Der Zivilisationsbruch am schwarzen Freitag und Donnerstag 1938
Die Massenflucht 1933-1938
Im Jahr 1933 gab es in der Stadt Braunschweig nach der
Volkszählung 682 Juden mit deutscher Staatsbürgerschaft. Seither waren viele
aus der Stadt ausgewandert. Es emigrierten ins Ausland 1933 65 jüdische
Braunschweiger, 1934: 43 Braunschweiger, 1935: 50 Braunschweiger, 1936 54
Braunschweiger 1937 30 Braunschweiger, insgesamt: 242 Braunschweiger aller
Altersgruppen.[1]
Viele Geschäftsleute hatten auf öffentlichen Druck durch ständige Belästigung
und Boykott und auf Druck der NSDAP ihre Geschäfte aufgegeben. Das
traditionsreiche Textilkaufhaus Hamburger und Littauer Kohlmarkt 3-4 wurde nun
vom arischen Braunschweiger Rossbach und Rosse „übernommen“, die Tuchhandlung
Gustav Mangold vom arischen Heinz Flebbe, das Herrenkonfektionsgeschäft
Schröder vom arischen Heinz Cloppenburg, das Fotoatelier Spiegel, dass vom
Ehepaar Rosenstein geführt wurde, wurde von Frau Jütte übernommen. Den Wechsel
des Besitzers nannte man „arisieren“, weil die neuen Ladenbesitzer
Braunschweiger ohne jüdische Vorfahren waren. Es bürgerte sich die groteske
Redensart ein, die Geschäfte seien in „christliche Hände“ übergegangen, sie
hätten sozusagen Füße bekommen und hätten, ohne den Warenbestand zu ändern,
sich zu neuen Besitzern begeben. Der Ware sah man nicht an, ob sie arisch oder
christlich waren. Es war eine vulgäre Sprachschöpfung, die aber Mode wurde und
sogar weit nach 1945 in Gebrauch war. Es war die Sprache des alltäglichen Verbrechens.
Vom 12. Februar 1938 bis zum 20. März 1938 erschien in der
BTZ eine Artikelserie von Karlwalther Rohmann „700 Jahre Juden in Braunschweig“[2],
die hetzerische, antisemitische Vorurteile gegen die Braunschweiger Juden
verbreitete. Braunschweig sei eine Keimzelle des „Vernichtungskampfes des
Weltjudentums“. Daher gehörten Juden nicht in das von Juden bedrohte
Braunschweig. Viele ließen sich durch die Taufe äußerlich christianisieren in
der Absicht, mehr Bürgerrechte zu erhalten. „Wir alle wissen, dass wir – leider
– nach wie vor Juden unter uns haben und dass ihnen kein Haar gekrümmt
wird..doch hat die Beschäftigung mit diesem Problem nichts mit
Pogromvorbereitung zu tun, ebenso wenig wie dies Ziel und Zweck der
Aufsatzserie ist. Wir Braunschweiger insbesondere sind bewundernswert geduldig
gewesen zu allen Zeiten, obwohl man uns eine Unsumme von Falschheit, Betrug und
Verbrechen jeder Art von jüdischer Seite beschert hat. Wir haben mancherlei
erduldet – aber wenig gelernt; nun ist es an der Zeit, dass wir aus dem
Erduldeten für die Zukunft lernen.“ Mit diesem Schmutzartikel lieferte der
Braunschweiger Rohmann die Begründung (Betrug und Verbrechen) für die
endgültige Beseitigung der Braunschweiger Juden, er schilderte die Methode der
Beseitigung (Pogrom) und rief die Braunschweiger „zum Lernen“ auf.
Am 28. März 1938 verloren die jüdischen Gemeinden den
Rechtsstatus einer Körperschaft öffentlichen Rechts und wurden auf Vereinsbasis
gestellt. Das hatte verheerende fínanzielle Folgen. Am 26. April wurden die Juden
gesetzlich verpflichtet, ihr Vermögen anzumelden, eine Zumutung.
Die Auswirkung dieser Maßnahmen auf die Mitgliederzahl der
jüdischen Gemeinde ist noch nicht veröffentlicht, aber es war ein Signal, dass
der Rabbiner Eugen Gärtner mit seiner Frau, Sohn und Tochter am 13. April 1938
in die USA ausreiste, der seit acht Jahren an der Braunschweiger Synagoge
gewirkt hatte. Am 29.12.1937 hatte in der Synagoge noch eine Veranstaltung
stattgefunden, auf der Dr. B. Schönfeld aus Berlin über „Die Rechtsidee im
Judentum“ sprach und Max Mansfeld und Manfred Segall religiöse Lieder
vorgetragen hatten.[3]
Der letzte jüdische Kantor der Gemeinde Alfred Herz hatte bereits 1934
Braunschweig verlassen und war über Bocholt in das Mandatsgebiet Palästina
ausgewandert.
Der schwarze Freitag, der 28. Oktober 1938 [4]
Im Oktober 1938 war Großdeutschland und sein Braunschweig
wieder im Vollrausch der Begeisterung. Beim Münchner Treffen Ende September
zwischen der italienischen (Mussolini), britischen (Chamberlain), französischen
(Daladier) und deutschen Regierung hatte Hitler zähneknirschend auf den
vorbereiteten militärischen Einfall in die Tschecheslowakei und einen
triumphalen Einzug in Prag verzichten müssen und sich mit der Abtretung des
Sudentenlandes an das großdeutsche Reich zufrieden gegeben. Hitler war tief
enttäuscht, aber die Goebbelspropaganda lieferte den ganzen Monat über
Schlagzeilen von der Friedensliebe Hitlers und der Begeisterung der
Sudetendeutschen, die von der Regionalpresse aufgegriffen wurden. „Jubelnder
Empfang des Führers in Berlin. Der Führer im Egerland. Grenzenloser Jubel“[5],
„Der Führer im glücklichen Karlsbad“ [6],
„Überwältigende Friedenskundgebung in Jägerndorf mit Adolf Hitler und Hermann
Göring“[7].
„Während von den Türmen der Dorfkirchen Glockengeläut die Erlösung verkündet,
finden die Bevölkerung und deutsche Truppen in ergreifenden nächtlichen
Befreiungskundgebungen zusammen“,[8]
„Jubel um den Führer im Böhmerwald.“ [9]
Die Jubelstimmung wurde von religiösen Redensarten und antisemitischen
Ausbrüchen begleitet. „Wir wollen in dieser Stunde dem Allmächtigen danken ,
dass er uns auf dem Wege in der Vergangenheit gesegnet hat und ihn bitten, dass
er auch in Zukunft unseren Weg zum Guten geleiten möge“, beschloss Hitler seine
Rede in Eger, [10].
Die Braunschweiger Tageszeitung kommentierte die Ereignisse unter der
Überschrift „Friede Freiheit Brot“, dass Hitler verhindert habe, dass
„jüdisch-bolschewistische Kreise Europa ins Chaos stürzen wollten, „auf deren
Trümmern sie die jüdisch-bolschewistische Weltherrschaft aufzurichten
beabsichtigten.“[11]
Schon am 21. Oktober 1938 gab Hitler den Befehl zur „Erledigung der
Rest-Tschechei“, also zum Bruch des vor drei Wochen geschlossenen Münchner
Abkommens. Hitler wollte den Krieg und reagierte seine Kriegsabsichten nun im
Inneren ab.
Am 27. Oktober 1938 erhielten Zehntausend staatenlose
Deutsche, darunter zahlreiche Braunschweiger Juden per Post die Aufforderung,
die Stadt bis zum nächsten Tag zu verlassen. Es bestand also keine Möglichkeit,
Hausrat und Besitz zu verteilen oder zu veräußern, sondern sie sollten sich
fluchtartig aus der Heimatstadt in eine ungewisse Zukunft begeben. Von dieser
rücksichtslosen Aufforderung waren nach der Aufstellung von Ingeborg Cuda und
Ilse Erdmann in der Stadt Braunschweig 71 namentlich genannte Personen
betroffen[12],
die meist zu Anfang des Jahrhunderts aus Galizien, Russisch-Polen, nach
Braunschweig gekommen waren, hier Beschäftigung gefunden und teilweise
kinderreiche Familien gegründet hatten. Sie wurden „Ostjuden“ genannt, eine herabsetzende
Bezeichnung, der die Entsprechung „Westjuden“ fehlte. Sie war auch
unzutreffend, weil die zahlreichen Kinder zwischen 10 und 30 Jahren in
Braunschweig geboren, hier zur Schule gegangen waren, eine Ausbildung begonnen
hatten und sich nicht als „Ostjuden“, sondern eher als Braunschweiger fühlen
konnten. Ihnen war außer ihrer Herkunft gemeinsam, dass sie und ihre Eltern
keine deutsche Staatsangehörigkeit besaßen. Soweit sie eine erhalten hatten,
war ihnen diese bereits 1933 wieder entzogen worden. Sie waren Staatenlose. Nun
wurde ihnen auch die Aufenthaltserlaubnis in Deutschland entzogen, nachdem die
polnische Regierung erklärt hatte, dass sie in Zukunft keine staatenlose, in
Deutschland lebende frühere Polen aufnehmen werde. Daraufhin war die Massenausweisung
erfolgt. Die polnische Beschlussfassung war ein Vorwand, denn
Übergangsregelungen waren immer möglich, damals jedoch nicht erwünscht. Den
Ausgewiesenen, die eine eigene Wohnung in Braunschweig besaßen, blieb die
Hoffnung, dass sie nach einer Frist wieder zurückkehren und in Ruhe die Wohnung
würden auflösen können. Wer zur Miete wohnte, und das waren die meisten, musste
sich mit seinem Vermieter einigen, ob er die Wohnung eine Zeit lang unbesetzt
ließ, damit die Wohnungsauflösung zivilisiert durchgeführt werden konnte. Wer
über Bargeld verfügte, musste sich überlegen, ob er eine höhere Summe mit über
die Grenze nehmen wollte, um sich bei der polnischen Regierung durch einen
Betrag für ansiedlungsfähig auszuweisen. Er riskierte allerdings, dass die
Polizei ihm das Geld an der Grenze abnahm. Es war sehr viel zu bedenken und
sehr viel mehr als eine Trennung von einer Wohnung.
Schon am nächsten Tag, am Freitag dem 28. Oktober früh,
wurden die benachrichtigten staatenlose Braunschweiger aus ihren Wohnungen
abgeholt und mit ihrem Handgepäck auf Lastwagen ins Gefängnis Wolfenbüttel
gefahren, wo insgesamt 74 jüdische Braunschweiger registriert wurden: 39 Frauen
und Mädchen, 35 Männer und Schüler.[13]
Darunter waren eine Mutter mit ihrem einjährigen Kind, Jugendliche
bis 15 Jahren, die Älteste, Jahrgang 1877 war 61 Jahre alt. Noch am selben Tag
wurden sie von der Polizei aus dem Gefängnis wieder abgeholt und vom
Braunschweiger Bahnhof an die polnische Grenze nach Neu Bentschen verbracht, wo
sie am selben Tag abends noch ankamen.[14]
Sie verließen Geschäfte in attraktiver Geschäftslage: der 46
Jahre alte Jacob Reiter eine Lederwarenhandlung am Altstadtmarkt 2, der 48
jährige Benno Fränkel ein Schuhgeschäft auf der Höhe 27, Simon Rechtschaffen
das Manufakturgeschäft daneben auf der Höhe 29, Frau Marga Steinhardt-Lewkowicz
ein Wollgeschäft in der Südstraße 10. Sie „hinterließen“ begehrten Wohnlagen
unter anderen: Bohlweg 58 und 61; Wilhelmstr.11, Casparistr. 6; Museumsstr. 5;
Breitestr.9, Wilhelmitor 11; Wendenstr.2. In einige dieser insgesamt 22 „frei
gewordenen“ Wohnungen rückten bald wohnungssuchende arische Braunschweiger ein.
So wurden die Wohnungen „entjudet“ und von ordentlichen, arischen
Braunschweigern besetzt.
Der damals 18 Jährige Manfred Frenkel berichtete im hohen
Alter von der Abschiebung der Familie: Sein Vater Benno Frenkel führte ein
Schuhwarengeschäft auf der Höhe 27.„Am 27. Oktober 1938 kam meine Mutter
mittags zu mir in die Firma Unger und holte mich ab. Ich ging mit ihr zu meinem
Vater. Wir hatten von der Gestapo einen Brief bekommen, als polnische Bürger in
24 Stunden Braunschweig zu verlassen. (Wir durften nur Handgepäck mitnehmen)
Wir waren polnische Bürger und Juden. Mein Vater hat sofort sein Geschäft
geschlossen, und wir sind nach Hause gegangen. Um 7:30 Uhr klingelte die
Gestapo an unserer Tür und vor der Tür stand ein Lastauto, schon mit
verschiedenen jüdischen Familien. Sie befahlen uns, sofort mitzukommen. Wir
haben nur das Nötigste für die Nacht mitnehmen dürfen und sind auf das Lastauto
zu den andern Familien gekommen. Wir wurden nach Wolfenbüttel, 12 km von
Braunschweig in das Zuchthaus (schweres Gefängnis) gebracht. Im Zuchthaus
blieben wir bis zum Mittag des 28. Oktober, dann wurden wir zurück mit
Lastwagen und vielen anderen jüdischen Familien nach Braunschweig zum
Hauptbahnhof gebracht und in einen Zug gesetzt. Niemand wusste wohin.“[15]
Der 21 jährige Bernhard-Salomon Jelinowitz gehörten der
jüdischen Jugendgruppe des Reichverbandes deutscher Frontkämpfer an und hatte
im April 1933 mit anderen eine Tagung des Verbandes in der Gaststätte
„Handelshof“ besucht, war von der SS auf der Straße überfallen, in das
Volksfreundehaus verschleppt und dort schwer misshandelt worden. Danach war er
in das Gebäude der AOK, den anderen kz-ähnlichen Aufenthaltsort in Braunschweig
verbracht. Im Juli 1933 war dieselbe Gruppe im Zuge der Racheakte für den Tod
des SS Mannes Landmann erneut ins Volksfreundehaus verschleppt und furchtbar
misshandelt worden. An den Verletzungen starb ein Mitglied, andere wurden für
einige Tage noch ins Gefängnis Rennelberg verbracht und zwei verließen
Braunschweig und emigrierten nach Südafrika. Er verfasste darüber einen
Bericht.[16]
Bernhard-Salomon Jelinowitz wurde an diesem 28. Oktober 1938 mit seiner
Schwester, seinem Bruder und seinen Eltern verhaftet und abgeschoben. Er konnte
sich in Polen einen amerikanischen Pass besorgen und mit seinem 19 jährigen
Bruder Chaim Harry noch 1939 in die USA ausreisen. Auch der 23 jährige Moritz
Sandler gehörte zur jüdischen Jugendgruppe. Seine Eltern Heinrich und Rosa
Sandler, die in der Petristr. 23 einen Haushaltswarengeschäft führten, sein 17
jähriger Bruder Rolf, der 15 jährige Manfred, der elfjährige Heinz, der
achtjährige Siegbert und der fünfjährige Berthold wurden abgeholt und in Auschwitz
ermordet bis auf Manfred, der 1945 22 jährig das KZ überlebte und 1949 in die
USA auswanderte.
Die Braunschweiger Familie Mayer Roth unterhielt in der
Scharrnstraße ein Lebensmittelgeschäft für koschere Waren. Vor 1914 waren sie
aus Galizien in die Stadt gekommen Ihr ältester Sohn Sohn Kuno wurde 1914 in
Braunschweig geboren. Die 22 jährige Tochter Maria konnte sich in Berlin
verstecken und von dort nach Palästina ausreisen. Der 17 jährige Sohn Hermann
konnte einen Monat vor der Abschiebung der Familie mit einem Kindertransport
nach England gelangen. Die Eltern, der Sohn Kuno, die Tochter Jeanette, 15
Jahre alt und der 19 jährige Karl kamen nach ihrer Abschiebung aus Braunschweig
von Bentschen in das Ghetto von Krakau. Dort kam die Mutter bei der Liquidierung
des Ghettos ums Leben, der Sohn Karl wurde bei diesem Anlass erschossen, der
Vater weiter deportiert. Der Älteste, Kuno, kam ins Krakauer Zuchthaus, wurde
dort aber 1945 befreit und emigrierte wie die Jüngste in die USA. Er verfasste
1956 einen Bericht über die Verhaftung am 28. Oktober 1938 und von der Ankunft
in Bentschen: „In Frankfurt a/.O. mussten wir aus dem Zug steigen und mit
vorgehaltenem Revolver nahmen die Gestapobeamten unsere letzt verbliebenen
Wertgegenstände (Bargeld und Schmuck) ab. Vom Bahnhof in Frankfurt a/o. wurden
wir in Omnibussen durch dichten Wald gefahren. Es war finster und kalt.
Plötzlich hielten die Autos mitten im Walde und alle verhafteten Juden mussten
aussteigen. Ich konnte nicht viel sehen, da die Gestapo nur einige
Taschenlampen hatten. Ich wurde mit den anderen verhafteten Juden vorwärts
gestoßen und hörte nur die Befehl: „Vorwärts“ mit der Warnung: „Wer such
umdreht wird an Ort und Stelle erschossen. Niemand wusste, wo wir waren, denn
überall war Sumpf. Am Ende waren wir in der Kavallerie Kaserne in Bentschen
untergebracht, die Pferdeställe füllten sich wie Bienenhaufen, da die Gestapo
Judentransporte aus allen Teilen Deutschlands zusammenstellte. Wir konnten die
Kaserne unter Todesstrafe nicht verlassen und waren für Tage ohne jegliche
Verpflegung .Nach einigen Tagen wurden private jüdische
Wohlfahrtsorganisationen beauftragt, uns zu verpflegen.“ [17]
Es gab unter den Abgeschobenen auch religionsverschiedene
Eheleute. Leo Perel war mit einer Christin verheiratet und betrieb in der
Stecherstr. 11 ein Schuhwarengeschäft. Die Eheleute und ihr Sohn wurden
verhaftet und abtransportiert. Mutter und Sohn konnten nach Braunschweig
zurückkehren, der 14 jährige Sohn Arno emigrierte noch im selben Jahr 1939 in
die USA. Auch Chaim Kanowski war mit einer Christin verheiratet. Der Vater und
die zehnjährige Tochter wurden abgeschoben; der Vater starb 49 jährig in
Bialystok, die Tochter Elfriede verschwand in einem Waisenhaus, 1957 erhielt
die in Braunschweig verbliebene Mutter einen Brief von ihr aus Sibirien. Sie
war mit einem russischen Offizier verheiratet.
Auch Benno Frenkel konnte mit seiner Tochter Lotte, dem
Bericht des Sohnes zu folge, nach Braunschweig zurückfahren, fand Haus und
Geschäft offenbar unberührt vor, und konnte das Mobiliar noch nach Lodz
schicken, wohin auch er zurückkehrte. Von dort kam die Familie nach Auschwitz,
wo die Mutter umkam, der 54 jährige Vater und die Söhne Manfred 24 Jahre und
Semi 18 Jahre wurden zur Zwangarbeit wieder nach Braunschweig verbracht. Dies
ist ein Ausnahmebiografie
Die Zukunft der meisten weiteren Abgeschobenen endete im
Konzentrationslager Auschwitz.. Von vielen ist das Todesdatum nicht bekannt. In
den Akten heißt es: „Für tot erklärt am 8. 5. 1945“, dem endgültigen
Befreiungsdatum für viele Verschleppte und Gefangene.
Diese Zerstreuung und Zerstörung und schließlich Ermordung
von Familien nahm seinen Ausgang am Donnerstag, dem 28. Oktober 1938 in
Braunschweig. Hatte es jemals in der Stadtgeschichte Braunschweig gegeben, das
eine derart hohe Zahl seiner Bürger an einem Tag aus der Stadt ohne Grund und
ohne Rechtsbescheid vertrieben worden sind? Die Täter, die diese Familien,
verhafteten, abholten, einsammelten und nach Wolfenbüttel und zum Bahnhof
brachten, sind unbekannt.
Es war ein Bruch im zivilen Umgang innerhalb der
Braunschweiger Einwohnerschaft. Diese Braunschweiger hatten sich eingelebt,
hatten keinen Schaden angerichtet, im Gegenteil, sie hatten Steuern bezahlt,
Kinder gezeugt, die Braunschweiger Schulen besucht hatten. Es gab nur einen
einzigen Grund für ihre Vertreibung: sie passten nicht in das unmoralische
arische Rassenschema. Das bedeutete zugleich eine peinliche Stigmatisierung der
zurückbleibenden Braunschweiger, die offenbar in dieses Rassenschema passten.
Sie sammelten sich am Samstag, dem 29. Oktober, auf dem Burgplatz zur
Eröffnung einer „Woche der SA“. „Ewig lebt die SA“ kommentierte die
Tageszeitung.[18]
Die Vorgänge vom 27./28. Oktober1938 sind ein
Zivilisationsbruch in der Stadt, der jedoch unbemerkt und daher in der
Stadtgeschichte unbeschrieben blieb. Das hatte folgende Gründe: Ende Oktober
berauschte sich noch das arische deutsche Volk mit seinem Führer an dem
Landgewinn des Sudetenlandes, das beim Münchner Abkommen im September 1938 von
den Westmächten Hitler zugestanden worden war. Hitler gelang außenpolitisch
alles: im Frühjahr der Zugewinn von Österrreich, in Herbst das Sudentenland,
derlei bildete wochenlang die Überschriften in der Regionalpresse. Die
Massenausweisung war kein öffentliches Thema und der Presse keine Zeile wert.
Außerdem waren die Dauer und das Ausmaß der Abschiebung in dem polizeilichen
Bescheid offen gelassen. Letztlich wurde der Zivilisationsbruch des 28. Oktober
überboten durch den vom 9./10. November 1938 und geriet in dessen Schatten.
Der schwarze Donnerstag, der 10. November 1938 [19]
Am 8. November 1938 erschien in der BTZ ein Kommentar, der
den Mord an dem deutschen Legationsrat v. Rath in Paris durch einen jungen
Juden seltsamer Weise im Botschaftsgebäude zum Anlass nahm, die folgende
Pogromnacht sprachlich vorwegzunehmen. Mit der Überschrift „Die
Judenschaft ist schuld“ sollte das Interesse von der Einzelperson auf alle
Juden gelenkt werden. Der erste Satz „Das Maß ist jetzt voll“ sollte die
Bereitschaft in der Bevölkerung wecken, Rache zu nehmen. „Die unterirdische
Tätigkeit des Weltjudentums ist eine einzige Kette von Verbrechen“. Frankreich
sei ein Zentrum des „jüdischen Weltverschwörungsgesindels“, das „niedrige
Haßinstinkte“ gegen das deutsche Volk wecke. Verbrecher würden in Zukunft als
Verbrecher behandelt, es sei Zeit, „den jüdischen Schmarotzern auf deutschem
Boden“ eine Lektion zu erteilen. Der Artikel, vermutlich aus der Feder von
Goebbels, war das Signal, alle noch möglichen Hemmungen gegen die Juden fallen
zu lassen. Zu diesem Kommentar trat verschärfend hinzu, dass die
Nachmittagsnachrichten des nächsten Tages, des 9. November, im Radio den Tod
des deutschen Legationsrates meldeten. In dieser bereits erheblich aufgeheizten
Stimmung trafen sich am 9. November abends in der monströsen Weihestätte am SA
Feld beim Nussberg die Parteiformationen zum inzwischen Tradition gewordenen
nazistischen Heldengedenktag, zum Gedenken an den 8. November 1923 und die
Toten des Hitlerputsches.[20]
Fackeln, Einmarsch der Sturmfahnen der Bewegung, SA Chöre, Fanfaren, Trommeln,
Scheinwerfer schufen eine düstere Stimmung. Der SA-Dichter Lägel hatte die
Regie. Einer sagte ein Gedicht auf: „Der Himmel blau und die Erde braun/ Eure
Gräber und Kränze die mahnen/ und wieder vom Turm/ ruft die Glocke Sturm/ Nun
tragen wir ihre Fahnen.“[21]
Die sechszehn 1923 erschossenen Parteileute Hitlers wurden namentlich
aufgerufen, eine Fahne und eine Fackel traten nach vorne, das Horst Wessel Lied
wurde leise als Hintergrundmusik gespielt und „verkündete den Geist mit dem sie
in die deutsche Ewigkeit marschierten...Die Zwiesprache mit den Toten hat neue
Kraft und neue Härte geschenkt“.[22]
Die Feier verband Sentimentalität, Kitsch, Pathos, dem man sich gedankenlos
hingeben konnte und die eine Sucht nach mehr speicherte. Es ist mir
zweifelhaft, ob sich die Braunschweiger und mit ihnen die arischen Deutschen in
Großdeutschland von diesem Kitsch von alleine gelöst hätten. Nach der Feier
hieß es: „noch zusammenbleiben“. Traditionell wurde noch eine süffige Nachfeier
in Parteilokalen veranstaltet. Aber nicht alle waren am Nussberg. Im Kino lief
an diesem Abend bereits in der 6. Woche der Film „Heimat“ mit Zara Leander, und
im Kino in der Werdenstrasse „Flitterwochen“ mit Any Ondra und Heinz Söhnker,
damaligen Lieblingsstars. Angekündigt wurde die beste deutsche Tänzerin La Jana
im „Hofjäger. Im Staatstheater gab es ab 18 Uhr Wagners „Götterdämmerung“.
Andere gingen in die Bibelstunden der Stadtkirchengemeinden, oder in das
Evangelische Vereinshaus, wo ein Missionsarzt einen Lichtbildervortrag über
seine Erlebnisse am Kilimandscharo berichtete.
In dieser, so der Wetterbericht, „kühlen, freundlichen“
Nacht wurde eine im ganzen Reich generalstabsmäßig geplante Mord- und
Brandaktion gegen die deutschen Juden durchgeführt, auch im Braunschweiger
Land, und in der Stadt Braunschweig. Die Synagogen in Wolfenbüttel und Seesen
wurden in Schutt und Asche gelegt, die Synagogen in Stadtoldendorf. Holzminden,
Goslar zerstört.[23]
Der Gruppenführer der SS Friedrich Jeckeln und Chef des Landespolizeiamtes
Braunschweig habe, so berichtete der Stabsführer Francis Müller nach dem
Kriege, ihn aus München angerufen, und ihm befohlen, die Juden zu verhaften und
die Synagoge anzustecken. Bei einem zweiten Telephongespräch habe Jeckeln zu
Müller gesagt: „Na, brennt denn die Synagoge?“ Als Müller dies verneinte, sei
er von Jeckeln für abgesetzt erklärt worden.[24]
Es gibt noch eine andere Version vom unmittelbaren Untergebenen Paul Szustak,
der von einem Gespräch mit Jeckeln am Vortag des Pogroms berichtet. Die
Widersprüche zu klären ist aber Aufgabe der Lokalhistoriker.
Die Pläne zur Sprengung für die Braunschweiger Synagoge
waren schon vorbereitet. Das Sprengkommando kam zuvor noch mit dem Nachbarn der
Synagoge am 9. November ins Gespräch, der vor möglichen Schäden auf dem
Nachbargrundstück warnte. Die Warnung war vergeblich, es gingen von der
Detonation auch im Nachbarhaus 46 Fensterscheiben zu Bruch.[25]
Mit der Zerstörung der Synagogen im ganze Reich und auch in Braunschweig hatte
die „Entjudung des Deutschen Reiches“ eine neue Dimension erreicht. An der
jüdischen Religion war dem Nationalsozialismus eigentlich nicht gelegen. Nach
der abstrusen Rassentheorie sollte die jüdische Rasse vernichtet werden. Die
Synagogen hingegen waren ein Abbild der jüdischen Religion. Dem bisherigen
Wirtschaftsboykott und Wirtschaftskrieg wurde nun als neue Dimension der
Glaubenskrieg hinzugefügt. Das hätte die Kirchen herausfordern müssen.
Die Rollkommandos zertrümmerten die an dem Davidsstern
leicht erkenntlichen, noch vorhandenen jüdischen Geschäfte und hatten außerdem
Listen mit den Adressen von wenigstens 149 Braunschweigern erhalten, die sie
verhaften sollten.[26]
Diesmal aber war mehr geplant. Es sollten auch die Wohnungen vollständig
zerstört werden. Davon gibt es inzwischen zahlreiche Berichte.
In der Steinstraße bewirtschafteten die drei Geschwister
Baron im ersten Stock das einzige jüdische Restaurant mit einem Angebot von
koscheren Gerichten. In einem großen Saal hielten jüdische Vereine ihre
Versammlungen ab. Eine Nachbarin berichtete: „Unsere Familie schlief bereits,
als wir durch Lärm und Schreie in der Nacht geweckt wurden. Vom Fenster aus
sahen wir, dass die gesamte Zimmerfront des Speiserestaurants der Familie Baron
sowie die Küchenräume und Schlafräume erleuchtet waren. Eine Reihe von SS-
Leuten war damit beschäftigt, das Mobiliar zu zerschlagen. Ab und zu fielen
Schüsse. Als wir in unserm Schlafraum das elektrische Licht einschalteten,
wurde herübergerufen, das Licht sofort abzuschalten, da man sonst herüberschießen
würde.“ Es wurden sämtliche Glas- und Porzellansachen zerschlagen, die Betten
aufgeschnitten, Silber- und Schmuckgegenstände gestohlen.[27]
Das Restaurant wurde total demoliert, und Amalie Baron musste ins Krankenhaus
geschafft werden, wo ihr später der rechte Arm amputiert wurde.
„Unsere Wohnung wurde total demoliert“, schrieb Frau Grete
Katzenstein 1963 aus New York, die in der Ferdinandstraße 7 gewohnt hatte. Ihr
58 jähriger Mann, Dr. Alfred Katzenstein, wurde noch in der
Wohnung verprügelt, ins Gefängnis Wolfenbüttel eingeliefert
und von dort ins Konzentrationslager Buchenwald transportiert. [28]
Die Wohnung Lützowstr. 3 wurde um 4.00 morgens aufgebrochen
und der Kaufmann Gustav Forstenzer und die beiden 17 jährigen Söhne verhaftet.
Bald danach kam ein neues Kommando und hauste wie die Vandalen in der Wohnung.
Frau Käte Ralfs berichtete: „Sie haben unter anderem fast sämtliche elektrische
Birnen im Hause zertrümmert, die wertvollen Polstermöbel zerschnitten, die
Holzmöbel aus edlen Hölzern zerschlagen und fast die gesamte Einrichtung und
vor allem die gesamte Aussteuer an teurem Porzellan und Gläsern nebst Kristall
und Spiegeln zertrümmert, die guten Originalgemälde wurden zerschnitten. In den
wertvollen Flügel wurde eine Schreibmaschine geschmettert, sodass der Flügel
völlig demoliert wurde“. Danach kam ein erneute Kommando und wütete bis sechs
Uhr früh in der Wohnung [29]
Am Bohlweg 2 lag ein Uhr- und Goldwarengeschäft, das die 41
jährige Frau Bertha Macholl betrieb und das gerade vom Arier Bungenstock
übernommen werden sollte.[30]
Aber in dieser Nacht wurde das Geschäft, Schaukästen und Außenuhr zertrümmert,
und die unfeine Braunschweiger Volksgemeinschaft konnte sich bedienen.
Das Textilgeschäft des 25 jährigen Albert Kohn, das er mit
seiner Mutter im Meinhardshof 3 führte, wurde völlig zerstört. Albert Kohn
emigrierte nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager Buchenwald mit
seiner Mutter im März 1939 in das Mandatsgebiet Palästina, wohin sein Vater mit
seinen beiden elfjährigen Brüdern schon 1933 geflüchtet war.
In der Wachholtzstr. 1 erlebte der 34 jährige Rudolf
Reinert, der mit seinem Vater im ersten Stock wohnte, was im zweiten Stock, wo
der Rechtsanwalt Leo Tannchen mit seiner Frau und zwei 21 und 23 Jahren alten
Söhnen wohnte, in dieser Nacht passierte. „In der fraglichen Nacht wurde ich
durch Lärm über uns wach. Ich kleidete mich an und war im Begriff, der Ursache
des Getöses, das inzwischen verstummt war, nachzugehen. In diesem Augenblick
klingelte es bereits an unserer Tür, und Frau Tannchen stand mit verweintem
Gesicht vor mir und bat mich, mit nach oben zu kommen, um ihre zerstörte
Wohnung anzusehen. Es hatte sich folgendes abgespielt: Ein Haufen SA oder SS
hatte sich mit Gewalt durch Aufbrechen unserer Haustür Eingang verschafft und sich
sogleich zur Wohnung des Rechtsanwaltes Tannchen begeben. Als Frau Tannchen
öffnete, drang der Haufen sofort in die Wohnung mit der Frage: „Wo ist dein
Mann, du Judenhexe?“ Rechtsanwalt Tannchen wurde festgenommen und in ein unten
stehendes Auto geschleppt, in dem sich schon andere festgenommene Juden
befanden. Dann hatte die sinnlose, brutale Zerstörung der Wohnungseinrichtung
begonnen. Den Anblick, den diese Wohnung bot, werde ich nie vergessen. Ein
schweres Eichenbuffet war mit Haken von der Wand gerissen und lag schräg über
dem Esstisch. Das Geschirr war herausgefallen und die Scherben bedeckten
meterhoch den Teppich. Kostbare Gemälde waren kreuz und quer zerschnitten. Ein
wertvoller Bechsteinflügel war völlig zerstört. Die Saiten waren herausgerissen
und hingen am Flügel herunter. Die Federbetten im Schlafzimmer waren
aufgeschlitzt, und die Daunen bedeckten den Fußboden. Die Marmorplatten des
Waschtisches waren zerschlagen.
Die ganze Wohnung war ein Trümmerfeld, dazwischen die
weinende Frau, die nicht wusste, ob sie ihren Mann jemals wiedersehen würde.“[31]
Die Witwe des Arztes Dr. Voges erinnerte sich so: „Die
beiden jüdischen Familien wohnten in demselben Haus und eine von ihnen rief
nachts meinen Mann und dann kam er wieder und ich erinnere mich noch genau,
dass er leichenblass war und empört sagte, dass die SS dort eingedrungen wäre,
und einer achtzigjährigen Frau hätten sie mit Gewalt den Arm gebrochen, die
ganzen Betten aufgeschnitten und dem Sohn ein furchtbares Loch ín den Kopf
geschlagen, nicht tödlich, aber sehr schlimm. Und am nächsten Tag hat er
angerufen beim Polizeipräsidenten, den er gar nicht kannte, er wollte wissen,
ob das eine gelenkte Sache war oder nicht. Und da war am Telephon Dr. Grünkorn
als Vertreter des Polizeipräsidenten und sagte: „Herr Voges, seien Sie froh,
dass ich am Apparat bin , seien Sie ganz still, reden Sie nicht darüber.“ Da
wusste mein Mann, was los war.“ [32]
In der Adolfstraße 39 wurde die Wohnung vom Notar Dr. Otto
Lippmann verwüstet. Seine Frau bestellte einen Photografen, um die
Beschädigungen für die Versicherungsansprüche zu dokumentieren. Die Photografin
Lisel Häusler wurde zur Gestapo zitiert, wo ihr die Fotos abgenommen wurden.
Anschließend wurde sie verhaftet und ins Rennelberggefängnis verbracht.[33]
Der Arbeitskreis Andere Geschichte erhielt am 14.1.2003
folgenden Bericht von Rolf Magnus, der damals 17 Jahre alt war: „Am 9. November
wurden mein Vater und ich von der Gestapo nachts um 5 Uhr aus den Betten geholt
und verhaftet. Auch meine Mutter und Großmutter von 81 Jahren, die bei uns
wohnte, nahm man mit. Doch in der Gestapo angekommen, sandte man die beiden
Frauen wieder nach Hause, wo sie eine total vernichtete Wohnungseinrichtung
vorfanden. Auf der Straße, vor dem Haus wurden mein Vater und ich buchstäblich
zusammengehauen, man brach uns das Nasenbein. Mein Vater und ich brachten die
ersten Nacht im Rennelberg zu, die zweite im Zuchthaus Wolfenbüttel und wurden
dann in Viehwagen, ohne Platz sich auch nur bewegen zu können, im Stehen nach
Buchenwald abtransportiert.“ [34]
Der bei der Gestapo beschäftigte Beamte Hans Scharfe
berichtete nach dem Krieg schonend vom Abtransport aus eigener Erfahrung: „Bei
der Judenaktion im Jahre 1938 war ich insofern als Beamter abkommandiert, als
ich die in Braunschweig festgenommenen Juden, die auf der Stapo-Stelle
gesammelt und registriert worden waren, mit anderen Beamten nach Buchenwald
bringen musste. Es fuhr ein Transportzug von Hannover über Braunschweig und in
diesem Zug, der von Juden besetzt war, wurden auch die in Braunschweig
festgenommenen Juden transportiert. Ich meine, die Juden hatten Handgepäck mit
sich. Die Juden waren natürlich sehr bedrückt. Dass sie geschlagen worden
waren, habe ich nicht festgestellt. Dieser Transport war für mich ein
unangenehmer Auftrag. Ich hatte Mitgefühl, zumal unter den Juden ein Arzt war,
den ich kannte und der meine Schwiegermutter behandelt hatte. In Weimar auf dem
Bahnhof haben wir die Juden an ein Kommando von Buchenwald abgeliefert. Später
haben wir uns bei der Lagerverwaltung Buchenwald die Ablieferung der Juden
bescheinigen lassen. Ins Lager sind wir nicht gekommen, obwohl wir den Wunsch
hatten, das Lager zu besichtigen.“[35]
Diese Schreckensnacht hatte viele Beteiligte: Feuerwehr,
Polizei, Angehörige der SS und SA, Regierungsbürokratie. Neugierige konnten
sich an Ort und Stelle im Schutz des Morgengrauens aus den offen stehenden
Geschäften und auf der Straße liegenden Gegenständen bedienen. Dann kam eine
Anweisung, die Geschäfte durch SA Männer zu schließen und Plünderungen zu vermeiden.
Eine solche Anweisung war offenbar nötig. Am andern Tag habe die Innenstadt
Braunschweigs wie im Kriegszustand ausgesehen, bemerkte eine Frau, die aus Bad
Harzburg angereist kam. Die Parteizeitung meldete, dass die Schaufenster und
Auslagen von Geschäften Ecke Damm, Stobenstraße, Caparisstraße, Auf der Höhe,
Kohlmarkt, Meinhardshof, Schuhstraße zerstört worden seien. Die folgende
Meldung, dass Auslagen natürlich nicht angerührt worden seien, wollte die
nächtlichen Plünderungen überdecken. Am Vormittag des 10. November seien die
Vorgänge in der Nacht Stadtgespräch von erregten Gruppen auf der Straße
gewesen.[36]
Es gab sehr viel Beteiligte und Zeugen.
Der schwarze Donnertag bedeutete einen Zivilisationsbruch in
der Braunschweiger Bevölkerung.[37]
Alle üblichen zivilen Umgangsformen waren vergessen. So wie
im Krieg der Soldat nur Freund und Feind kennt, so wurde in der Pogromnacht
jener Teil der Braunschweiger als Feinde, als Unglück für die Stadt behandelt.
So hatte es Karl Walter Rohmann in seiner Artikelserie ausgeführt und so war
es in Schulen und Versammlungen seit Jahren öffentlich propagiert worden:
„Juden sind unser Unglück“. Zur Beglückung und Reinigung der arischen
Braunschweiger Volksgemeinschaft mussten sie also beseitigt werden.
Der Zivilisationsbruch in der Braunschweiger
Stadtbevölkerung kam zwar abrupt, war aber das Ergebnis einer jahrelangen
Vergiftung und Zersetzung durch den ihr schmeichelnden Rassegedanken, der sie
zu etwas Besserem und Höherem beförderte und sie berechtigte, zu ihrem eigenen
Schutz, aber auch zum Wohl und Heil der Stadt alles nicht Reinrassige
„auszumerzen“. Es war keine spontane Volkswut, sondern der sich im Recht
dünkende deutsche Hochmut, vereint mit Minderwertigkeitsgefühlen und Rachegier
für die von den Juden angeblich verschuldete Niederlage des Jahres 1918. Nicht
der 14./15. Oktober 1944 hat Braunschweigs Städtebild zerstört, sondern der
Zivilisationsbruch des November 1938. Die im Krieg in den Luftschutzbunkern
saßen, meinten gelegentlich, die Bomben fielen deshalb, weil „die Partei“ das
mit den Juden übertrieben hätte.[38]
Die Partei? Die Braunschweiger.
Die meisten am 10. November verhafteten Braunschweiger
wurden in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert und mit den Schrecken
der Volksgemeinschaft bekannt gemacht. Einige überlebten den Terror nicht,
andere wurden zu Krüppel geschlagen. Die bis zum Jahresende die Baracken des
Lagers wieder verlassen konnten, mussten versichern, das Land umgehend zu
verlassen.
So kam es unmittelbar nach der Pogromnacht zu einigen
Verkäufen. Der 63 jährige Samuel Vasen, der ein Bekleidungsgeschäft auf der
Höhe 32 führte, war mit seinem 34 jährigen Sohn Walter verhaftet und ins KZ
Buchenwald verbracht worden. Nach seiner Entlassung am 21. November verkaufte
er umgehend sein Geschäft an Hans Kuhlmann und Herrn Wruck. Seinem Sohn gelang
die Emigration nach Shanghai und später in die USA. Die Eheleute wurden 1942
„in den Osten“ transportiert. Arthur Macholl führte mit seiner Schwester Bertha
ein Gold- und Silberschmiedgeschäft auf dem Bohlweg 2. Der 42jährige Arthur
Macholl war gebürtiger Braunschweiger. Er wurde längere Zeit im KZ Buchenwald
festgesetzt. Sie verkauften das Geschäft und die Reste der zerstörten und
geplünderten Warenbestände an Hans Wilhelm Bungenstock. Beide verließen
Braunschweig, Arthur Macholl nach Shanghai, seine Schwester nach England.
Ephraim Ball und sein Schwager Nuchim Heiber führten die
„Texta Handelsgesellschaft“ in der Auguststraße. Beide wurden im KZ Buchenwald
einen Monat lang festgehalten. Das Geschäft wurde liquidiert und von Friedrich
Kortegast, Margarete Nick und Hermann Kremling „übernommen“. Die Ehefrau Gittel
Ball starb am 3. Mai 1939 in Braunschweig, ihr Mann Ephraim wanderte einen
Monat später mittellos nach London aus. Balls hatten sechs Kinder, drei Söhne
und drei Töchter, alle gebürtige Braunschweiger, die jüngste damals 20 jährige
Tochter Elfriede begleitete ihren Vater nach England, drei konnten schon in den
vorigen Jahren in das Mandatsgebiet Palästina emigrieren, der 23jährige Sohn Benno
war ebenfalls ins KZ Buchenwald verbracht worden, emigrierte nach England und
diente später in der britischen Armee. Der Geschäftskompagnon Nuchim Heider
wanderte mit seiner Frau, seinem Sohn Norbert und Tochter Ruth 1940 nach
Brasilien aus. Das Wort „Auswanderung“ gibt die beschämenden Umstände nicht
wieder, in denen die Braunschweiger Volksgemeinschaft ihre Bürger aus der Stadt
stieß.
Den zurückgelassenen Besitz listete die Behörde auf. Die
Liste enthält 35 laufende Nummern, nennt Eigentümer, Erwerber, den Wert und die
Adresse und die Vorgangsnummer des Braunschweiger Innenministeriums .[39]
Sie hat die amtlich befohlene Verbrennungsaktion vom Frühjahr 1945 überstanden.
Die Liste enthält folgende Namen als Erwerber: Adalbert Bremer, Kurt Rieke,
Eheleute Lippert, Gustav Fischer, Clopppenburg, Else Meyer, Wilhelm Reymann,
Carl Langerfeldt, Hermann Vick, Hermann Jacob, Willy Schmidt, Hugo Flebbe,
Richard Borek, Ludwig Zacharias, W. Carlson. Die Stadt Braunschweig hatte von
den Braunschweiger Juden Bremer, Lipmann, Schmandt und Grünewald die
Grundstücke Friedrich Wilhelmstr.4, Wilhelmitorwall 35, Am Kohlmarkt, Wabestr.
13 und Damm 1 im untergeschätzten Wert von fast einer halben Million RM
erworben; für den Bürgermeister von Cohn das Grundstück Wilhelm Bodestr. 10,
für den Finanzminister das Grundstück Am Theaterwall 16. Die Braunschweiger
Tageszeitung jener Tage legte Wert auf die Bemerkung, dass die Übernahme
jüdischer Betriebe durch arische Geschäftsleute nicht etwa mit einem normalen
Geschäftsübergang und Wechsel gleichzusetzen wäre.[40]
Dabei fiel in der Überschrift wieder die Vokabel des verbrecherischen Alltags
„Entjudung“. Tatsächlich ist der Zivilisationsbruch jener Tage eine
„Entdeutschung“. Lokal bezogen eine „Entbraunschweigerung“, also die
Vernichtung von Innenstadt vor dem 14. Oktober 1944.
Nach dem Kriege fanden zahlreiche
Wiedergutmachungsvereinbarungen und Wiedergutmachungsprozesse statt, die aber
den stattgefundenen Zivilisationsbruch nicht heilen konnten. Er war nur zu
ertragen, indem man ihn gezielt vergessen machen wollte. So verfasste
Karlwalter Rohmann, der Schreiber jener Artikelserie, mit der der Pogrom in
Braunschweig vorbereitet wurde, 1977 in zweiter Auflage einen Bildband
„Braunschweig – so wie es war“, in dem es nach der Schilderung der Inflationszeit
heißt: „Zehn, zwanzig und mehr Jahre gingen dahin, es änderte sich im Grunde
wenig an der Art zu leben...Und dann kam die Nacht des 15. Oktober 1944.“[41]
Dazwischen lagen die Nächte im Volksfreundehaus, die Nächte in der AOK und die
Nächte im Oktober und November 1938. Eine Erklärung für seinen Artikel vom
Februar/ März 1938 ist Karlwalter Rohmann seinen Braunschweigern schuldig
geblieben. Dieses Erinnerungsbuch war auch ganz im Sinne der damaligen
Erwerber, die 1963 nach 25 Jahren und 1988 nach 50 Jahren Geschäftsjubiläum so
taten, als ob sie völlig neu in Braunschweig angefangen hätten. So war in der
Braunschweiger Zeitung zu lesen: „Im März 1936 eröffnete der 21 Jahre alte
Heinz Cloppenburg sein erstes Geschäft in Braunschweig. Bis 1943 gründete er
vier weitere Häuser..Kaufmännisches Geschick paarte sich auch nach dem zweiten
Weltkrieg wieder mit der Pflege der Familientradition des Hauses.“[42]
Ähnliche Beispiele gibt es für die Firma Bungenstock.[43]
Das Vergessen der erfolgreichen geschäftlichen jüdischen Vorgänger war auch
ganz im Sinne der Braunschweiger Tageszeitung von 1938, die ausdrücklich und
weitsichtig dafür plädierte, bei künftigen Jubiläen stets die 30er Jahre als
Gründungsdatum anzugeben.[44]
Auch im Kriegszustand des November 1938
fehlte es nicht am feiernden Etappenbild. Die Braunschweiger Tageszeitung
meldete in der Wochenendausgabe auf Seite eins „Taufe in Karinhall“ Edda Göring
sei durch den Reichsbischof Müller getauft worden. „Die Eltern hatten die große
Freude, als Taufpaten den Führer und Reichskanzler bei sich zu sehen“.[45]
Wem die Meldung auf Seite eins unten in der rechten Ecke zu klein gedruckt war,
konnte sich von der Richtigkeit am Montag vergewissern. Auf der
Illustriertenseite „Buntes Weltgeschehen am Wochenende“ waren zwei Fotos von
den Feierlichkeiten der Taufe von Edda, der Tochter von Hermann Göring und
seiner Frau Emmy zu bewundern. Hitler beugt sich dem Täufling zu, und wer es
nicht glauben wollte, las: „Das Elternpaar mit dem Täufling und dem Führer, der
als Taufpate an der Feier teilnahm“. [46]Auf
einem zweiten Bild in groß: Hitler, Edda und Emmy. Die Taufe fand zwischen dem
schwarzen Freitag und schwarzen Donnerstag, zwischen Bentschen und Pogrom am
Wohnsitz Görings in Karinhall statt. Die Botschaft war klar: Hitler, der
Patenonkel, konnte nichts Böses planen. Die erstaunten kirchenfremden arischen
Braunschweiger hingegen mussten zähneknischend zur Kenntnis nehmen, wie ihr
Führer aktiv am kirchlichen Ritual mitwirkte (wenn es denn wirklich eines
war!). Görings und Hitler verschmähten also die parteilich geförderte
Alternative einer Lebensfeier, die „Taufe unter der Fahne“. In kirchlich naiven
Kreisen mochten die Bilder den Eindruck hinterlassen, dass einem Hitler als
Patenonkel und einer Taufgesellschaft Göring ein Kampf gegen die Kirche nicht
zuzutrauen sei.
„Verjudete Kirche“?
„An der Front“ hingegen geriet die
evangelische Kirche und die Landeskirche in der vulgären
nationalsozialistischen Propaganda von Zeit zu Zeit immer wieder in den Verruf,
selber „verjudet“ zu sein. Die Parteigänger Rosenbergs und der Deutschen
Glaubensbewegung erneuerten in der Öffentlichkeit ihre Vorwürfe aus dem Jahr
1934 mit dem plakativen Vorwurf des „Bolschewismus in der Kirche“. Pastor Barg
zählte bei einem Frauenhilfsabend in der Pauligemeinde im Oktober 1938 beim
Thema „Wie werden wir mit den Gegnerschlagworten im Kampf um Glauben und Kirche
fertig?“ jene Vorwürfe auf und ordnete sie der früheren Freidenkerpolemik zu
und fügte neue an: die Kirche spalte die Volksgemeinschaft, das Evangelium sei
nicht heldisch und nicht artgemäß und kränke den Menschen mit der
Erbsündenlehre, sie sei international statt national und gehöre zu den
überstaatlichen Mächten. Zu den Standardvorwürfen gehörte auch die „Verjudung“.[47]
Die Stadtgemeinden hatten das Bedürfnis, sich gegen diese Vorwürfe öffentlich
zur Wehr zu setzen, indem sie vereinte Präsenz zeigten. Dafür war das
Reformationsfest gut geeignet. Am Sonntag, dem 30. Oktober, wurde das
Reformationsfest 1938 mit einem großen Stadtgeläut abends um 20 Uhr
eingeleitet, am Montag, dem 31. Oktober fanden in allen Stadtkirchen
Schulgottesdienste statt, am Abend predigte Bischof Johnsen in der
Martinikirche über das Erbe Luthers („Wir lassen uns den Glauben nicht schlecht
machen, er ist das Heiligste in unseren Herzen“)[48]
und die Petriorganistin musizierte die Bachkantate „Sei Lob und Ehr dem
höchsten Gut“. Auf die Pogromnacht folgte der vorletzte Sonntag im Kirchenjahr,
der seit altersher unter dem Wochenspruch steht: „Wir müssen alle offenbar
werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeglicher empfange, nach dem
er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse“. (2. Korintherbrief
5,10) Wir wissen nicht, wie die Braunschweiger Pfarrer an diesem ersten Sonntag
nach dem Zivilisationsbruch gepredigt haben. v. Wernsdorff war im Dom dran und
konnte dem Pogrom in Anlehnung an Luther eine deutsch-christliche Deutung
geben, von ihm wie von allen anderen (Dietz, Staats, Römer, Gennrich, Rauls,
Wehrstedt, Koenig, Barg, Sander, Bosse, Dosse. Brutzer) wissen wir nichts. Drei
Tage später, am Mittwoch, begingen die Stadtkirchen den im
nationalsozialistischen Deutschland und Braunschweig staatlich geschützten Buß
und Bettag, ohne Zeitungen und geschlossenen Geschäften, aber mit einem
immensen Gottesdienstangebot. In allen Braunschweiger Stadtkirchen wurden am
Vormittag und am Abend um 19 Uhr Abendmahlsgottesdienste abgehalten. Im für
einen Gottesdienst infolge der Umbauarbeiten ramponierten Dom predigte um 10
Uhr Pastor Uhrig von der Brüdernkirche, um 18 Uhr Pastor Herdieckerhoff. In der
Martinikirche musizierte Ellinor Dohrn drei Bachkantaten darunter die
Solokantate für Sopran mit dem beziehungsreichen Text „Mein Herze brennt in
Qual“.
In der Tagespolemik musste die Kirche
erklären, warum und dass sie überhaupt Bußtag begehe. Bußtag war in diesen
furchtbaren Tagen ein Anlass, Einkehr zu halten. Stattdessen war im
Braunschweiger Volksblatt unter der Überschrift „Der Ruf des Bußtages“ folgende
Deutung vom Hannoverschen Landesbischof Marahrens zu lesen: „Mit Gottes Hilfe
sind wir durch die Tat unsres Führers und der anderen führenden Staatsmänner
Europas vor der Not eines furchtbaren Krieges bewahrt geblieben. Millionen von
Volksbrüdern haben sich mit uns in einem Reich vereinen dürfen. Da gebührt es
sich, dass wir vor Gott treten mit dem Bekenntnis: „Herr, ich bin zu gering
aller Barmherzigkeit und Treue, die Du an uns getan hast“. Marahrens reihte
sich ein in das endlose Lob auf die außenpolitischen Erfolge Hitlers,
interpretierte sie als ein Werk der Barmherzigkeit Gottes, dessen Deutschland
eigentlich nicht würdig gewesen sei. Statt Einkehr war ein in Frömmigkeit
getauchtes Lob auf Hitler am Bußtag 1938 zu lesen – das war die Verkehrung
dessen, was am Bußtag traditionell bedacht und gepredigt wurde.
Der in allen Kirchengemeinden kursierende
Film über die Betheler Heil- und Pflegeanstalten, die von Pastor Friedrich v.
Bodelschwingh geleitet wurden, bot Gelegenheit, sich für eine kämpferische
Situation zu rüsten. Pastor Jürgens leitete den Filmabend in Gemeindesaal St.
Johannis mit der Bemerkung ein, der Film spreche eine ernste Sprache. Die
Betheler Anstalten müssten den Christenglauben gegen andringende Feinde
verteidigen, „da war wohl keiner in dem überfüllten Saal, der sich nicht mehr
oder weniger die Frage vorlegte: Und du? Stehst du auch so fest und opferbereit
in der Abwehr gegen die Angriffe auf deinen Glauben?“[49]
In der Atmosphäre der alltäglichen Verbrechen konnten die kirchlichen
Veranstaltungen und Konzerte Ablenkung und Oasen für beunruhigte Gewissen sein.
Taufe oder Rasse
Dem Zivilisationsbruch durchaus vergleichbar war die
Verleugnung und Beschädigung des Sakraments der Taufe. Im Ámtskalender von
Pastor Goetze war für Donnerstag den 10. November eine Veranstaltung in der
Katharinengemeinde eingetragen, bei der er anlässlich des Geburtstages Martin
Luthers über Ulrich Hutten und Martin Luther referieren wollte. Aber er sagte
aus triftigem Grund ab und bat den Brüdernpfarrer Uhrig um Vertretung. Goetze
hatte am Morgen dieses Tages einen telephonischen Anruf von Oberregierungsrat
Hoffmeister, dem Leiter der Finanzabteilung im Landeskirchenamt, erhalten mit
der schockierenden Nachricht, er solle augenblicklich seinen geistlichen Dienst
als Pfarrer ruhen lassen. Die Begründung werde nachgeliefert.[50]
Nach dem Parteiprogramm Hitlers war Goetze ein Halbdeutscher, Halbarier, oder
wie man damals sagte „Halbjude“, weil seine Mutter eine Zeitlang Jüdin gewesen
war. Goetzes Mutter war jedoch nach der Geburt ihres Sohnes von der jüdischen
Gemeinde in Berlin zur evangelischen Kirche übergetreten und hatte sich taufen
lassen. Für die Kirche war sie Christ. Was sollte in der Landeskirche gelten,
das nazistische Rassengesetz oder das Gesetz Jesu?
Nach der traditionellen Kirchenlehre wurde ein Täufling von
allen Sünden, sogar von der Erbsünde „reingewaschen“ und eine neue Schöpfung.
Das galt für alle Menschen ohne jeden Unterschied. So lernte es jeder
Konfirmand. Bei getauften Juden sollte diese jahrhundertealte Taufpraxis
offenbar nicht mehr gelten. Ihnen verblieb das jüdisches Vorleben als Makel bei
der „Reinwaschung“. Das war eine absolut neue, durch und durch häretische
Deutung des Taufverständnisses.
Die evangelische Kirche war gespalten: die Deutschen
Christen unterstützten nicht nur 1933, auch 1937 noch die Parteifassung und den
Parteijargon: „die Juden sind unser Unglück“.[51]
Die Bekennende Kirche lehnte im Herbst 1933 die Einführung des Arierparagrafen,
wonach alle bis auf die Großeltern nicht rein arischen Beamte aus dem
staatlichen Dienst zu entlassen seien, für die Kirche ab. Aber die Beschränkung
auf die Kirche war ein schwerer Fehler und konnte als eine Bejahung der aktiven
Rassenpolitik Hitlers gedeutet werden. Die Kirchliche Mitte zwischen Deutschen
Christen und Bekennender Kirche musste sich entscheiden. Landesbischof Johnsen
entschied sich im Sinne der nationalsozialistischen Partei und der Deutschen
Christen. Das war eine Entscheidung gegen die Gültigkeit der Taufe in der
Landeskirche.
Der Bischof trug diese Entscheidung nicht allein, er wurde
darin von allen Mitgliedern der geistlichen Kollegiums und der Kirchenregierung
unterstützt. Daher lehnte er die Aufnahme des Sohnes von Goetze, der in
Wolfenbüttel 1936 das theologische Examen gemacht hatte, als Vikar in den
kirchlichen Dienst der Braunschweiger Landeskirche ab.[52]
Sie sollte offenbar „judenrein“ sein. Als die Organistin der Petrikirche
Ellinor Dohrn Bischof Johnsen um Schutz vor Angriffen aus der Kirche bat,
lehnte dieser
ebenfalls entrüstet ab, denn Frau Dohrn war eine
Dreivierteldeutsche, ihr Großvater war Jude gewesen, hatte sich aber taufen
lassen. Frau Dohrn war von dem theologischen Tiefstand in der Behörde schwer
enttäuscht und gekränkt. Auch Pastor Goetze blieb vom Dienst beurlaubt, was der
Kirchenvorstand der Pauligemeinde nicht widerspruchslos hinnahm (siehe Kapitel
26). 1942 folgte Goetze seinem Sohn in die Württembergische Landeskirche, wo
dieser eine Pfarrstelle erhalten hatte.