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[Kirche von unten]



Ansichten einer versunkenen Stadt

Die Braunschweiger Stadtkirchen 1933 - 1950

von Dietrich Kuessner


20. Kapitel

Die katholischen Kirchengemeinden 1935 – 1939 – die Bewährungsprobe für das kirchenpolitische Konzept der kirchlichen Mitte

Das kirchenpolitische Konzept der kirchlichen Mitte, nämlich unter Anerkennung der außenpolitischen und innenpolitischen Rahmenbedingungen den volkskirchlichen Bestand der Kirchen zu erhalten, wurde 1935 auf eine schwere Bewährungsprobe gestellt.

 

Das Jahr der Konflikte 1935

Das Jahr 1935 brachte für beide Kirchen unerwartete, einschneidende Personalentscheidungen. Im März 1935 wurde der Hildesheimer Generalvikar, also der leitende Geistliche der Diözese neben dem Bischof, Otto Seelmeyer,[1] in seinem Dienstgebäude verhört und an Ort und Stelle verhaftet. Ihm wurde  Devisenvergehen vorgeworfen. Seelmeyer war 58 Jahre alt, seit 1929 in der Kirchenbehörde an dieser leitenden Stellung und infolge des Bischofswechsels 1934 der ruhende Pol. Bischof Machens war erst acht Monate im Amt. Seelmeyer kehrte nicht mehr auf diesen Posten zurück. Er wurde vom Sondergericht Berlin zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, das Urteil 1936 in einem Revisionsverfahren auf drei Jahre verkürzt und Seelmeyer im Juli 1937 nach Entrichtung einer Geldstrafe vorzeitig entlassen. Das Generalvikariat wurde 1936 mit Wilhelm Offenstein[2] besetzt. Eine Rückkehr auf den alten Posten war damit für Seelmeyer ausgeschlossen. Seelmeyer starb 1942. [3]

Im Sommer 1935 wurde auch Propst Leistikow verhaftet, vom Schnellgericht Braunschweig zwar freigesprochen, da aber die Staatsanwaltschaft in Revision ging, kehrte Leistikow erst im März 1936 in die Propstei Braunschweig zurück.(siehe Kapitel 12)

Im August 1935 wurde in das Jugendheim von St. Nikolai eingebrochen und das Inventar in ein HJ Heim verschleppt. Ein HJ Gruppe schlug einen Jugendlichen von der kirchlichen Jugendarbeit krankenhausreif, sodass er auf Gehirnerschütterung behandelt werden musste. Vergeblich war ein Versuch, in das Jugendheim der Laurentiusgemeinde einzudringen, Kaplan Neisen informierte darüber die Polizei und die Kirchenbehörde.[4]  

Auf ein Gerücht hin, dass ein Hitlerjunge auf den Kirchplatz von Nikolai von einer katholischen Jugendgruppe zusammengeschlagen worden sei, was nie bewiesen werden konnte, aber in der Lokalpresse gehässig kommentiert worden war, versammelte sich im September 1935 eine Horde von HJ Jungen, trat die Tür und Fensterscheiben zum Pfarrhaus ein, holte Dechant Stolte und Kaplan Groß heraus, schlugen Groß zusammen und führten beide über den Steinweg in das Rennelberggefängnis. Um Mitternacht wurden beide wieder entlassen. Das sollte der Abschreckung dienen. Bischof Machens informierte die Ministerien in Berlin und forderte von der Gestapo die Bestrafung der bekannten Täter. Sommer und Frühherbst 1935 waren aufgeheizte Tage in der Stadt. Ob solche Aktionen auf höherer Ebene geplant waren oder sich die übliche Gewalttätigkeit von Jugendlichen ein Ventil verschaffte und Krawall gegen angeprangerte Personen und Gruppen veranstaltete, ist nicht mehr festzustellen. Auch die Verfahren gegen die beiden leitenden Geistlichen waren nicht systematisch von oben gelenkt, sondern beide waren in die Hände der Justiz geraten. Die offiziöse kirchenpolitische Linie der mittleren Linie und eines Einverständnisses mit den staatlichen Organen war schwer beschädigt. Scharf-Wrede versteht daher das Jahr 1935 als einen Einschnitt.[5]

 

Offiziöse Erklärungen

In diesem Zeitabschnitt veröffentlichten beide Kirchen geharnischte Erklärungen von höchster Stelle gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik, die Enzyklika von Papst Pius XI „Mit brennender Sorge“, die im März von allen  katholischen Kanzeln verlesen werden sollte und die Kasseler Erklärung, die im Juli 1937 von allen evangelischen  Kanzeln der Landeskirche verlesen werden sollte und die noch konkreter auf das Unrecht in Deutschland hinwies und auch die Einrichtung der Konzentrationslager beim Namen nannte. Es ist nicht nachweisbar und nicht thematisiert, wie weit die beiden Erklärungen die Kirchengemeinden erreichten und wie sie dort aufgenommen wurden. In der Forschung ist umstritten, ob diese Erklärungen noch innerhalb einer grundsätzlichen Anerkennung der nationalsozialistischen Obrigkeit, weil von Gott gegeben, anzusehen sind oder diesen Rahmen sprengten. Von ihren Verfassern waren sie als Rahmensprengung nicht gedacht. Der Papst brach z.B. nicht die diplomatischen Beziehungen zur Regierung ab.

 

Näher an den Gemeinden war die Diözesansynode in Hildesheim im Januar 1937 ein kirchengeschichtlicher Höhepunkt dieses Zeitabschnittes. Es war die erste nach mehreren Jahrhunderten. So war diese Diözesansynode durchaus ein Wagnis für Generalvikariat und Pfarrerschaft.

 

Die Diözesansynode Januar 1937 [6]

Nach den alten Vorschriften des Kanon Juris Canonici, die in den Paragrafen 356-362 die Einberufung Ablauf und ihre lediglich beratende Funktion beschreibt, berief Bischof Machens eine Diözesansynode in Hildesheim ein, an der 118 Kaplane, Pastoren, Dechanten, Direktoren und Professoren, keine Laien und keine Frauen teilnahmen, von Braunschweig Dechant Stolte, Pastor Gnegel, St. Josephkirche und Kaplan Groß, Nikolai (der spätere Pastor an St. Joseph.). Das Thema lautete „Kernfragen zeitnaher Seelsorge“. In seiner Eröffnungsansprache zeichnete Bischof Machens ein kämpferisches Bild von der Gegenwart. Das Fundament, Christus, der lebendige, herrschende und siegende Herr der Kirche, werde angegriffen und erschüttert. Der Bischof vermied, die Angreifer und Zerstörer beim Namen zu nennen, sondern sprach allgemein vom modernen Menschen, dem das Diesseits alles sei und der eine neuen Religion huldige, die mit Offenbarung, Christentum, Kirche und Priestertum nichts anfangen könne. Der Bischof beklagte ihren Einfluss auf die Kirche: „Wer wollte leugnen, dass von den Kindern der Kirche viele dem starken Ansturm solcher Ideen zum Opfer fielen oder stark von ihnen angekränkelt wurden.“  „Wer wüsste nicht, dass viele an ihrem Glauben und noch mehr an ihrer Glaubensfreude Schaden litten.“[7] Die Gegenwart zeige tiefe Schatten, aber auch viel helles Licht, vernichtete Aussaat, aber auch hoffnungsvolle grüne Fluren und fruchtschwere goldene Felder, Mutlose und Fahnenflüchtige, aber auch entschlossene Glaubenskämpfer mit Märtyrergeist.

Domvikar Dr. Algermissen, Professor am Priesterseminar, hielt die beiden Hauptreferate über die ordentliche und außerordentliche Seelsorgearbeit, verglich eingangs das Neuheidentum der Gegenwart mit dem antiken Heidentum und die Antworten der urkirchlichen Gemeinde mit einem kraftvolleren religiösen Leben bei Laien und Priestern in der Gegenwart. Er hob für eine zeitgemäße Seelsorge die Wiederentdeckung der Liturgie, der Eucharistie, der Mitwirkung der Gemeinde beim Singen und Beten in deutscher Sprache, auch die Entdeckung der Pfarrgemeinschaft, die sich nicht mit dem Vollzug des Amtes durch den Priester begnüge, sondern bei Hausbesuchen die Entfremdeten, Gefährdeten und neu Hinzugezogenen entdecke. Für die Großstadtgemeinde sei die Schaffung kleiner Seelsorgebezirke wichtig.[8] In den Korreferaten und in der Aussprache wurde vor allem aus der eigenen Gemeindearbeit berichtet. Prof. Dr. Riebartsch, wie Algermissen Professor am Priesterseminar, empfahl, das Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Sündenbekenntnis und sogar das Opferungsgebet von der ganzen Gemeinde sprechen zu lassen. Auch im evangelischen Gottesdienst bürgerte sich zu dieser Zeit das gemeinsam gesprochene apostolische Glaubensbekenntnis ein. An der Taufe sollte möglichst die ganze Gemeinde teilnehmen, die einzelnen Rituale erklärt und gedeutet und der Täufling in die Pfarrfamilie aufgenommen werden.[9] Das bedeutete eine völlige Abwendung vom herkömmlichen Verständnis der Taufe, durch die der Täufling mit der Gnade begossen und sozusagen himmelfertig gemacht wurde. Diese Vorschläge gehören in den Zusammenhang des liturgischen Aufbruchs der 20er und 30er Jahre. Ein neues Gesangbuch war (nicht auf der Synode) im Gespräch, Jugendliche sammelten sich zu Andachten, bei der in deutsch die Komplet gesungen wurde. Ein Synodenteilnehmer hingegen warnte schon vor „extremen Liturgizismus“.[10]   

Der 3. Synodentag war ganz für die Behandlung der Jugendarbeit vorgesehen. Dabei  beklagte Pastor Muth, der für die Betreuung von Jugendlichen im Arbeitsdienst, in der Landhilfe und im Landjahr zuständig war, die Einschränkungen in der Jugendarbeit bei Freizeiten, die kirchenfeindliche Einstellung der Lagerführer und eine im deutschgläubigen Sinn gehaltene weltanschauliche Schulung der Jugendlichen.[11] Ganz ähnliche Erfahrungen wurden in der evangelischen Jugendarbeit gemacht. Bei dem Referat über den „Katechismus unserer Zeit“ hieß es, der katholische Glaube biete die besten Voraussetzungen für die „wahre Volksgemeinschaft“. Die religiöse Erziehung solle dem deutschen Menschen unserer Zeit zeigen, wie er den Willen Gottes in dieser Zeit in der Gestaltung seiner nationalen und politischen Ziele erfüllen könne. Zeitnahe Seelsorge bedeutete für diesen Referenten, eine Übereinstimmung von göttlichem und politischem Willen herzustellen. Das Volk sei von Gott gemacht und das Volk sei Gott gegenüber verpflichtet. Der Mensch müsse „durch Arbeit, Gebet und Sühne mit zur Verwirklichung der dem Volk von Gott gestellten Aufgabe bei(zu)tragen“.[12] So pendelten die Aussagen dieser Synode zwischen Kirchentreue und Staatstreue, wobei die Kirchentreue bei weitem überwog.

Zum Abschluss der Synode hielt Bischof Machens ein eindrucksvolles Referat über den Seelsorger als Persönlichkeit, wobei er Jesus als Vorbild der Seelsorge herausstellte. Es war ein sehr persönliches Referat, in dem der Bischof das Bild eines zeitnahen, dem Menschen zugewandten, frommen Seelsorgers zeichnete, zugleich ein Wunsch an die Pfarrerschaft seiner Diözese. Die Synode war vor allem ein Austausch innerhalb der Pfarrerschaft und mit dem Generalvikariat über die Gemeindearbeit. Sie mündete in insgesamt 59 Resolutionen zur Gestaltung des Gottesdienstes, Spendung der Sakramente, religiösen Belehrung und andere Seelsorgemethoden. Die Synode starrte nicht wie das verschreckte Kaninchen auf die nationalsozialistische Schlange, sondern ging phantasiereich und dialogisch der Frage nach der Renovierung ihres Kirchenraumes an. Es war voreilig, dass der evangelische Landeskirchentag sich 1935 im Zuge der Anpassung an das Führerprinzip selber aufgelöst hatte.

Was von den Diözesanempfehlungen in den Gemeinden, auch in Braunschweig umgesetzt worden ist, kann ich aus den mir vorliegenden Quellen nicht ermitteln.

 

Die anhaltende Auseinandersetzung mit der Deutschen Glaubensbewegung veranlasste Bischof Machens zu einer grundsätzlichen Stellungnahme bei einer Predigt in Duderstadt.[13] Er wiederholte eingangs die Zusammengehörigkeit von Staat und Kirche. „Sie sollen Schulter an Schulter zueinander stehen und miteinander arbeiten“. „Sollten wir nicht in diesen Tagen so ganz von Herzen beten können: Herr, gib uns doch den Frieden in unseren Tagen, damit kein Unheil komme über Kirche und Staat?“ Danach stellte Machens überraschend die Frage: „Wie stehen wir zu den Konfessionen?“ Machens stellte die Frage der Sakramente, der Firmung, der letzten Ölung, der Kommunion und der Gegenwart Christi im Sakrament völlig in den Hintergrund.  „Wir streiten uns überhaupt nicht. Wir haben größere Sorgen und Aufgaben Wir gehen auf weiten Strecken Hand in Hand  im Kampf gegen den Unglauben. Neue Konfessionen versuchten mit neuen Bekenntnissen das deutsche Volk „mehr als in der Reformationszeit“ zu zerklüften.

Dann kam der Bischof auf die Deutschen Christen und die Deutsche Glaubensbewegung als Auseinandersetzung um Glaube und Unglaube, auch auf die Sittlichkeitsprozesse zu sprechen, die er als Propaganda der Zeitungen abtat. Man darf solche Äußerungen nicht auf die theologische Goldwaage legen, sie sind aus einer bedrängten Situation entstanden und haben nach 1945 zu dem Gerücht geführt, dass sich katholische und evangelische Christen in der Not der damaligen Zeit zusammengefunden hätten. Dafür gibt es auch in Braunschweig für das Ende der Nazizeit tatsächlich einzelne Beispiele. Aber diesen Äußerungen fehlte die theologische Fundierung, und deshalb öffneten sie auch keinen theologischen Dialog.

 

 Zustimmung zum außenpolitischen Kurs Hitlers

Die Diözesansynode war ein Beispiel einer keineswegs gleichgeschalteten Institution im „Dritten Reich“ und doch zugleich ein funktionierendes Organ mitten im nationalsozialistischen Niedersachsen. Denn die katholische Kirche hatte sich in dem inzwischen stabilisierten nationalsozialistischen System eingerichtet und immer wieder ihre grundsätzliche Zustimmung erneuert. „Treu zu Staat und Führer“, und zwar „aus heiligster Gewissensüberzeugung“ lautete die Mahnung im Hirtenbrief anlässlich des 100. Geburtstages von Pius X., und „wir stehen treu und fest zur Kirche und zum Papst“.[14] Ein möglicherweise ungeliebtes Zeichen der Staatsloyalität war das Beflaggen von kirchlichen Gebäuden. Dazu stellte der Minister für die kirchlichen Angelegenheiten Kerrl im Januar 1937 fest, die Kirchen würden durch das Hissen der Fahne keineswegs politisiert, sondern sie bekenne sich damit als Teil der deutschen Volksgemeinschaft und zu der den Kirchen durch Römer 13 gebotenen Bejahung des Staates.[15]

 

Die grundsätzliche Bejahung des nationalsozialistischen Staates als ein von Gott gegebenem Staat war der stabile Rahmen, innerhalb dessen die katholische Kirche immer wieder ihre Wünsche vortrug, gegen Behinderungen protestierte und die Einlösung von Möglichkeiten im Konkordat einforderte, so Kardinal Faulhaber in einer Grundsatzpredigt 1935, in der er die Freiheit der Kirche als Freiheit des Gottesdienstes, der Lehre, der Verteidigung, des Gewissens und der Bekenntnisschule beschrieb und forderte.[16] Diese Einstellung entsprach dem der kirchlichen Mitte in der Landeskirche.

 

Die Zustimmung zum autoritären Staatsgefüge äußerte sich in der ungeteilten Zustimmung des Bistums zur Außenpolitik Hitlers von Anfang an. Zur Saarabstimmung im Januar 1935 verordnete die Paderborner Kirchenprovinz, zu dem das Bistum Hildesheim gehörte, nach dem allgemeinen Gebet drei Vaterunser und Ave Maria, „um einen für unser deutsches Volk segensreichen Ausgang  des Saarabstimmung zu erflehen“.[17]  Die zu dreiviertel katholische  Saarbevölkerung stimmte für einen Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland. Das konnte der katholische Gottesdienstbesucher als eine Erhörung seines Gebetes verstehen. Gott hatte demnach diesen außenpolitischen Schritt Hitlers gesegnet. Als nach der Abstimmung Zweifel an der Treue der Katholiken zum System geäußert wurden, reagierte das Katholische Kirchenblatt wütend: Die Katholiken an der Saar hätten „als wahre Führer des Volkes unentwegt tapfer und uneigennützig alle Widerstände niedergerungen“.[18] Als der Anschluss am 1. März 1935 vollzogen wurde, ordnete das Hildesheimer Generalvikariat ein einstündiges Kirchengeläut zur Mittagszeit an.[19]

Im selben Jahr wurde die Allgemeine Wehrpflicht und im nächsten Jahr katholische Militärseelsorger am Standort Hannover eingeführt. Bischof Machens bestätigte in seiner Predigt anlässlich der Einführung von Militärpfarrer Albert die Systemtreue der Kirche. Zwischen Kirche, Wehrmacht und Vaterland bestünden keine Gegensätze. Wie zur musikalischen Bestätigung schmetterte ein Musikkorps während der Messe bei der Wandlung Fanfarenklänge zur Begrüßung des eucharistischen Königs.[20] In Braunschweig behielt Dechant Stolte die Militärseelsorge in seiner Hand und zwar so einfühlsam, dass ihm die Braunschweiger Garnisonkapelle zum Priesterjubiläum 1940 ein Ständchen brachte. Zurückhaltend reagierte das Bistum auf die „Abstimmung“ im März 1936, und verzichtete, anders als Bischof Johnsen, auf ein Aufruf zur Zustimmung der Kirchenmitglieder. Als aber Hitler im März 1938 in Österreich einmarschierte, gab es auch in der katholischen Kirche wie in der evangelischen kein Halten mehr in Solidaritätsbekundungen. „Ein Deutschland ohne Österreich ist nicht mehr Deutschland“ zitierte das Katholische Kirchenblatt den Freiherrn v. Ketteler. „Dem Führer, der das große Reich Deutschlands schuf, geben wir in christlicher Treue zu Volk und Vaterland am 10. April freudig unser Ja“. [21]An diesem Tag hatte Hitler die Bevölkerung wieder zu einer „Abstimmung“ aufgerufen. Damit verbanden sich wieder Hoffnungen auf ein „christliches Deutschland“. „Ein neues Großdeutschland wird erstehen in der modernen Wiedererweckung des alten heiligen Reiches“, kommentierte das Kirchenblatt unter der Überschrift „Die Heimkehr des Bruderstammes“.[22]

Ein halbes Jahr später marschierten deutsche Truppen dem Münchner Abkommen gemäß in die deutschüberwiegenden vier Zonen des Sudetenlandes der Tschecheslowakei ein. Kardinal Bertram schärfte jenen Sudeten, die nun zu seiner schlesischen Diözese gehörten, den fälligen, aus Römer 13,1 begründeten Gehorsam gegen die neue Staatsführung ein. „Das ist der Adel des christlichen Gehorsams, Gehorsam gegen die weltliche Obrigkeit in allen Dingen, die ihres Amtes sind,“ Gehorsam um des Gewissens und um Gottes Willen. Dazu veröffentlichte das Katholische Kirchenblatt fett gedruckt den Dank von Kardinal Bertram an Adolf Hitler. „Die Großtat der Sicherung des Völkerfriedens gibt dem deutschen Episkopat  Anlass, Glückwünsche und Dank namens der Diözesanen alle Diözesen Deutschlands ehrerbietigst auszusprechen und feierliches Glockengeläut am Sonntag anzuordnen.“ Die drei Braunschweiger Kirchen werden sich dem Geläut, soweit sie eines hatten, ebenso wenig entzogen haben wie die evangelischen Stadtkirchen. Das war dann das ganz große „ökumenische“ Stadtgeläut. Diese umfassende Zustimmung zum außenpolitischen Kurs der nationalsozialistischen Regierung beider Kirchen mündete schließlich in die Zustimmung zum Krieg gegen Polen in beiden Kirchen

Vorher jedoch feierte Großdeutschland den 50. Geburtstag ihres Führers, auch beide Kirchen.

Das Hildesheimer Generalvikariat ordnete an, dass am Vorabend, dem 19. April, in drei Pulsen die Glocken läuten sollten, am 20. April „zeigen alle Kirchen und kirchliche Gebäude sowie die Wohnungen der Geistlichen die Nationalflagge“ und am gleichen Tage soll „zur Erflehung von Gottes Segen für Volk und Führer ein Votivamt zur Ehre des hl. Michael gehalten werden. Am Schluss solle das allgemeine Gebete für Kirche, Volk und Vaterland gesprochen werden.“ [23] Die Gottesdienstbesuchern sollten spüren, dass die katholische Kirche nicht außerhalb der damaligen allgemeinen Hitlerzustimmung stand, sondern sich darin geistlich einordnete.

 

Kirchliche Gebäude

Diese grundsätzliche Zustimmung wirkte sich nach innen nicht ungünstig aus. Sie ermöglichte es dem Bistum, im bescheidenen Maße Kirchen zu bauen. Das Katholische Kirchenblatt berichtete von der Einweihung der Kirche in Burgdorf 1935,[24] der St. Bernwardkirche in Lehrte und die Kirche in Bad Münder 1936[25]  und der Mathildenkirche in Laatzen 1938.[26] Insgesamt wurden seit 1933 nach Auskunft des Generalvikariats 11 Kirchen, dazu eine Kapelle gebaut.[27] Auch in Braunschweig wurde gebaut. An die Josephkirche wurde 1935 ein einstöckiges Jugendheim errichtet, der für die Gruppenarbeit der Vereine gedacht war. Die Laurentiuskirche erhielt 1936/37 ein Pfarrhaus, an das dringend benötigte Jugendheim angebaut wurde. Die Kirche ging also nicht in den Untergrund, sie baute in der nationalsozialistischen Zeit, was sie in der Weimarer Zeit nicht bauen konnte.

 

Steigende Taufzahlen

Eine andere Aufwärtsentwicklung zur Zeit des Nationalsozialismus wird an den Taufzahlen in den Braunschweiger katholischen Kirchengemeinden anschaulich.

 

Geburten und Taufen im Braunschweiger katholischen Kirchen 1929-1938

Jahr

Geburten

Taufen

 

Beide kath.

einer kath

led

Summe

beide kath

Einer kath

led

Summe

1929

76

41

53

170

49

52*

39

140

1932

72

76

38

186

55

51

37

142

1934

81

100

31

212

79

63

24

166

1935

77

116

38

231

75

74

19

168

1936

100

122

63

285

90

58

35

183

1937

131

110

31

272

129

77

16

222

1938

172

81

41

294

152

70

26

248

Quelle: Tabellarische Angaben der Kirchengemeinden

Bistumsarchiv Hildesheim; *Taufen von auswärts oder nachgeholt

 

Die Anzahl der Taufhandlungen nahm enorm zu. In den letzten zehn Jahren, von 1929-1938, verdoppelte sich die Zahl von 140 Taufen auf 248 Taufen. Zu gleicher Zeit stieg in etwa auch die Zahl der Geburten von 170 auf 294 Geburten. Im Vergleich wurde die Taufe in den Familien, in der beide Ehepartner katholisch waren, zur nationalsozialistischen Zeit häufiger begehrt als noch 1929 und 1932.  Wer katholisch war, ließ seine Kinder in der Regel auch taufen. Die kirchliche Taufsitte verdichtete sich gegenüber der Zeit vor 1933. Bezeichnenderweise ließen konfessionsverschiedene Ehepaare 1935, 1936, 1937 ihre Kinder seltener katholisch taufen. Auffallend ist aber die geringer werdende Differenz im Jahr 1938. Diese Entwicklung ist bisher weder dargestellt noch interpretiert worden. In der evangelischen Stadtgemeinden fand eine ganz ähnliche Entwicklung statt.

 

Natürlich hatte von den drei Stadtgemeinden die Nikolaigemeinde den größten Anteil an Taufen.

Die Taufen stiegen dort in zehn Jahren um das Dreifache an, von 42 Taufen im Jahre 1928 kontinuierlich auf 146 Täuflinge im Jahre 1938 und 171 im Jahr 1939. Dechant und Kapläne hatten erheblich mehr zu tun. Die Anzahl der Taufen aus katholischen Familien mit beiden katholischen Ehepartnern stieg außerordentlich stark an: von 22 (1928) auf 44 (1935), 90 (1938) und 121 im Jahr 1939. Das konnte eine innergemeindliche Stärkung bedeuten.

Auch in den beiden kleineren Stadtgemeinden stieg die Zahl der Taufen, in der St.Josephgemeinde von 14 (1932) und 23 (1935) auf 48 (1939), in der St. Laurentiusgemeinde bei den „rein katholischen“ Ehepaaren von 18 (1933) und 21 (1936) auf 47 im Jahr 1938.[28]

Im Blick auf die Taufhandlungen kann man beim besten Willen nicht feststellen, dass die Kirche sich im Untergrund bewegte. Die Taufgottesdienste waren öffentlich und Reformbestrebungen an der Taufhandlung, wie sie die Diözesansynode aufgezeigt hatte, durchaus möglich.

 

Vermehrte kirchliche Trauungen

Eine ähnliche Entwicklung ist bei den kirchlichen Trauungen zu beobachten.

 

Eheschließungen und Trauugen in braunschweiger katholischen Kirchen

Eheschließung

Kirchliche Trauungen

Jahr

beide kath.

einer kath.

Summe

beide kath.

einer kath.

Summe

1931

23

138

161

23

28

51

1932

13

138

151

13

46

50

1933

30

102

132

27

44

71

1934

29

142

171

30

51

81

Summe

95

520

615

93

169

262

1935

48

105

153

37

48

85

1936

39

184

223

42

48

90

1937

41

190

231

39

34

73

1938

66

233

299

64

51

115

Summe

194

711

905

182

181

363

Quelle: Statistik der Kirchengemeinden

Bistumsarchiv Hildesheim

 

Der nationalsozialistische Staat förderte die Eheschließung junger Leute. Die standesamtlichen Eheschließungen nahmen von 161 (1931) auf 299 (1938) zu. Davon verdreifachten sich die Eheschließungen bei denen beide Partner katholisch waren, von 23 (1931) auf 66 (1938). Entsprechend stiegen die kirchlichen Trauungen, denn wer katholisch war, heiratete traditionell mit kirchlichem Segen. Sehr problematisch dagegen war das Verhältnis von standesamtlichen Eheschließungen und kirchlichen Trauungen bei konfessionsverschiedenen Ehen. Diese Ehepaare gingen in der Regel nicht in die katholische Kirche. Ob sie überwiegend eine evangelische Kirche aufsuchten, erscheint mir fraglich. Vermutlich verzichteten sie auf eine kirchliche Trauung. Das ist ein Zeichen für die wachsende Säkularisierung.

Wie bei den Taufen suchte man zur Trauung die schmucke Nikolaikirche auf. Die Anzahl der Trauungen in der Nikolaikirche stieg von 43 (1928) und 60 (1935) und 77 (1938) auf 112 (1939) kirchliche Trauungen.

 

Trotz Kirchenaustritten wachsende Mitgliederzahlen

Wie in der evangelischen Kirche gab es auch in der katholischen Kirche eine Art Austrittsbewegung. Das war für die katholische Kirche eine neue Erscheinung im kirchlichen Leben.

Die im Leben der Nikolaigemeinde sprunghaft angestiegene ungewöhnlich hohe Austrittszahl von 9 (1934) auf 94 Gemeindemitgliedern im Jahr 1935 verdreifachte sich 1937 auf 239 und 1938 auf 293. Die Austrittsziffer blieb auch im nächsten Jahr hoch. Sie war eine Folge der nationalsozialistische Agitation. Eine ganz ähnliche Entwicklung fand in den evangelischen Stadtkirchen statt.

Kirchenzugehörigkeit, die 1933/34 keineswegs schädlich war, erwies sich nun nicht mehr als modisch.

Für die Austritte im der katholischen Kirche wäre zu bedenken, ob nicht die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ im März 1937 zum Austritt mit veranlaßt hatte. Die Enzyklika machte deutlich, dass Katholizismus und Nationalsozialismus kaum miteinander vereinbar sei, weil der letztere die Kirche „vernichten“ wolle. Das können überzeugte nationalsozialistische katholische Parteigenossen zum Austritt veranlasst haben. Diese Zusammenhänge sind noch nicht erforscht.

Die Austritte bewirkten eine atmosphärische Störung, die sich in der Erinnerung der Zeitgenossen festsetzte.

 

Übertritte Austritte Mitgliederbestand St. Nikolai

Jahr

Übertritte

Rücktritte

Austritte

Mitglieder

1934

16

4

9

4792

1935

6

2

94

4811

1936

10

2

86

4900

1937

6

2

239

4973

 1938

4

2

293

4997

1939

15

2

251

5213

Quelle: Bistumsarchiv Hildesheim  Ortsakte Nikolai Nr.34

 

Aber die Austritte gefährdeten nicht den volkskirchlichen Bestand der Kirchengemeinde und dürfen daher nicht dramatisiert werden. Denn trotz der Austritte blieb der Mitgliederbestand z.B. in der Nikolaigemeinde erhalten. Er erreichte 1939 mit 5.213 Mitgliedern fast den Stand von 1932 mit 5.362 Gemeindemitgliedern. Das lag an der erheblichen Zunahme der Bevölkerung. Braunschweig war Rüstungsstandort geworden und bot viele Arbeitsplätze. So erklärt sich die erstaunliche Zunahme der katholischen Kirchenmitglieder von 1933 bis 1939 um das Doppelte, von 7.650 auf 15.281 Kirchenmitglieder.[29] Diese Zunahme verteilte sich unterschiedlich auf die Stadtgebiete und die drei Gemeinden. Der Zuzug von katholischen Gemeindemitgliedern in die Stadt glich die Austrittsziffern wieder aus, zumal die Austritte gegenüber den Zuzugszahlen sehr viel geringer waren. Ein weiterer Grund könnte die wachsende Zahl der Taufziffern gewesen sein.

 

Visitation in St. Nikolai

Zahlen aus der Kasualstatistik wirken kalt und geben wenig von der Stimmung der damaligen Zeit wieder. Im Jahr 1937 sollte eine Visitation der Nikolagemeinde stattfinden, für die Dechant Stolte den üblichen Visitationsfragebogen ausfüllte. Aus ihm erfahren wir, dass es in der Nikolaigemeinde um diese Zeit mehrere aktive Vereine gab: den Arbeiterverein St. Nikolai, der sich monatlich traf, den katholischen Frauenbund, den Borromäusverein, den Bonifatiusverein mit 130 Mitgliedern, den Franz Xaver Missionsverein mit 25 Mitgliedern, und ein Mütterverein sei im Aufbau. Unter diesen Vereinen war der Katholische Deutsche Frauenbund der aktivste. Er ist mit der Arbeit der Frauenhilfe auf evangelischer Seite durchaus vergleichbar. Dem Jahresbericht 1936 ist zu entnehmen, dass er sich zu biblischer Besinnung, Vortragsabenden und Ausflügen in die Umgebung traf. Er hatte 203 Mitglieder und 17 Neuzugänge.[30] Tatsächlich war die Jugendarbeit wie auch in der evangelischen Kirche, auf den kirchlichen Binnenraum eingeschränkt, aber man traf sich in Gruppen. In der Gemeinde lasen 380 Mitglieder das Katholische Kirchenblatt, es wurden 300 Exemplare „Caritasruf“ und 200 Exemplare des Blattes „Hoffnung“ bestellt. Das war im Verhältnis zur völlig verbotenen Parteipresse eine beachtliche Nische innerhalb der arischen Braunschweiger Volksgemeinschaft.

 

Visitation in St Joseph

Pastor Wilhelm Gnegel, der mit 41 Jahren 1934 von einem Pastorat in Göttingen nach Braunschweig gekommen war, [31] berichtete im selben Jahr aus der St. Josephgemeinde: es werden sonntags zwei Gottesdienste und am Nachmittag eine Andacht gehalten. Am Vormittagsgottesdienst nahmen durchschnittlich 320 Männer teil, am Nachmittag 100-150 Erwachsene, davon 20 Kinder. An der Osterkommunion beteiligten 2.835 Gemeindemitglieder. Alle vier Wochen beichteten die Schulkinder und hielten gemeinsam Kommunion. Von den zahlreichen Vereinen war der Frauen- und Mütterverein mit 320 Mitglieder der größte. Zum „Männerapostolat“ gehörten 80 und zur katholischen Aktion 16 Männer. Zum Borromäusverein hielten sich 76, zum Bonifatiusverein 38, zum Franz Xaverius 42 Gemeindemitglieder. Der Katechismusunterricht werde zweistündig von einer beauftragten Lehrperson gehalten. Ein viertel Jahr dauerten jeweils der Beichtunterricht und der Kommunionunterricht. Vor der Entlassung aus der katholischen Schule finde ein vierteljähriger Entlassungsunterricht statt, der die Schülerinnen und Schüler auf das Leben vorbereiten solle. Der Schulabschluss werde mit einer „erhebenden Entlassungsfeier“ begangen.

200 Gemeindemitglieder lasen das Katholische Kirchenblatt. Die Jugendarbeit war zusammengeschrumpft. Es sammelten sich zu Gruppenabenden etwa 16 jüngere und 8 ältere Jungen.

Es bestünden in der Gemeinde 350 ungültige Ehen und 469 gemischte Ehen, die vom Mütterverein besucht werden. Durchaus vergleichbar verlief die Visitation der Laurentiusgemeinde.[32] Die Visitationsberichte vermitteln den Eindruck, dass der katholische Kosmos nach fünf Jahren Nationalsozialismus intakt war.

 

Religionsunterricht in den Schulen und Schuldirektor Thomas Stuke

Auf die Frage, was geschieht zur Pflege des Kirchengesangs, antwortete der Dechant auf dem Visitationsbogen: „Übungen in der Schule durch die Lehrer“. Den Religionsunterricht habe früher der Pfarrer erteilt, jetzt werde er durch Lehrer erteilt und zwar 4 Stunden wöchentlich. Das passt wenig zum Bild, dass alle katholischen Schulen gleichgeschaltet und aufgelöst worden seien.[33] Nach fünf Jahren Nationalsozialismus jedenfalls nicht.

Richtungsweisend war ein Aufsatz von Jesuitenpater Joseph Schrötel „Religionsunterricht und Volksgemeinschaft“ im Katholischen Kirchenblatt. Im Mittelpunkt des Christentums stehe „der herrische Mensch“, und zwar in Form der Tugenden der Tapferkeit, Klugheit, Mäßigung und Gerechtigkeit. Die Bekenntnisschule wolle dieses herrische Ideal in die Herzen der Jugend pflanzen. als Grundlage „ zu dem allseits heroisch geformten Menschen, wie ihn unsere Zeit so dringend notwendig hat. [34]

Der Minister für die kirchlichen Angelegenheiten hatte für den Religionsunterricht  die Einführung des Hitlergrusses erlassen, den die Schüler mit ausgestrecktem Arm zu vollziehen hatten. Der Unterricht begann demnach folgendermaßen: „Lehrer: Heil Hitler; Schüler: Heil Hitler. Schüler: Gelobt sei Jesus Christus. Lehrer: In Ewigkeit.“ [35] Strukturell ist das Nebeneinander von kirchlichem und parteilichen Gruß ein bezeichnender Hinweis auf das kirchenpolitische Nebeneinander von katholischer Kirche und nationalsozialistischem Staat. Die Benennung eines Dritten, der gar nicht am Unterricht teilnahm, hatte etwas Groteskes, aber die Gewöhnung formte die Groteske zur Alltäglichkeit. Das war im Konfirmandenunterricht der evangelischen Stadtkirchen ebenso. Lehrer Heinrich Picker, der seit 1935 Organist an der St. Josephkirche war, berichtet, dass im Anschluss an den rituellähnlichen Wortwechsel noch wie bisher ein Gebet angefügt wurde.[36]

Die Tatsache, dass die katholischen Schulen in Braunschweig 1933 - 1941 nicht geschlossen wurden wie in anderen Orten der Diözese, war ein Verdienst von Stadtschuldirektor Thomas Stuke.[37] Er kannte die Stadt und die schulischen Verhältnisse seit 1922. Er war der prägende, bestimmende Kirchenmann auch während der nationalsozialistischen Zeit. Heinrich Picker erwähnt in seiner Abhandlung keine einschneidenden Maßnahmen gegen die katholischen Schulen in der Stadt Braunschweig. 1940 ging Stuke mit 65 Jahren und Erreichung der Altersgrenze in den Ruhestand.

 

Großereignisse in den Gemeinden

In allen drei Gemeinden wurde mit großem Aufwand im Mai 1935 eine Volksmissionswoche gehalten, die nach innen die Mitglieder erneut aktivieren und nach außen den Platz im öffentlichen Raum behaupten wollte.[38] Es war die erste seit 1919. Der Woche gingen mehrtägigen Exerzitien voraus, die in St. Joseph vom Jesuitenpater Vincenz, Köln und vom holländischen Pater Brockmüller geleitet wurden. Während der Missionswoche selber wurden die bestehenden Gruppen in einem breiten Gottesdienstangebot erneut auf Evangelium und Kirche verpflichtet. Pastor Gnegel nannte für die St. Josephgemeinde in der Kirchenchronik folgende Besucherzahlen. In der Frauenwoche fanden in der St. Josephkirche um 6.30 Uhr (150 Besucher), 8.30 Uhr (200), 15.00  Uhr (180) und 20.00 Uhr (300 Besucher) gut besuchte Gottesdienste statt.  In der Männerwoche waren die Gottesdienste um 5.15 von 8o Teilnehmern, 6.30 Uhr von 100  und um 20 Uhr von 350 Männern besucht. Zur Kinderkommunion kamen 791 Kinder, zur Kommunion der Männer 603 und zu der der Frauen 2.354 Frauen.[39] Kaplan Neisen berichtete von der Nikolaigemeinde: „Wie ergreifend das Treueversprechen der Frauen und Mädel, wie wichtig das Glaubensbekenntnis der Männer und Jugend, wie erhebend die Gemeinschaftskommunion der Frauenwelt, wie mustergültig der Kommunionsappell der Braunschweiger Männer, wie eindrucksvoll die Sakraments- und Marienfeier.“[40] 

Mit der Volksmissionswoche war eine öffentliche Straßensammlung der Caritas verbunden. 375 Sammlerinnen und Sammler schwärmten in der Stadt aus und sprachen die Bevölkerung nicht nur auf eine Spende an, sondern machten darauf aufmerksam, dass es in der Stadt auch katholische Kirchen gebe.[41]

Im nächsten Jahr wurde als ein weiterer Höhepunkt die Erhebung der Nikolaikirche zu einer offiziellen Propstei- und Dekanatskirche gefeiert. Diese Berufung war bisher vom Staat verweigert worden, und Dechant Stolte trug die Bezeichnung Propst als persönlichen Titel aber nicht als offiziösen. Das änderte sich im Frühjahr 1936 und bedeutete eine innerkirchliche Stärkung der Position von Dechant Stolte. Bischof Machens kam zu diesem Anlass in die Gemeinde, predigte in Hochamt am Vormittag und hielt sich den ganzen Tag in der Gemeinde auf. Am Nachmittag gestaltete die katholischen Jugend eine „Jugendfeierstunde“, in der Prof. Algermisssen predigte und „der Jugendchor in markigem Ton das Gebet für Volk und Vaterland vortrug“. [42] 

 

Ein weiterer Anlass zur Sammlung der Gemeinde war im April 1937 die Konsekration der St. Josephskirche durch Bischof Machens. Nach ihrer Erbauung war sie 1903 wegen Erkrankung des Bischofs erst benediziert worden. Zu diesem feierlichen Anlass nahm Pastor Gnegel eine gründliche Renovierung des Chorraumes vor. „Der niederdrückende blaue Sternenhimmel verschwand“, und durch den hellen Anstrich rückte der Altar mehr in die Mitte. Für das Kriegerdenkmal wurde eine neue Nische geschaffen. In einer anderen Nische wurde eine „Kapelle der Mutter von der immerwährenden Hilfe“ eingerichtet, „ein Anziehungspunkt für die Gläubigen“, so Pastor Gnegel. Das waren Eingriffe in den Innenraum, an den sich die Gemeinde gewöhnt hatte. Am Konsekrationstag entfaltete der Bischof die ganze Fülle der Liturgie. In einer mehrstündigern Zeremonie am Morgen wurde die Kirche von außen und innen besprengt, gesalbt und beräuchert. Zum Gottesdienst wurden die Reliquien feierlich vom Jugendheim in die Kirche getragen die 12 Apostelkreuze gesalbt, die Anfangsbuchstaben des lateinischen und griechischen Alphabets eingetragen. Der Bischof hatte junge Leute aus dem Priesterseminar mitgebracht, die das Gefolge vervollständigten. Domkapitular Schneider hielt die Levitenmesse und dann Bischof Machens die Festpredigt. Den Abschluss bildete am Abend eine Männerkundgebung, an der 1000 Männer teilnahmen und eine kräftige Verpflichtung auf die Kirche aussprachen. „Wir widersagen“ – „Wir sind bereit“, „wir wollen es“ -  so schallte es durch den Raum. „Wahrlich, es gibt noch gläubige katholische Männer, noch betende Männer – auch in Braunschweig“, resumierte das Katholische Kirchenblatt.[43]



 



[1]  BAH Priesterkartei: Otto Seelmeyer (1877-1942) Priesterweihe 1899, Studium in Münster und Rom, Hausgeistlicher beim Grafen v. Bernstorff, Kaplan in Hildesheim, Rom und Duderstadt, 1907 Domlektor, 1925 Generalvikariatsrat, 1929 Generalvikar und Domkapitular, 1935 verhaftet, gefoltert und zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt, 1937 vorzeitig entlassen, nicht wieder in den Dienst zurückgekehrt, 1942 in Hildesheim verstorben.

[2] Wilhelm Offenstein (1889-1964) Mitglied der Zentrumsfraktion in Reichstag. Seit 1936 Generalvikar.

[3] Josef Nowak „Der Devisenprozess Dr. Seelmeyer – Ein Generalvikar ging unschuldig ins Zuchthaus“ in Engfer Dokumentation 597 ff. Die Nowak vorliegende Quellenlage ist sehr schmal und Nowaks Bericht als Zeitzeuge und Beteiligter einseitig. Nach den handschriftlichen Notizen von Seelmeyer auf einem Buchdeckel war Seelmeyer 14.-16.3.1935 im Gefängnis Hildesheim, 16.-18.3.1935 im Gefängnis Hannover, 18.3.-9.4. im Gefängnis Dortmund, 9.4.-20.10. im Gefängnis Moabit, Berlin, 20.10.-8.3.1936 im Gefängnis Plötzensee, Berlin, 11.5.1936-14.7.1937 im Zuchthaus Brandenburg-Görden. Katholische Kirchenzeitung 15.1.1982 „Die sieben Stationen des Dr. Seelmeyer“ von Josef Nowak. Es fällt mir auf, dass die Diözesansynode 1937 keine Solidaritätsadresse an Seelmeyer geschickt hat. Die schnelle Neubesetzung des Generalvikarsposten wird Seelmeyer getroffen haben. Ungeklärt ist auch das Verhältnis von Bischof Machens zu Seelmeyer in der Zeit 1935-1942.

[4] Engfer Dokumentation 477

[5] Thomas Scharf-Wrede Weg durch wechselvolle Zeiten. Zur Geschichte der katholischen Kirche in Braunschweig von der Reformation bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahrbuch für Geschichte und Kunst im Bistum Hildesheim 75./76. Jahrgang 2007/2008. S 349-373; S. 372;

[6] Kernfragen zeitnaher Seelsorge Pastoral-Referat der Hildesheimer Diözesansynode nebst Protokoll und Synodaldekreten herausgegeben vom bischöflichen Generalvikariat Hildesheim  Hannover1937. Die Synode fand am 26.-28. Januar in Hildesheim statt. Auch Egfer Dokumentation 325 f

[7] Synodenprotokoll 11

[8] Synodenprotokoll 14-40

[9] Synodenprotokoll 69

[10] Synodenprotokoll 192

[11] Synodenprotokoll 250

[12] Synodenprotokoll 193

[13] Die Wiedergabe des Predigt von Bischof Machens am 30. Mai 1937 ist mir freundlicherweise von Frau Vogt überlassen worden. Von Frau Vogt ist in absehbarer Zeit eine Biografie über Bischof Godehard Machens zu erwarten.

[14] Katholisches Kirchenblatt 8.9.1935 „Stehet fest im Glauben. Hirtenbrief an die deutschen Katholiken“

[15] Katholisches Kirchenblatt 17.1.1937

[16] Katholisches Kirchenblatt 24.2.1935

[17] Katholisches Kirchenblatt 6.1.1935

[18] Katholisches Kirchenblatt 27.1.1935 „Die Treue der Saar-Katholiken“. Die Auseinandersetzung wurde in der Nummer des Kirchenblattes vom 3.2.1935 fortgesetzt mit der Titelüberschrift „Vatikan, Bischöfe und Saarabstimmung“. 

[19] Katholisches Kirchenblatt 3.3.1935

[20] Katholisches Kirchenblatt 26.3.1936

[21] Katholisches Kirchenblatt 3.4.1938

[22] Katholisches Kirchenblatt 10.4.1938

[23] Kirchl. Anzeiger 1939 S. 22

[24] Katholisches Kirchenblatt 7.4.1935. Die Kirche hatte 180 Sitz- und 100 Stehplätze.

[25] Katholisches Kirchenblatt 17.5.1936

[26] Katholisches Kirchenblatt 13.3.1938

[27] Antwort des Generalvikariats auf eine Anfrage des Ministerium für die kirchlichen Angelegenheiten vom 9.1.1941 in: Generalia 1254 Diözesanarchiv Hildesheim.

[28] Die Taufen  in der Laurentiusgemeinde weisen eine Besonderheit in den Jahren 1928-1932 auf. Dort übersteigen die Taufen der Kinder von ledigen Müttern die Taufen von „rein“ katholischen Ehepaaren erheblich. Ich nenne erst die Zahl der Kinder von ledigen Mütter, dann die Zahl von Kinder aus „rein“ katholischen Ehen: 1928: 22:14; 1929: 31:15; 1930: 27:13; 1931: 25:20; 1932: 28:25. Dieses Verhältnis ändert sich ab 1933. 1933: 17:18; 1934: 17:32; 1935: 13:23; 1936: 21:21; 1937: 11:31; 1938: 15:47. Die Zahl der Kinder aus „rein katholischen“ Ehen übersteigt die von Kindern lediger Mütter um ein weites. Die Laurentiusgemeinde galt als Gemeinde von ärmeren Gemeindemitgliedern. In den Tauziffern waren zeitweise auch die Taufen aus dem Landeskrankenhaus enthalten. Möglicherweise fanden diese nach 1934 nicht mehr statt. Wo sind die Taufen von polnischen Müttern verzeichnet?

[29] nach der Volkszählung 1933 und 1939 in Braunschweig in der Statistik Neue Folge 1966 S. 32

[30] Man kann schlecht sagen, dass alle Vereinsarbeit zerschlagen worden sei  ebd

[31] Wilhelm Gnegel (1893-1968) Priesterweihe 1921, seit 1928 Pastor an der Michaeliskirche in Göttingen, 1931 in Großilsede und 1934-1938 in St. Joseph. Seit 1938 in Salzgitter, wo er 1943  von der Gestapo verhaftet, ins KZ Dachau verbracht wurde und erst im März 1945 entlassen wurde. 1949 wurde er Dechant in Detfurth und ging 1967 in den Ruhestand und starb ein Jahr später.

[32] BAH Ortsakte Laurentius Nr. 23 Visitationsbericht 1937 Der Frauen- und Mütterkreis betrug für diese verhältnismäßig kleine Gemeinde immerhin 150 Frauen, das Männerapostolat 50 Mitglieder, das Kirchenblatt wurde von 135 Personen bezogen, der Bonifatiusverein zählte 70 Mitglieder und die Herz Jesu Bruderschaft 58.

[33] ebd

[34] Katholisches Kirchenblatt 19.3.1936

[35] Katholisches Kirchenblatt Nr. 16 3.9.1933 berichtete von der Einführung des Hitlergrusses im Religionsunterricht in den badischen Schulen.

[36] Heinrich Picker  „250 Jahre Katholische Schule in Braunschweig“ Braunschweig1964 S.26 „Musste z.B.  der Unterricht mit dem sog. Deutschen Gruß beginnen und schließen, so erfolgte doch in unserer Schule sofort anschließend das gewohnte Schulgebet“.

[37] Thomas Stuke geb. 1875 wirkte als Rektor 1912-1922 an der katholischen Schule in Harburg. Nach Heinrich Picker Anmerkung 18 S. 25 f  Thomas Stuke ist der Vater des späteren Braunschweiger  Dechanten Johannes Stuke.

[38] Katholisches Kirchenblatt 5.5.1935 „Unsere große Volksmission“

[39] Kirchenchronik St. Joseph S. 275

[40] Katholisches Kirchenblatt 2.6.1935

[41] Ein flotter Bericht von Kaplan Neisen Katholisches Kirchenblatt 19.5.1935

[42] Katholisches Kirchenblatt 5.4.1936 „Ein Festtag in Braunschweig“ und 12.4.1936 „Ein Bischofsbesuch in Braunschweig“

[43] Katholisches Kirchenblatt 18.4.1937 „Ein Festtag für Braunschweig. Der Bischof konsekriert die St. Josephkirche. 25.4. 1937 „Konsekration in Braunschweig“ mit Fotos.



Zum Kapitel 21: Die Kirchenmusik an den Braunschweiger Kirchen im „Dritten Reich“




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Impressum und Datenschutzerklärung Stand: Dezember 2013, dk