brüdernkirche profitierten sogar von der Veränderung,
weil die Strassen, die bisher zur Domgemeinde gehörten, unter sie aufgeteilt
wurden. [47]
Der Dom gehörte, so mochten sie sich sagen, sowieso mit
seiner Sonderrolle nicht „richtig“ in den Kreis der Stadtkirchen. Die
Besitzverhältnisse am Dom waren unklar geblieben, und diese juristische
Ungeklärtheit hatte sich die Braunschweiger Regierung zu nutze gemacht. Die
Veränderung des Domes konnte nicht als gezielte Maßnahme in einem „Kampf“ gegen
die Kirche verstanden werden. Immerhin waren mit Zustimmung des Braunschweiger
Staates an den Stadträndern vier neue Kirchen entstanden (Martin-Luther-Haus,
Kapelle Rühme, Bugenhagenkirche, St. Georg). Eine fünfte war in der
Lehndorfsiedlung in Planung[48].
Was am Dom geplant war, war keine „Gegenkirche“, keine
Kulturhalle, auch keine nationalsozialistische Weihestätte. Dazu wurde zum
„Beweis“ jahrzehntelang bis in die 90er Jahre die Wand gezeigt, mit der das
Mittelschiff des Domes vom Hohen Chor getrennt wurde. Es wurde nicht gesagt,
dass diese Wand ein Provisorium war, eine Art Staubwand. Es wurde nicht
zitiert, dass der Staatsdomorganist 1942 schriftlich bat, den mächtigen
Vorhang, der inzwischen die Staubwand ersetzt hatte, für ein Konzert
zurückzuziehen. Es gab in der Braunschweiger Landeszeitung Fotos von
Veranstaltungen, auf denen der Blick von der Orgelempore bis zu den Fenstern im
Hohen Chor ganz frei war.[49]
Es wäre vom Architektenstab nicht verständlich gewesen, auch die Malereien im
Hohen Chor zu restaurieren, und moderne Fenster in den Hohen Chor einzusetzen,
aber diesen Teil des Domes nicht in eine sichtbare Gesamtkonzeption
einzubeziehen.
Es wurden bei den meisten Nachkriegsuntersuchungen weitere
typische Inventarien des Staatsdoms übergangen. Zu einer
nationalsozialistischen Weihestätte passte natürlich nicht das Imervard Kreuz.
Also blieb im öffentlichen Gedächtnis, dass das Imervard Kreuz aus dem
Staatsdom entfernt worden sei. Das war falsch. Es war in einem Seitenschiff
auffällig im Zusammenhang mit der Herzogtumba aufgestellt.[50]
Auch die mittelalterlichen Malereien fanden eine stiefmütterliche Behandlung.
Sie passten nicht in das vorgefasste Urteil einer nationalsozialistischen
Weihestätte.
Es war ein „Staatsdom“. Das war die offiziöse Bezeichnung,
und sie traf auch die Absichten des Ministerpräsidenten Klagges. Der Dom
entsprach seiner religiösen Auffassung, der sich Zeit seines Lebens als
Anhänger der Deutschkirche verstanden hatte. Das war ein Gemisch von
nordischen, biblischen, antisemitischen Versatzstücken. Die romanische
Architekturstruktur des Domes wurde als „nordisch“ verstanden, die
verbleibenden mittelalterlichen Malereien als christlich, das gedämpfte Licht
mit den abstrakten, modernen Fenstern im Hohen Chor gaben dem Staatsdom eine
andächtige Atmosphäre, die besonders bei den nunmehr veranstalteten exzellenten
Dommusiken durchaus genossen wurde.
Mit diesem Staatsdom hatte sich Klagges innerhalb der
nationalsozialistischen Eliten als Sonderling erwiesen. Keine
nationalsozialistische Prominenz hat den Dom in seinem fertigen Zustand als Staatsdom
je betreten, Hitler nicht, Göring, Goebbels, Bormann, Himmler auch nicht.
Himmler hatte in Quedlinburg ebenfalls das Kirchengebäude dem Gottesdienst
entzogen, damit enden aber schon die Vergleiche. Himmler wollte den Dom zu
einer düsteren, todesträchtigen SS-Stätte umgestalten, gerade das wollte
Klagges nicht.
In einem längeren Zeitraum wurde an den inneren oberen
Seitenwänden des Hauptschiffes Sgraffitis von Heinrich Wilhelm Dohme mit
Illustrationen der expansionistischen Ostpolitik des Herzogs Heinrich d. Löwen
aufgetragen. Die Sgrafittis wurden gerne als „typisch Nazi“ beschrieben. Sie
wurden auf Befehl eines englischen Leutnants 1945 oder 1946 übermalt. Dazu
schreibt van Dyke: „Formal handelt es sich jedoch keineswegs um eine
ausschließlich nationalsozialistische Ästhetik, vielmehr um eine Technik, die
seit etwa Mitte der 20Jahre in bürgerlich kulturkonservativen und Heimatschutz
orientierten Kreisen propagiert worden ist.“[51]
Die Arbeiten Dohmes verglich er mit denen von Bernhard Winter und Wilhelm
Petersen. In den 90er Jahren wurde Wilhelm Dohme mit Picasso verglichen und ein
Zusammenhang mit Sgraffitimalereien in anderen Kirchen angestellt, womöglich
also eine vorschnelle Entscheidung der Besatzer?
Hitler allerdings hatte sein Interesse am Dom verloren.
Staatssekretär Lammers hatte schon am 15.1.1938 wissen lassen, „dass der Führer
zu verstehen gegeben habe, dass weitere Mittel nicht zu erwarten sind.“ [52]
In den Akten der Reichskanzlei befindet sich folgender Vorgang. Am 7. September
1938 kam die Mappe mit den Sgraffitientwürfen von Willi Dohme auf dem
Obersalzberg bei Hitler an. Dohme hatte bereits zwei Darstellungen im Sommer
1938 fertiggestellt. Die Architekten Krüger wurden nervös und fragten bei
Staatssekretär Lammers an, wie die Entscheidung des „Führers“ aussähe. Ende
November bekamen sie Bescheid, Hitler wäre die Mappe noch gar nicht vorgelegt
worden. van Dyke/ Fuhrmeister schreiben, dass Klagges im Frühjahr 1939, ohne
eine Entscheidung Hitlers weiter abzuwarten, die Arbeiten wieder aufnehmen
ließ.[53]
Ist die berühmte „nationalsozialistische Weihestätte“ also bereits 1939 auf
anhaltendes Desinteresse Hitlers gestoßen? Der Staatdom und die
unterschiedliche Interessenlage der nationalsozialistischen Eliten wäre ein
reizvolles, noch nicht gründlich behandeltes Nebenthema.
Dem Umbau des Architektenstabes von Klagges kamen zwei
zeitgemäße Umstände zu gute. Besonders nach dem 1. Weltkrieg hatte sich ein
Stil nüchterner Sachlichkeit durchgesetzt, dem der Historismus zuwider war. So
schrieb der pensionierte Regierungsbaumeister R.A Brandes in „Kirche und Kunst“
1934 unter der Überschrift "Die kulturelle Erneuerung und die
protestantische Kirche": „Wenn nicht alle Zeichen täuschen, stehen wir
jetzt an der Schwelle einer Baugesinnung, die, gereinigt von dem Pathos
vergangener Epochen, über den Weg einer selbstverständlichen, anspruchslosen
Sachlichkeit zu einer Einfachheit und Klarheit im Raumgefühl und in der
Formsprache führt. Eine Baugesinnung, die den Geist eines volkshaft-gebundenen,
seelischen Reichtums und herzlicher Innigkeit atmet."
Eine andere Linie aus einer völlig anderen Richtung kam der
sog. „Purifizierung“ – das war inzwischen ein Kampfbegriff geworden – weit
entgegen. Die liturgische Bewegung der 20er Jahre fand zunehmend auch Anwendung
auf die Architektur. So schrieb der Altmeister der liturgischen Bewegung, Karl
Bernhard Ritter, 1938 im Heft vier der Fachzeitschrift „Kunst und Kirche“
"Ein dringliche Aufgabe bei vielen gottesdienstlichen
Räumen ist auch heute noch ihre Ausräumung von allem Kitsch, der sich im Laufe
der hinter uns liegenden Jahrzehnte angesammelt hat. Da gibt es Öldrucke,
Gipsbüsten, unerträgliche Glasfenster, die ausschließlich Zeugnisse für die
Unfähigkeit der Verfertiger ablegen, Wände mit öder Schablonenmalerei. Besser ein
sauberer, leerer Raum in schlichten Farben getönt ohne allen Schmuck als ein
Raum, in dem jedes empfängliche Gemüt bedrückt wird durch eine unechte eitle
Dekoration. Oft kann erst nach einer solchen gründlichen Reinigung daran
gedacht werden, nun langsam ein wesentliches Stück nach dem andern in den Raum
einzufügen."
Unnötig zu sagen, dass K.B. Ritter nicht als Urheber des
Veränderung des Domes zum Staatsdom in Anspruch genommen werden kann, aber die
Umgestaltung der Jahre 1936 ff entsprach Prinzipien der liturgischen Bewegung,
und K.B. Ritters Äußerung erklärt, warum der Dom in seiner heutigen Gestalt
nicht unwesentliche Züge des Umgestaltung aus der Zeit von 1936-1940 trägt und
akzeptiert wird.
Das Bildprogramm des Staatsdomes [54]
Ein lange vernachlässigter Bereich bei der Erforschung des
Domes zur nationalsozialistischen Zeit ist das Bildprogramm, wie es sich an den
Säulen im Mittelschiff darbietet. Noch 2008 wurde angezweifelt, ob diese Bilder
überhaupt im Zuge des damaligen Domumbaus restauriert worden sind. Darüber
hatten indes Prof. Curdt und Dr. Dürkop im Februar 1938 die Öffentlichkeit
unterrichtet. Die Braunschweiger Tageszeitung berichtete unter der Überschrift:
„Neue Bildschönheit im Braunschweiger Dom. Aus Dunkel und Stumpfheit wird Licht
und Reinheit – Arbeiten an Pfeilern im Mittelschiff bald vollendet“. Das war
nicht nur Propaganda-Sicht, sondern durch die historistische Schablonenmalerei
waren die mittelalterlichen Figuren tatsächlich vollständig zugedeckt und
wurden nun freigelegt, so wie sie heute noch zu sehen sind. Der
Zeitungsbericht nannte 23 große Figuren an den Pfeilern. „Immer mehr wird das
Mittelschiff so wieder in den ursprünglichen Zustand köstlicher Schlichtheit,
Reinheit und Klarheit zurückversetzt, immer mehr gewinnen die alten Figuren
wieder neues Leben,“ endete der Bericht.[55]
Schon beim Betreten den Domes vom Burgplatz aus wurde der
Besucher von hohen, farbigen Wandmalereien begrüßt: rechts an der Säule, die
noch zur Wand gehört, ein bekanntes Motiv: der Engel Gabriel kündigt Maria die
Geburt eines Sohnes an. Das Bild befindet sich in Augenhöhe des Besuchers. Es
war bisher unter vielem Rankenwerk verborgen und leuchtete jetzt dem Betrachter
entgegen.
Auf der ostwärts zum Hochchor gerichteten Seite derselben
Säule tritt ein segnender Lockenkopf mit dem linken Fuß auf den kahlen Kopf
eines Mannes und der andere Fuß versinkt unsichtbar. Watet er im Wasser, worauf
der blaue Streifen hindeuten könnte? Er sieht nicht den Betrachter an, sondern
nach rechts in das Kirchenschiff. Segnen und siegen ist die Botschaft des
Bildes.
Gegenüber zur Innenseite, also zur Orgel hin, befindet sich
ein weiteres Motiv. Es stellt Christus dar; er ist „niedergefahren zur Hölle“.
Dort begegnet er den noch unerlösten Seelen, auf dem Bilde fünf Gestalten. Ganz
unten rechts ein Höllenhund mit aufgesperrtem Maul. Jesus fasst mit der Rechten
die linke Hand eines halbbekleideten Mannes, der einen Heiligenschein trägt und
Jesus anfasst, als solle der ihn herausziehen. Dieses Motiv kommt noch einmal
im südlichen Kreuzarm vor. Es zeigt Jesus und Adam. Von den vier anderen
Gestalten sind nur die Köpfe zu sehen, zwei Paare. Diese fünf kommen aus einem
Tor mit einem braunrötlichen Hintergrund. Jesus selber kommt auch durch ein
Tor, dessen Hintergrund jedoch blau leuchtet. Die Welt Jesu ist blau, grün, rot
umrandet. Es gibt nichts Verwerfliches, das nicht auch erlöst werden könnte,
lautet die Botschaft des Bildes.
Diese Säule enthält weitere Darstellungen. Ein
verhältnismäßig großer Heiliger, grün, rot, gold umwandet, tritt auffällig auf
den Rücken und den Kopf eines unter ihm liegenden Fabelwesen. Es hebt noch den
Kopf. Das Böse ist noch nicht besiegt. Der Heilige hebt den rechten
Zeigefinger, mahnend zur Wachsamkeit gegenüber dem Bösen. In der linken Hand
hält er ein Spruchband, das nach oben flattert, und einmal einen Text enthalten
hatte. Die Malerei reicht bis in die Wölbung der Säule.
Oberhalb in der Bogenspitze schwebt ein Engel, der ein
Instrument in der Hand hat. Wenn der Besucher am Eingang den Blick hebt, sieht
er auf diesen Engel. Es wäre sein erster Eindruck.
Wenn er zum Eingang zurücksieht, erblickt er eine Inschrift:
„Der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler ließ die Gruft Heinrich d. Löwen
erbauen und den Dom erneuern i.d.J. (in den Jahren) 1936-1938“. Die Inschrift
suggerierte die Übereinstimmung Hitlers mit dem Domumbau. Der Besucher konnte
also den Eindruck haben, dass der Staatsdom, wie er sich ihm präsentiert, den
Absichten Hitlers entsprach.
Zwischen diesen beiden Säulen mit sechs Wandmalereien betreten
die Besucher den Staatsdom von 1942. Die Malereien stimmen ihn nicht auf
nationalsozialistische Symbole und Parolen ein, sondern entführen ihn in eine
andere Welt. Sein Blick in Augenhöhe fällt auf eine Reihe weiterer
Wandmalereien auf der Südseite des Mittelschiffes. Da sind Bischöfe abgebildet
mit Mitra, Stab, Ring und Buch. Bei einer Gestalt hatte Essenwein den Namen
hinzugefügt Ludgerus. Das war ein damals bekannter Abt eines
Benediktinerklosters, der das Ludgerikloster in Helmstedt gegründet hatte.
Ludgerus steht in roten Schuhen auf felsigem Boden, er trägt eine Mitra und
einen Bischofsstab und segnet mit der rechten Hand den Betrachter.
Bischof Ludger hat Gesellschaft auf den drei anderen Seiten
dieser Säule. Der prominenteste mit Blick auf das Seitenschiff ist der Apostel
Paulus in rot, grünem Gewand, auf blauem Hintergrund, was wohl den Himmel
darstellen soll, barfuss, mit einem Buch in beiden Händen. Er tritt mit beiden
Füßen auf eine menschliche Gestalt, die eine Krone trägt. Wir würden ihn kaum
als Paulus erkennen, wenn sein Name nicht über die Figur gesetzt wäre.
Dem Ludger gegenüber auf der nördlichen Seite des
Mittelschiffes steht ein bärtiger Heiliger mit Heiligenschein auf felsigem
Boden, der in der rechten Hand eine Schriftrolle hält, die nach unten gerollt
und leer ist, über der Schulter trägt er mit der Linken einen Stock, an dessen
Ende etwas Rotes hängt. Er trägt ein violettes Gewand, die Ärmel des grünes
Obergewand sind zurückgerollt und gibt ein rotes Unterhemd frei. Er trägt Schuhe.
Er segnet nicht, er warnt nicht. Im Gegensatz zu den bisherigen Gestalten wirkt
er schlicht. Die Botschaft für den Staatsdombesucher von 1942 lautete: Das
Leben ist Wandern und Arbeiten, Bewegung und Beschäftigung. Vielleicht stelle
er auch einen Pilger in der Wüste dar.
Auf der anderen Seite hält eine barfüßige Gestalt auf
grünem, (waldigen) Untergrund in der linken Hand ein Tier und segnet mit der
anderen Hand auch ein Tier. Es ist der heilige Blasius. An dieser Stelle kann
im Mittelalter ein Blasiusaltar gestanden haben, an dem Gebete für die
Verstorbenen und Seelenmessen für ihr Heil zelebriert wurden. Der Dom ist dem
Heiligen Blasius geweiht.
Es lohnt sich noch heute, die inzwischen erneut
restaurierten Bilder anzusehen und durchzupredigen.
Wo befinden wir uns? In einer nationalsozialistischen
Weihestätte? In einem Staatsdom?
Umgeben von segnenden Heiligen und Bischöfen, von Christus,
der segnet, warnt und die Verdammten aus der Hölle holt. Von Menschen, die das
Böse besiegen. Denen immer und immer wieder das Buch entgegengehalten wird.
Sind wir in einem Museum, in dem der Respekt der Domrestauratoren vor der
mittelalterlichen Kunst diese 23 Wandmalereien erhalten und ergänzt hat?
Welchen Sinn hatten die Wandmalereien ursprünglich? Als der
Dom eine prominente Grabstätte war, bewachten die Heiligen die Gebeine der
Verstorbenen, Bischöfe hielten Totenmessen für das Seelenheil der Verstorbenen,
Märtyrer zeigten den Weg in die bessere Zukunft in einer himmlischen Welt. Dann
wurde der Dom Gemeindekirche, aber die Gemälde blieben, obwohl sie ihren
ursprünglichen Sinn verloren hatten. Die Reformation hatten in einem Akt der
Kulturbarbarei die zahlreichen Altäre beseitigt. Spätere Zeiten haben dann auch
die Malereien übertüncht. Erst im vorigen Jahrhundert wurden sie wieder
hervorgeholt und restauriert, was noch zu restaurieren war.
Was ist an diesen Wandmalereien im Mittelschiff nun
wirklich alt und stammt aus dem Mittelalter?
Dazu schrieb der Direktor des Germanischen Museums in
Nürnberg Essewein in seiner Abhandlung
„Die Wandgemälde im Dom zu Braunschweig“: „An den Pfeilern
des Langhauses sind einzelne heilige Figuren gemalt. Auch sie sind im Sinne der
Darstellung aller Heiligen durch dieselben hier angebracht. Es lässt sich deren
Identität nur zum Theile feststellen, weil die Sprüche der Spruchbänder meist
nicht mehr erhalten sind. Für ihre Auswahl mag wohl maßgebend gewesen sein,
welche Altäre in ihrer Nähe standen; es mögen die Namenpatrone hervorragender
Persönlichkeiten gewählt worden sein. Auf Wunsch des Herrn Abt Thiele habe ich,
da die Auswahl deshalb jetzt auch frei stand, an zwei Stellen, wo von den
ursprünglichen Figuren nichts mehr zu sehen war, die Heiligen Ludgerus und
Ansgarius dargestellt“.[56]
Vor dieser Situation standen die Domumbauer 1936. Am 17.12.
1936 verfasste Johannes Dürkop, der junge Direktor des Vaterländischen Museums,
das in der Ägidienkirche untergebracht war, für Prof. Herzig ein Gutachten, in
dem es u. a. heißt: „Die jetzigen Wandmalereien im Mittelschiff des
Braunschweiger Domes haben an sich keinen künstlerischen Wert, da sie aus einer
Zeit entstammen, die des eigenen Ausdrucks in der Monumentalmalerei durchaus
entbehrte. Ein kunsthistorischer Wert ist ihnen nur insofern einzuräumen, als
sie nachweislich auf romanische Wandmalerei aus der Erbauungszeit des Domes
zurückgehen..“ [57]
Dürkop kam zu folgender Empfehlung: „Freilich sind diese
Malereien nirgends im Original, sondern nur in der vergröbernden und
entstellten Übermalung und Ergänzung des 19. Jahrhunderts erhalten. Da wir aber
nichts anderes haben, müssen auch diese Übermalungen als wichtige Dokumente
romanischer Kunst angesehen werden.“
Von den Wandmalereien war also sehr wenig im originalen
Zustand erhalten. Das hätte für Ministerpräsident Klagges ein vorzüglicher
Vorwand sein können, das Mittelschiff des Dominneren völlig weiß zu streichen
und alle christlichen, biblischen Symbole zu entfernen. Es stellt sich die
wichtige Frage, warum er diese kunsthistorisch fragwürdige Restauration im
mittelalterlichen Stil vornahm. Es hätte seiner deutsch-kirchlichen Gesinnung
widersprochen, eine pure nationalsozialistische Weihestätte zu schaffen, es
sollte ein Raum mit völkischer und christlicher Symbolik, also nicht
Hakenkreuz pur, sondern Hakenkreuz und Christenkreuz nebeneinander entstehen.
Dass Verhältnis zwischen Christentum und Nationalsozialismus müsse nicht
künstlich konstruiert werden, erklärte er, sondern es bestehe sozusagen von
Natur aus. Beide seien strukturell eng benachbart.
Die Epitaphien
Am 26. September 1938 schrieb Dürkop an Klagges: „Auch sind
nunmehr die sämtlichen Grabtafeln aus der Barockzeit an den Wänden des
Seitenschiffes aufgehängt. Sie haben z.T. durch die bessere Beleuchtung
erstaunlich gewonnen.“ (QUELLE!!) Die Mehrzahl der Epitaphien enthält ausgesprochen
christliche Symbolik, gut dokumentiert bei Harmen Thies „Der Dom Heinrichs des
Löwen in Braunschweig“ 1994, etwa das des Dekans Valerius Moeller und seiner
Frau Margarethe mit Kreuz und Auferstehung im Mittelpunkt.[58]
Wer es sich näher betrachtete, konnte den Leidensstationen Jesu (Folter,
Verspottung, ans Kreuz nageln) nachgehen. Es konnte zum Andachtsbild werden. Es
war zur Zeit des Staatdoms prominent dort aufgehängt, wo heute das
Imervardkreuz zu sehen ist. Heute hängt es rechts vom Eingang. Das Epitaph von
Elisabeth v.d. Schulenburg, das die Verstorbene mit ihrem Mann im Gebet vor
einem Kreuz zeigt, war auf der anderen Stirnseite angebracht. Es gab aber auch
Epitaphien, wie das vom Propst von Wendhausen, das auf christliche Symbolik
völlig verzichtete, also der säkularisierten Selbstdarstellung des Verstorbenen
diente, geradezu eine Parallele zur „Säkularisierung“ des Domes von 1938.
Aulers Dommusik
Ein wesentliches Manko der Auseinandersetzung mit dem
Domumbau ist, dass vor allem die Architektur im Vordergrund steht. Erstmals
bezogen van Dyke/ Fuhrmeister auch die Lichtverhältnisse und sogar ansatzweise
die Musik in ihre Betrachtung ein. Aber gerade die Musik war ein wesentlicher
Bestandteil der neuen Konzeption. Im Staatsdom, wie die Bezeichnung seit 1940
amtlich hieß, war die Orgel gründlich überholt worden und ein namhafter
Organist und Barockkenner, Wolfgang Auler, 1941 angestellt worden.
Wolfgang Auler (1904-1986) stammte aus Westfalen, in
Dortmund geboren, studierte er in Frankfurt und Leipzig Kirchenmusik, war nach
eigenen Angaben 1925-27 Kantor an der ev. Kirche in Gottesberg, Schlesien,
1927-30 Organist und Chorleiter in der Kapernaumkirche in Berlin und 1930-36 an
St. Jakobi in Berlin. Auler spezialisierte sich auf historische Tasteninstrumente
und wurde mit der Aufsicht über die historischen Tasteninstrumente in den
Schlössern von Berlin und Potsdam beauftragt. 1936 begeisterte er durch
exzellente Orgelkonzerte aus Anlass der Olympischen Spiele. 1936 – 1939 wurde
er Dozent an der Hochschule für Lehrerbildung in Hirschberg, Schlesien, was
eher als Rückschritt gegenüber der Tätigkeit in Berlin wirkt. 1939 - 1941 war
er Hauptfachleiter am Bruckner-Konservatorium in Linz und kam von dort an den
Staatsdom, was er in seinem Lebenslauf nach 1945 verschwieg.[59]
Auler hatte mit dem Thomanerchor in Braunschweig gastiert und bei dieser
Gelegenheit Johannes Dürkop kennengelernt. Zwischen beiden entwickelte sich
ein freundschaftlicher Briefwechsel, der schließlich zur Anstellung führte.[60]
Aufbau eines Domchores
Auler veranstaltete im Staatsdom ab 1942 kein ausschließlich
nazitypisches, parteiisches Musikprogramm sondern auch ein erlesenes
Barockprogramm: am 8. Februar wurden zusammen mit dem Kammerorchester der
Braunschweiger Staatsmusikschule die Konzerte g-moll und d- moll von Händel für
Orgel und Orchester aufgeführt und vom Domchor Lieder von Hassler, Prätorius,
Gastoldi, Hugo Diestler („Bauernlieder“). Präludium und Fuge von Buxtehude
beendeten das Konzert. Der Dom war „bis auf den letzten Platz gefüllt“.[61]
Am 5. April 1942 dirigierte Dr. Bittrich, der Direktor der Staatsmusikschule,
einen „Konzertchor der Braunschweiger Hitlerjugend“ bestehend aus 200
Hitlerjungen und – mädel. Er hatte mit ihnen das Oratorium von Händel
„Herakles“ einstudiert; ein Monumentalwerk mit sechs Solisten und der Kapelle
des Staatstheaters, am Cembalo Wolfgang Auler, an der Orgel Hilde Pfeifer.[62]
Am 21. April 1942 führte Wolfgang Auler das „Musikalische Opfer“ von J.S. Bach
in der Orchesterfassung mit Flöte, Violine, Generalbass und Cembalo auf. Auler
hatte in einer Besprechung am 16.4.1942 in der Braunschweiger Landeszeitung
ausführlich auf dieses Konzert hingewiesen.
Die Lokalpresse berichtete begeistert von den
Staatsdommusiken, so von einem Konzert im Mai 1942: „Eine andächtige
Zuhörerschar ließ sich gestern von dem klingenden Zauber einer musikalischen
Abendstunde im Staatsdom völlig einspinnen“. Die Vortragsfolge „war in
harmonischer Einheitlichkeit auf einen Ton stiller Versonnenheit abgestimmt,
ein Ton, der sich innig jener leichten Wehmut vermählt, die unser Herz befällt,
wenn in den Tagen des jungen Frühlings der erste weiße Blütenregen von den
Obstbäumen zur Erde rieselt und an die Vergänglichkeit alles Schönen
erinnert.“ Es gab Orgelwerke von Reger (Präludium und Fuge fis-moll), Cesar
Franck, Rilkelieder von Marx, von der Sopranistin Käte Hecke-Isensee „in den
zartesten Pastelltönen gesungen“, sowie Lieder für Sopran von Walter
Courvoisier: „Ihre objektive Art, die nicht kühler, sondern gebändigter
Gefühlsausdruck bedeutet, hatte in der stillen Feierlichkeit des Domes den
mitschwingenden räumlichen Hintergrund“. Auler musizierte auch Modernes: eine
Orgeltoccata in d-moll von Is. Stögbauer und eine Sonate für Orgel und Oboe op
38 von Hanns Schindler mit dem Oboisten Tschernig[63].
Es ist auffällig, wie die Musik den Staatsdom geradezu „entnazifizert“.
In der BTZ vom 20.5.1942 hieß es vom selben Konzert:. „Die
du still gegangen kommst, o kühle Nacht“. In weitem Bogen zog die Melodie durch
den ehrwürdigen Raum, innig beseelt durch den musterhaften Vortrag von Käthe
Hecke-Isensee, sodaß jede Weise auf dem Goldgrund des Orgelklangs die Herzen
berührte. Wie von lieber Hand wichen Alltagssorgen vor dem Empfindungsgehalt
der Lieder“.
Bei einem Konzert der deutsch-italienischen Gesellschaft am
17. Juni 1942 spielte Auler Orgelwerke von Bach und Frescobaldi, Käte
Hecke-Isensee sang Sopranarien von Pergolesi und Cardera und Händel, zusammen
mit Heinrich Cramm Bach- und Händelarien. Ein Staatsorchester spielte Torelli
und Ariosti. „Das Torelli Konzert beglückte durch ebenso feinschattige Konturen
und Farben wie das von Ariosti“. Am Cembalo Auler, Hans Geis auf der Viola d’
amore.[64]
Am Sonntag dem 11. Oktober 1942 (Sonntag) war ein weiteres
Domkonzert mit einer Sonata und Fuge in F dur von Bach, Gunthild Weber aus
Berlin sang Sopranarien von Bach und Händel, „Wie anders dagegen die Arien von
Max Reger. Hier entströmten den Saiten die himmlische Melodie einer gläubigen
Seele“.[65]
In der Besprechung der BLZ vom 13.10.42 hieß es:„..und dann brauste die Orgel
auf, gespielt von Wolfgang Auler, einem Meister, der ihr Klänge voll Schönheit
und Kraft abringt.“[66]
Es gab neben diesen rein musikalischen Veranstaltungen auch
politische, bei denen Auler mitwirkte.
Am Heldengedenktag (15.3.1942) vereinten sich Klagges,
Vertreter der Stadt und Partei und Gauinspektor Beier im Staatsdom. Staatsrat
Ziegeler sprach von der „frohen Botschaft der erdnahen Unsterblichkeit“. Die
Toten seien nicht tot und nicht bei den Göttern, sondern sie marschierten mit.
Der Domchor sang Passagen aus dem „Herkules“ von Händel von den Stufen des
Hohen Chores. „Dem Freiheitsgründer weiht ewigen Dank, vor ihm entschwand der
Willkür Eigenmacht.“ Zum Eingang die Ouverture vom Herakles. Angekündigt war
die Veranstaltung als Morgenfeier der HJ und SS Junkerschule.[67]
Aber Auler versuchte auch, die staatlichen Anlässe musikalisch aufzuwerten. Am
23. März 1942 fand im Staatsdom der Schulabschluss von über 1000 Jungen und
Mädchen, verbunden mit einer Verpflichtung auf Hitler, statt. Am Vorabend hatte
Auler Eltern und Jugendliche zu einer musikalischen Stunde eingeladen. Auler
bot ein Orgelkonzert mit Werken von Bach, Chorlieder von Distler und alten
Meistern, Baßarien von Händel und Krüger und den „hymnischen Ausklang“ mit
Heinrich Spittas Orgelstück über „Nichts kann uns rauben Liebe und Glaube zu
unserm Land“. Der Musikrezensent befand: „eine beglückende Feierstunde“.[68]
Die Jugendlichen werden vermutlich anderer Ansicht gewesen sein, denn die
schmissigen HJ-Lieder fehlten. [69]
Auler geriet mit seiner Arbeit zunehmend auch in Konkurrenz
mit anderen Chören. Er beschwerte sich, dass Willi Sonnen mit seinem
Sing-Akademiechor im Herbst 1943 drei Oratorien im Programm habe – zuviel der
Oratorien für die Stadt Braunschweig. Er möge sich einschränken.[70]
Die Einschränkungen besorgte schließlich der zunehmend bedrohliche Krieg. Aber
von allen total zerstörten Innenstadtkirchen blieb der Dom vergleichsweise so
weit stehen, dass nach kräftigen Aufräumarbeiten schon im Sommer 1945 dort
wieder Gottesdienste geplant wurden.
Auler bemühte sich, seine Stellung am Dom zu halten, wurde
aber Organist im benachbarten Hondelage und Wendhausen, und blieb dort bis
1948. Seit 1949 wurde er Leiter des Institutes für evangelische Kirchenmusik an
der Staatlichen Musikhochschule in Köln, seit 1949 Organist an der
Antoniterkirche in Köln und bis 1951 Lehrer an der Kirchenmusikschule in
Kaiserswerth. Danach war er 16 Jahre lang bis 1969 Kirchenmusiker in Witten.
1961 wurde er zum Kirchenmusikdirektor ernannt. Er hatte einmal versucht, am
Dom ein Orgelkonzert zu geben, was ihm aber vom damaligen Domorganisten Herbst
verweigert wurde.
Kein kirchliches Gebäude der Stadt geriet in den folgenden
Jahrzehnten derart in den Streit der Meinungen wie der Braunschweiger Dom. Der
Streit bezog sich auf die Berechtigung der Beseitigung der historistischen
Malereien Quensens, auf die Tatsache der Ausräumung des romanisierenden
Inventars, auf die Bewertung der Graffitis in den Obergaden und die Bezeichnung
als „nationalsozialistische Weihestätte“. Die Auseinandersetzung hält bis heute
an.