Das erste Kriegsjahr – der Krieg höhlt die Kirche aus – der Fluch des
Sieges
Zum Krieg erzogen
Die Deutschen - und mit ihnen die Braunschweiger – waren zum
Krieg erzogen, gelegentlich in den Krieg verliebt. Schon in der Schule wurde
die deutsche Geschichte vor allem als Kriegsgeschichte behandelt. Der Krieg
hatte 1813 die Freiheit vom „fremden Joch“ Napoleons gebracht, der Krieg schuf
1871 das Deutsche Kaiserreich, im Krieg bewährten sich angeblich männliche
Tugenden, die Schule der Nation war die Kaserne, Krieg war ein positiv
besetzter Begriff. Die Niederlage von 1918 wurde deshalb nicht zur Kenntnis
genommen oder in einen Sieg umgelogen.
Auf einen zweiten großen Krieg waren die Deutschen und auch
die Braunschweiger bestens vorbereitet. Seit 1934 wurde für eine zivilen
Luftschutz getrommelt. Dem Vaterland drohe Gefahr durch Angriffe aus der Luft
und die Bevölkerung müsse sich mit Luftschutzmaßnahmen vertraut machen. Wenn
solche Übungen vielleicht mehr sportlich verstanden wurden, so wurde es nach
der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935 schon ernster und steigerte
sich nach dem außenpolitisch riskanten Einmarsch deutscher Truppen ins
Rheinland 1936 und 1938 in den österreichischen Staat. Das Siegesbewusstsein
triumphierte über das mit dem Einmarschieren verbundene Unrecht. Als sich
allerdings die Krise zuspitzte und in München im September 1938 aufgeschoben
werden konnte, veranstalteten die evangelische Kirche und auch die
Braunschweiger Stadtkirchen Dankgottesdienste für die Verhinderung eines
Krieges.[1]
Braunschweig die Rüstungsstadt
Zum Siegen gehört das frühzeitige Rüsten zum Siegen. Die
Rüstungsanstrengungen in der Stadt Braunschweig waren enorm. Dort entstanden
seit 1935 große Kasernenkomplexe: die Kaserne Heinrich d. Löwe und die
Hindenburgkaserne in Rautheim, die Schillkaserne in der Voigtländerstraße, die
Siegfriedkaserne am Bienroder Weg, die Leutnant Müller Kaserne in der
Salzdahlumerstraße[2],
die Roselies Kaserne in der Lindenbergsiedlung, die Husarenkaserne in der
Kralenriede, die Tannenbergkaserne am Flughafen und die Broitzemer Kasernen am
dortigen Flugplatz. Insgesamt also zehn Kasernenkomplexe, drum herum die
Gebäude für die Offiziersfamilien: ein gefundenes Fressen für die
Bauwirtschaft. „Von Anfang an spielten Aufträge für Parteibauten und
Wehrmachtsaufträge eine erhebliche Rolle“, so Birgitt Pollmann und Hans Ulrich
Ludewig.[3]
Am Rand der Pauligemeinde entstand das gut abgeschirmte
langgestreckte Gebäude des Luftwaffenkommandos und als Nachbarschaft das sog.
„Fliegerviertel,“ Wohnhäuser in Straßen mit Namen von Fliegern aus dem 1.
Weltkrieg. Das Gebäude der HJ Akademie an der Wolfenbüttlerstraße mit seinen
Lehrsälen und Wohnhäusern diente als soldatische Kaderschmiede.
Die Produktion der Metallindustrie wurde auf kriegswichtige
Güter umgestellt. Es
expandierten die Miag, die Lutherwerke, Büssing und Nimo.
Sie produzierten für den erwarteten Krieg und Sieg Flaks, Panzer, Granaten,
Flugzeugmotoren, LKWs; Franke und Heidecke Rollei Nachtsichtgeräte.
Braunschweig war ein Rüstungsschwerpunkt. Ein zweiter Krieg stand außer Frage.
Bereits an seiner Vorbereitung hatten die Betriebe gut verdient.
Domprediger Hans Schomerus „Ethos des Ernstfalles“
Auch die Kirche bereitete sich auf den Kriegsfall vor. Das
Braunschweiger Volksblatt berichtete von evangelischen Freizeiten für die
Wehrpflichtigen, „um den jungen Leuten eine rechte innere Zurüstung für den
Dienst in der Wehrmacht zu vermitteln.“[4]
Pfarrer Otto Henneberger übernahm den „Wehrdienst“ als eine neue Einrichtung
des Evangelischen Männerwerkes. Seit 1937 erhielten Pfarrer
Bereitstellungsbefehle.
In einem Aufsatz aus dem Jahr 1938 beschrieb der
Braunschweiger Domprediger das Jahr 1938 als „Ernstfall“.[5]
Die Gegenwart liege im Kriegsschatten der Front, der noch aus dem 1. Weltkriege
stamme, und der zugleich „Bote der Zukunft“ sei, „ein Vorspiel des Tages, an
dem es ernst wird.“[6]
Wie schon Hitler seine Regierungszeit als eine einzige Kampfzeit verstand, so
formulierte Schomerus etwas vornehmer: „Der Ernstfall ist die Realität, die hinter
all unserem heutigen Tun und Leben steht. An dieser Realität gemessen erscheint
unsere Gegenwart nur als eine Übung und Bereitung auf den Ernstfall.“ [7]
„Unsere Gegenwart wird den Blick in die abgründige Tiefe des Ernstfalles nicht
los. Das aber ist mehr als nur Erinnerung. Das ist höchst gegenwärtige
Lebensweisheit und Lebenserfahrung.“
Der deutsche Mensch müsse also auf diesen Ernstfall hin
erzogen werden, nämlich zu einem Ethos der Tapferkeit. Tapferkeit bedeute „die
bewusste Begegnung mit dem Furchtbaren“[8]
Das Furchtbare indes sei „in seiner Urgestalt eine religiöse Erfahrung“. Das
Furchtbare sei „der Kern und das eigentliche Geheimnis des Ernstfalles“[9].
„Der Ernstfall, mit dem wir es heute zu tun haben, und der Schatten über
unserer gegenwärtigen Geschichte ist, sowohl aus der Vergangenheit wie aus der
Zukunft zu uns herüberdrohend.. im höchsten Grade eine religiöse Frage“ Den
banalen kirchlichen Irrtum des 1. Weltkrieges, dass die Front die Begegnung mit
dem Göttlichen sei, stilisierte Schomerus als „Ernst“, genauer: als
„furchtbaren Ernst“. Der Fahneneid am Eingang des soldatischen Lebens sei die
göttliche Berufung in das Mannestum.[10]
Der Mann sei also zum Kampf berufen, zum Soldaten geradezu göttlich bestimmt.
Anders als der stoische Mann, der dem Furchtbaren heroisch begegne, ist „nur
der Mann, der Glaube hat, ein Soldat, wie ihn die Geschichte in ihrem Ernst
fordert.“[11]
Der christliche Soldat weiche dem Furchtbaren nicht aus, aber er glaubt, dass
die göttliche Huld und Gnade über allem mächtig bleibe. „So streitet der
christliche Soldat: Auf das Schlimmste gefasst und doch zugleich in Gott
geborgen“.[12]
Dieser Aufsatz von Schomerus stellte dem
nationalsozialistischen Kriegssystem den evangelischen Mann als tapferen
Kämpfer zur Verfügung und wollte die Pfarrerschaft willig und dienstbar zum
Waffendienst auch in Hitlers Armee machen. Schomerus verschwendete keine
Gedanken an eine Friedenspflicht der Kirche. Kein einziger Gedanke führte über
die „Theologie des Krieges“ aus der Zeit des 1. Weltkrieges hinaus. Die Schrift
diente in geistreichelnden Sprachwendungen der schlichten geistig-geistlichen
Aufrüstung in der braunschweigischen Landeskirche und darüber hinaus.
Die Stadtpfarrer werden eingezogen
Das Gemeindeblatt von St. Jakobi veröffentlichte den Aufruf
des Geistlichen Vertrauensrates, der provisorischen Spitze der Deutschen
Evangelischen Kirche, zum Kriegsanfang. Der Geistliche Vertrauensrat sprach
darin von der Ungewissheit einer Entscheidung, die „uns alle in den letzten
Wochen und Tagen aufs tiefste bewegte.“ Offenbar war der Kriegsbeginn erwartet
worden. Das deutsche Volk müsse für seine Freiheit und Ehre zu den Waffen
greifen. Als ob Polen die Freiheit der deutschen Bevölkerung bedroht hatte. Die
Mitglieder der Kirche seien „verbunden in der Fürbitte für unser Volk und
Vaterland, für den Führer und die gesamte Wehrmacht. So war es immer in der
Geschichte unseres Volkes; so wird es auch bleiben, solange evangelische Männer
und Frauen aus dem nie versiegenden Quell ihres Glaubens schöpfen.“[13]
Es wurden im ersten Kriegsjahr folgende Braunschweiger
Stadtpfarrer zur Hitlerarmee eingezogen: Otto Dietz von der Jakobikirche, Otto
Jürgens und Walter Staats von der Johanniskirche, Reinhard Herdieckerhoff von
der Inneren Mission, der für das Braunschweiger Volksblatt Feldpostbriefe von
der Front schrieb, sowie die Jugenddiakone Hermann Kolb und Alfred Haferlach.
Walter Staats wurde früh verwundet und erhielt einen bleibenden Hörschaden.
Andere drängelten sich zum Einsatz, wurden aber nicht
genommen, so der Katharinenpfarrer v. Wernsdorff, der zurückgestellt wurde und
erst später einen Posten als Gefangenenaufseher in der Etappe erhielt. Der
Martinipfarrer Wehrstedt arbeitete später in der Bücherei einer Garnison.
Der Überfall auf Polen - Volkskirche im Kriege
Der Überfall auf Polen war aus der Sicht Hitlers logisch und
fällig. Auf der Europakarte Hitlers kam Polen zu seiner Jugend- und
Soldatenzeit überhaupt nicht vor. Das Zarenreich, das Österreich - Ungarische
Kaiserreich und das Deutsche Kaiserreich stießen dort aufeinander. Der
polnische Staat war für Hitler ein künstliches Ergebnis des Versailler
Vertrages, und die Beseitigung dieses Staates fiel für ihn unter die fällige
Revisionspolitik. Das war von Hitler aus gesehen folgerichtig und zugleich
unmenschlich. Dass Polen seinerzeit das älteste europäische Parlament errichtet
und eine eigene jahrhundertealte polnische Kultur entwickelt hatte, war für
Hitler uninteressant, sah er vielleicht in seiner politischen Blindheit gar
nicht. Aber um seine aggressiven Revisionsabsichten an der deutschen Ostgrenze
zu verschleiern, schloss Hitler schon 1934 einen Freundschafsvertrag mit der
polnischen Regierung. Das bedeutete, dass Hitler schon 1934 fest entschlossen
war, den polnischen Staat zu beseitigen.
Die Deutsche Evangelische Kirche hatte sich teilweise
organisatorisch von der evangelischen Minderheit in Polen nicht getrennt. Der
Konsistorialbezirk Posen z.B., dem der Generalsuperintendent Paul Blau
vorstand, gehörte zu Berlin-Brandenburg und unterstand dem Berliner
Konsistorium. Das war für seine Gemeinden eine schwere Hypothek und stellte für
die polnisch-katholische Kirche ein ständiges Hassobjekt dar. Das Verhältnis
zwischen beiden blieb feindselig. Diese Feindseligkeiten verschärften sich,
seit Hitler den Freundschaftsvertrag mit Polen aufgekündigt hatte. 1939 kam es
auf beiden Seiten zu schweren Übergriffen. Die schwierige Lage der
evangelischen Gemeinden in diesem Teil Polens wurde in der Deutschen
Evangelischen Kirche breit kolportiert, auch im Braunschweigischen und in der
Stadt Braunschweig. Die Stadtpfarrer erhielten vom Landeskirchenamt einen
Bericht von Generalsuperintendent Paul Blau über Grausamkeiten der polnischen
Bevölkerung, der kriegsrechtfertigend wirken sollte. Blau war mehrfach in der
Stadt zu Besuch gewesen.
Die Braunschweiger wurden auf den Kriegsbeginn mit einem
Reisebericht von Martin Koegel, dem Redaktionsmitglied des Braunschweiger
Allgemeinen Anzeiger, in der Wochenendausgabe des 12./13. August 1939
vorbereitet. Die Überschrift lautete: „Was ich in Danzig sah und hörte. Führer
hol uns heim!“ Koegel kannte Danzig. Er war seit acht Jahren, wie er schrieb,
jeden Sommer in Danzig gewesen. Koegel wiegelte einleitend ab. Zeitungen und
Auslandssender sprechen immer wieder von einer Kriegspsychose, die an der
Weichselmündung und in der Danziger Bucht sich lähmend auf Leben und Menschen
lege. Deutsche Soldateska beherrschten das Bild der Straße und was dergleichen
Unsinn mehr sei. Aber Danzig sei und fühle deutsch. Den Zeitpunkt der „Heimkehr“
überließen die Danziger dem Reichskanzler. Er beschloss den Artikel mit dem
Ausruf: „Führer, hol uns heim!“
Tags zuvor hatte dieselbe Zeitung mit „Danzigs
unerschütterliche Wille: Heim ins Reich“ aufgemacht und von einer Massenflucht
der polnischen Badegäste berichtet.[14]
Täglich wurden die Braunschweiger Leser mit Schauernachrichten von polnischem
Terror überschüttet, die den deutschen Überfall propagandistisch vorbereiten
sollten.
Einen erstaunlich breiten Raum nahmen die Nachrichten vom
deutsch-sowjetischen „Freundschafts- und Nichtangriffspakt“ in der vorletzten
Augustwoche in der Regionalpresse ein. Die Berichterstattung jeweils auf der
ersten Seite mit Bildern von den Außenministern Molotow und Ribbentrop in
Berlin und Moskau scheinen nicht naheliegende ideologische Fragen ausgelöst zu
haben, sondern eher das Gefühl von Sicherheit für einen bevorstehenden Krieg.[15]
Die Meldung in der Wochenendausgabe des Braunschweiger
Allgemeinen Anzeigers vom 2./3.9. „Unsere Soldaten im Vormarsch“ konnte keinen
mehr überraschen. Beruhigend sollte es wirken, dass Hitler im Reichstag erklärt
hatte: „Ich bin entschlossen, dafür zu sorgen, dass im Verhältnis Deutschlands
zu Polen eine Wendung eintritt, die ein friedliches Zusammenleben sicher
stellt“.[16]
Zehn Tage später war in derselben Zeitung zu lesen, wie sich Hitler das
friedliche Zusammenleben vorstellte: „Warschau soll ein Trümmerhaufen werden“.[17]
Dieser Ausspruch wurde dem polnischen Kommandanten von Warschau Czuma in den
Mund gelegt. Tatsächlich gab es die Absicht Hitlers wider. Die polnische
Hauptstadt kapitulierte zum Ärger Hitlers „erst“ am 28. September. Am 5.
Oktober nahm Hitler eine Siegesparade in Warschau ab. Anlässlich der Besetzung
Warschaus durch deutsche Truppen ordnete Hitler ein siebentägiges je einstündiges
Glockenläuten der evangelischen und katholischen Kirchen um die Mittagszeit an,
das auch im Braunschweig durchgeführt wurde.[18]
Die Kriegsereignisse waren für den größten Teil der
Bevölkerung weit weg und fanden als Nachricht in der Regionalpresse und mit
Sondermeldungen im Volksempfänger statt. Die Zerstörung Warschaus erlebten die
Braunschweiger wie alle Deutschen aus der unterhaltsamen Perspektive der
Etappe.
Aber die alltäglichen Lebensverhältnisse änderten sich doch
spürbar. Zum richtigen Verdunkeln der Fenster wurde die Bevölkerung ermahnt,[19]
im Bürgerpark, Theaterpark, im Museumspark und am Gieselerwall wurden
Splittergräben ausgehoben,[20]
vor Spionen wurde gewarnt, denn „Achtung, Feind hört mit“,[21]
und beim täglichen Einkaufen musste gespart werden. Es gab u.a. 0,20 l Milch
pro Tag,
500 gr. Fleisch, 100 gr. Marmelade und Kaffee pro Woche. Das
bedeutete für das gehobene Bürgertum schon eine gewisse Einschränkung. Da waren
Buttersendungen von der Front durchaus willkommen.[22]
Von der Front schrieb Eberhard Gebensleben an seine
Großmutter in Braunschweig u.a.: „Das Traurigste ist die furchtbare Ermordung
von unzähligen Tausenden aus der volksdeutschen Zivilbevölkerung...Kein Dorf,
durch welches wir kommen, in dem nicht 30 – 40 Deutsche massakriert sind, z.T.
haben wir sie ausgegraben, ein Teil liegt noch neben der Landstraße auf den
Feldern, Männer, Frauen und Kinder. Wie Menschen so etwas fertig bringen
können, ist unfassbar. Es sind keine Menschen, und müssen entsprechend
behandelt werden. Dieser Jammer der Überlebenden: Wäret ihr doch zwei Tage
früher gekommen, hören wir jetzt immer wieder. Jetzt nach der militärischen
Besetzung ist natürlich alles ruhig. Aber es sind furchtbare Bilder, die wir
gesehen haben und sie rechtfertigen alle Maßnahmen von unserer Seite. Sonst
geht es uns ausgezeichnet und die Stimmung ist entsprechend. Der Soldat
vergisst ja rasch und das muss wohl so sein. Wir sind jetzt schon hinter der
ehemaligen deutsch-russischen Grenze, ganz flache Landschaft, niedrige weiße
Häuser mit Strohdächern. Hier beginnt der wirkliche Osten. Von Kultur recht
wenig beleckt. Wenigstens was die Dörfern und die sogenannten „Städtchen“
anbetrifft. Schmutzig, ganz unglaublich! Hier gelten eben andere Maßstäbe. Da
wir meist auf den großen Gutshöfen liegen, haben wir es besonders gut. Die
Gärten stehen noch voll Obst und Gemüse, und die berühmten polnischen Schweine
sind nicht zu verachten. Ich glaube, ich habe schon beachtlich zugenommen“.[23]
Der Briefausschnitt gibt bereits die Grausamkeiten auf der
Seite der deutschen Soldaten wieder, die jedoch mit einer Brutalität des
polnischen Heeres und der Zivilbevölkerung begründet werden. Die Rechtfertigung
„aller Maßnahmen auf unserer Seite“ und der Hinweis auf die Vergesslichkeit des
Soldaten zeigen die Verwicklungen der militärischen Einheit des Absenders in
den Vernichtungskrieg
gegen die polnische Bevölkerung. Das Wörtchen „alle“ ist im
Brief hervorgehoben.
Der Soldat im Gottesgericht – eine Aushöhlung des Glaubens
Eine Kirche, die sich in das Verbrechen eines Krieges
begibt, ist dazu verdammt, dem Soldaten ein „getrostes Gewissen“ einzupredigen.
So lautete die Überschrift einer Andacht von Pfarrer Herdieckerhoff am 19.
November 1939.[24]
Der Krieg sei ein Gottesgericht, und „Christus macht uns getrost auch vor dem
Richtstuhl der Ewigkeit. Wer so getrost ist, ist auch wohl ein rechter Soldat,
der seinen Gottesdienst tun darf im großen Gottesgericht dieser schwer
bedrängten Zeit. Helfe einer dem andern, dass er Christus recht gewinne, damit
er ein getrostes Gewissen bekomme.“ Wer sich auf das anfechtbare Bild von Gott
als dem Herrn der Geschichte einließ, der konnte auf diese schonende Weise
seinem Mitsoldaten ein gutes Gewissen mitten im Verbrechen einreden. Aber es
ist eine Aushöhlung des Glaubens, den Kriegsdienst, und dazu den in der
Hitlerarmee, als Gottesdienst, und den Soldaten als Mitbeteiligten in einem
Gottesgericht, das offenbar über die polnische Bevölkerung ergangen war, zu
bezeichnen. Die Waffen, „denen Gott jetzt zu reden gegeben hat“, offenbarten dieses
Gottesgericht. „Die stählernen Rohre der Geschütze in ihrer blitzenden
Unerbittlichkeit lehren, dass Gott sehr hart sein kann. Immer, wenn man die
schweren Granaten in die Stellung schleppt, oder wenn man den Karabiner in
Anschlag bringt, hört man diese harte Sprache Gottes.“ Theologisch denkbar ist
auch das genaue Gegenteil: dass der Krieg der Ausdruck des Widerwillens Gottes
ist, ein Ausbruch der gottvergessenen Selbstherrlichkeit des Menschen, dem es
als Christ von Anfang an zu widerstehen gelte. „Krieg darf nach Gottes Willen
nicht sein“, dieser viel zitierte Satz der Ökumenischen Versammlung in
Amsterdam war auch schon 1939 richtig, auch wenn ihn die Kirche erst 1948
anfing zu begreifen und dann bald wieder vergaß.
Gebete im Krieg
Am Sonntag, dem 1. Oktober 1939 wurde in den Stadtkirchen das Erntedankfest
gefeiert. In einigen Gemeinden sogar verbunden mit der Feier des Abendmahls.[25]
Zu diesem Gottesdienst war im Landeskirchlichen Amtsblatt eine
Kanzelabkündigung empfohlen worden, die vom Leiter der Kirchenkanzlei und dem
Geistlichen Vertrauensrat der DEK unterzeichnet worden war.[26]
Sie hatte folgenden Wortlaut:
„In tiefer Demut und Dankbarkeit beugen wir uns am heutigen
Erntedankfest vor der Güte und Freundlichkeit unseres Gottes: Wieder hat Er Flur
und Feld gesegnet, dass wir eine reiche Ernte in die Scheuern bergen durften.
Wieder hat Er seine Verheißung an uns wahr gemacht, dass Er uns Speise geben
wird zu seiner Zeit. Aber der Geist, der die Geschichte der Völker lenkt, hat
unser deutsches Volk in diesem Jahr noch mit einer anderen, nicht weniger
reichen Ernte gesegnet. Der Kampf auf den polnischen Schlachtfeldern ist, wie
unsere Heeresberichte in diesen Tagen mit Stolz feststellen konnten, beendet,
unsere deutschen Brüder und Schwestern in Polen sind von allen Schrecken und
Bedrängnissen des Leibes und der Seele erlöst, die sie lange Jahre hindurch und
besonders in den letzten Monaten ertragen mussten. Wie könnten wir Gott dafür
genugsam danken.
Wir danken Ihm, dass Er unsern Waffen einen schnellen Sieg
gegeben hat. Wir danken Ihm, dass uralter deutscher Boden zum Vaterland
heimkehren durfte und unsere deutschen Brüder nunmehr frei und in ihren Zungen
Gott im Himmel Lieder singen können.
Wir danken Ihm, dass Jahrzehnte altes Unrecht durch das Geschenk
seiner Gnade zerbrochen und die Bahn freigemacht ist für eine neue Ordnung der
Völker, für einen Frieden der Ehre und Gerechtigkeit.
Und mit dem Dank gegen Gott verbinden wir den Dank gegen
alle, die in wenigen Wochen eine solche gewaltige Wende heraufgeführt haben;
gegen den Führer und seine Generale, gegen unsere tapferen Soldaten auf dem
Lande, zu Wasser und in der Luft, die freudig ihr Leben für das Vaterland
eingesetzt haben.
Wir loben Dich droben, Du Lenker der Schlachten,
und flehen, mögst stehen uns fernerhin bei.“
Die Kanzelabkündigung erinnerte an eine
doppelte Ernte: des Bauern auf Feld und Flur und der Soldaten auf dem
Schlachtfeld. Beide seien im Jahr 1939 von Gott reich gesegnet. Die
Kanzelabkündigung ging dann sprachlich über in eine Gebetsform. Sie nahm die
nazistische Propagandavokabel von der „Heimkehr“ auf, bezeichnete den vom
Versailler Vertrag geschaffenen Zustand als „Unrecht“ und verwies mit einer
„neuen Ordnung der Völker“ bereits auf eine vom Nationalsozialismus geprägte Zukunft
im europäischen Osten. Das Gebet übernahm also vollständig das politische
Weltbild und die militärischen Zielvorstellungen Hitlers, dem folgerichtig samt
Generalität und Fußvolk ausdrücklich gedankt wurde. Diesem Dank fehlte die
traditionell folgende übliche Fürbitte für Elende, Heimatlose, Verwundete,
Tote. Brakelmann bezeichnet daher die Kanzelabkündigung als „endgültige
Perversion eines Gebetes“.[27]
Die Kanzelabkündigung schloss mit mit zwei Versen aus dem damals populären
Choral „Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten“. Dieses Lied wurde 1939 in
den frisch geschaffenen Anhang des Braunschweiger Gesangbuches aufgenommen und
nach 1945 wegen seines deformierten Gottesbildes wieder gestrichen.
Der Aufruf des Hildesheimer Bischofs Machens
Am 10. September 1939 wurde folgender Hirtenbrief von
Bischof Machens in den katholischen Kirchen Braunschweigs verlesen: „Ein Krieg
ist ausgebrochen, der uns alle, Heimat und Front, Wehrmacht und
Zivilbevölkerung vor die gewaltigste Aufgabe stellt. Daher rufe ich euch auf:
Erfüllt eure Pflicht gegen Führer, Volk und Vaterland. Erfüllt sie im Felde und
daheim. Erfüllt sie, wenn es sein muss, unter Einsatz der ganzen
Persönlichkeit. Zugleich ermahne ich euch, erhebt mit mir die Hände zum Vater
in Himmel empor und bittet ihn inständig und beharrlich, dass er unser Volk in
seinen gnädigen Schutz nehmen, unsere Soldaten, besonders unsere Angehörigen
behüten und segnen und unser geliebtes Vaterland einem glücklichen Frieden
entgegenführen möge.“ Die Kriegszeit sei Bitt- und Sühnezeit, Zeit zur Einkehr
und Selbstheiligung, Die Beichtstühle müssten belagert werden. „Kriegszeiten
müssen Zeiten der seelischen Erneuerung sein.“ „Bestürmt das Herz des
göttlichen Erlösers, dass er in seiner gütigen Vorsehung uns das Gottesgeschenk
eines glücklichen Friedens schenken wolle. Amen“.[28]
Die katholische Kirche stand bei dem Krieg Hitlers gegen Polen vor der
schwierigen Aufgabe, gegen ein ganz überwiegend katholisches Land zu kämpfen.
Diese Frage wurde nicht erörtert und führte auch nicht zu besonderer
Zurückhaltung. Es wäre ein Anlass gewesen, auf ein Hirtenwort zu verzichten.
Der Aufruf zur Pflichterfüllung erweckte stattdessen den Eindruck, dass der
Kriegseinsatz auch den Einsatz des Lebens rechtfertige. Der Anfang des
Hirtenwortes ist dagegen ein Ausdruck bedeutsamer Zurückhaltung. Mit der
Einleitung „Ein Krieg ist ausgebrochen“ entzog sich Machens der maßlosen
öffentlichen Propaganda, dass der Krieg von polnischer Seite inszeniert worden
sei. Sie lässt die Frage, wodurch der Krieg „ausgebrochen“ sei, offen. Das
Hirtenwort fügt sich in die Zustimmung der katholischen Kirche zum
außenpolitischen Kurs Hitlers ein. Der Schluss des Wortes mit dem Wunsch nach
einem „glücklichen Frieden“ konnte seinerzeit nur einen Frieden unter der Hitlerregierung
bedeuten. So fest und selbstverständlich war bereits die Einbindung in den
nationalsozialistischen Staat. Andrerseits ist das Hirtenwort im Vergleich zu
den Äußerungen aus der Braunschweiger evangelischen Landeskirche nach Stil und
Inhalt viel zurückhaltender. In der Substanz dagegen wurde dem katholischen
Christen die Bereitschaft zum Krieg auch zur Pflicht gemacht.
Langzeitwirkung hatte folgende Einfügung in das sonntägliche
Fürbittgebet:
„Dass du unser Volk und Vaterland schützen und segnen wollest;
dass du die Führer unseres Volkes und unsrer Wehrmacht mit
deinem Licht erleuchten und leiten wollest;
dass du durch deine Engel unsere Soldaten behüten wollest;
dass du uns alle mit unüberwindbarem Vertrauen auf die
gütige Vorsehung erfüllen wollest;
dass du alle Betrübten..“[29]
Es mochte für die betende Kirchengemeinde eine persönliche Beruhigung sein,,
wenn sie mit ihrem kindlichen Glauben die deutschen Soldaten mit Engeln umgibt.
Schon die naheliegende Überlegung, ob dann die polnischen Soldaten von Teufeln
oder Dämonen oder etwa auch von Engeln umgeben seien, zeigt schon die
Hilflosigkeit des Engelsymbols. Noch problematischer wird es, wenn der
Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung zum obersten Gebot auch des
katholischen Soldaten wurde.
Predigten im Krieg „Kämpfendes Volk und glaubende Gemeinde“ von Otto
Henneberger
Otto Henneberger veröffentlichte im Verlag des Evangelischen
Bundes sechs Predigten oder Ansprachen aus den ersten Kriegmonaten unter dem
Titel „Kämpfendes Volk und glaubende Gemeinde“.[30]
Er bekräftigte die von der Mehrheit der Pfarrerschaft mitgetragene These vom
notwendigen Nebeneinander von nationalsozialistischem Staat und lutherischer
Kirche, gerade auch für die Kriegszeiten.
Den sechs Überschriften „Glaubende Gemeinde im kämpfenden
Volk“, „Der große Verbündete“, „Der Kampfschatz des Glaubens“, „Der Griff nach
dem Brot“, „Standhaftes Mannestum – ohne Zorn und Zweifel“, „Schicksalgläubig
oder Gottes gewiss?“ war jeweils ein Bibelwort vorangestellt. Henneberger
beendete die Abhandlung mit einem Gesangbuchvers. In glatten Wendungen machte
Henneberger den Glauben der Gemeinde kriegstüchtig. „Ihre Glieder stehen mitten
in der großen Kameradschaft des kämpfendes Volkes, bereit zu jeglichem
Frontdienst draußen oder drinnen“.[31]
Obwohl schon im Parteiprogramm von 1920 die Ansprüche auf
ein Großdeutschland mit Gebieten jenseits der Reichsgrenzen herrisch erhoben
worden waren, und damit alle Optionen für die Begründung des Krieges mit dem
dogmatischen Schema des „gerechten Krieges“ aufgehoben waren, stellte sich
Henneberger hinter die Lüge vom Verteidigungskrieg. Denn allein ein
Verteidigungskrieg erschien traditioneller Weise gerechtfertigt. Das neue
Deutschland sei herausgefordert zum Kampf auf Leben und Tod. Seine Freiheit und
seine Ehre seien bedroht. Henneberger stellte die Kirche ganz und gar für diese
Kriegslage zur Verfügung, denn die letzte Wehrkraft eines Volkes wäre sein
Glaube. Daher sei es „ernsteste Notwendigkeit, dass mitten im kämpfenden Volke
eine wahrhaft glaubende Gemeinde sei.“[32]
Auf der Seite der glaubenden Gemeinde stehe Gott selber als
„der große Verbündete“. Gott sei nicht neutral, er habe sich „für uns
entschieden. Er ist für uns da! Als der große Verbündete!“[33]
Zu dieser gotteslästerlichen Dreistigkeit wurde das Pauluswort „Ist Gott für
uns, wer mag wider uns sein?“ missbraucht. „Wir spüren den heißen Atem
geschichtlicher Stunde, Deutschland ist in eine neue Kampfzeit gerufen. Das
deutsche Volk, das unter Aufgebot aller Lebenskräfte unter sieghafter Führung
das neue Reich sich schuf, ist in seinem Lebensrecht bedroht. Es ist
entschlossen, mit allen Kräften für seinen Bestand und für die neue Ordnung und
Gerechtigkeit der europäischen Welt zu kämpfen“.[34]
Henneberger wiederholte nicht nur die Lüge vom bedrohten Lebensrecht, sondern
erweiterte das Kriegsziel: eine neue Ordnung und Gerechtigkeit in Europa! Mit
anderen Worten: die Vision eines braunen Europas unter deutscher Führung.
Wieder sollte die Welt am deutschen, diesmal braunen, deutschen Wesen genesen,
zunächst Europa, dann die ganze Welt. Die Aussichten dafür standen für ihn in
Folge des großen Verbündeten gut. Als weitere Garantie für den Sieg trage die
glaubende Gemeinde einen „Kampfschatz“ bei sich. Henneberger unterschied
zwischen der „Wehrkraft der waffentragenden Mannschaft“ als erstem Kampfschatz,
der Wirtschaftkraft und Nervenkraft als zweitem und drittem Kampfschatz und als
letzten die Kraft des Glaubens. In weiterer Verdrehung eines Pauluswortes
posaunte Henneberger: trotz einer unheimlichen Bedrohung „steht die glaubende
Gemeinde in überschwänglicher Kraft und spricht es in den Sturm der Welt: „Wir
kommen nicht um!“[35]
Wo gesiegt wurde, gab die Kirche wie bisher ihr Ja dazu: „In
unaufhaltsamem Vormarsch hat sie im Polenfeldzug allen offenen und heimtückischen
Widerstand gebrochen, einen ritterlichen Kampf geführt und einen geschichtlich
einmaligen Blitzsieg errungen“.[36]
Tatsächlich organisierten mit und hinter den Wehrmachtsoldaten die Soldaten des
Sicherheitsdienstes einen schauerlichen Massenmord an der polnischen
Bevölkerung. Soldaten schickten Fotos von aufgehängten „Partisanen“, Juden und
„Pfaffen“ nach Hause. Die Heimat wusste Bescheid.
Da die Kirche aus der Niederlage des 1. Weltkrieges die
einzige, evangelische Folge, einen Krieg nicht mehr zu unterstützen, nicht
gezogen hatte, sondern sich stattdessen um die Sinngebung des Krieges und
seiner „Opfer“ bemüht hatte, war keine andere Tradition sichtbar, an die sie zu
Beginn des neuen Weltkrieges anknüpfen konnte. Bezeichnenderweise widmete
Henneberger diese Abhandlung seinem im 1. Weltkrieg bei Langemarck gefallenen
Bruder Edwin. Der Bruder wiederholte die schon vor 25 Jahren überholten Phrasen
aus dem kirchlichen Rechtfertigungsvokabular des 1. Weltkrieges.
Dank für das Scheitern des Attentats vom 8. November 1939
Das Verhältnis zwischen Hitler und der deutschen Bevölkerung
wurde im Verlauf des Krieges immer enger. Die Strukturen eines Hitler-Mythus
vertieften sich in der Bevölkerung und wurden durch das missglückte Attentat
von Johann Georg Elser in München am 8. November 1939 noch verstärkt. Der
Attentäter blieb zunächst unerkannt, der Schock war, dass ein Attentat
überhaupt möglich war.[37]
„In den Gottesdiensten am 12. November wurde in allen Gemeinden dem Dank gegen
Gott Ausdruck gegeben, der in großer Gnade unseren Führer in der Stunde größter
Gefahr behütet hat. Starke und treue Fürbitte befiehlt ihn auch weiterhin in
den Schutz des allmächtigen Gottes, zum Segen des ganzen Volkes, zur Gewinnung
und Erhaltung des guten Friedens. Der Opfer des verdammungswürdigen Anschlags
gedenken wir in Dankbarkeit.“[38]
„Wer an d i e s e m Tag die Stimme Gottes nicht gehört hat, dem ist
nicht mehr zu helfen,“ schrieb v. Wernsdorff im Katharinengemeindebrief. [39]
„Oder ist es etwas anderes als der sichtbare und spürbare Eingriff der
göttlichen Vorsehung, wenn der Führer aller Deutschen ganz dicht vor einer
derartig grauenvollen Katastrophe uns bewahrt und erhalten geblieben ist? Gott
hat gesprochen, dass er mit diesem Manne nicht nur um Deutschlands, sondern um
vieler Völker willen etwas Besonderes vor hat, und wir als Christen sollten zu
allererst ein feines Ohr für dieses Reden des lebendigen Gottes haben. Vor
allem aber sollten wir etwas davon ins neue Jahr mitnehmen. Verdoppeln muss
sich unsere Treue, vervielfachen unsere Liebe zu unserm Führer! Und felsenfest
muss unser Glaube an den Sieg unserer guten Sache wider alle Lüge und
Gemeinheit der gegen uns stehenden Welt werden. Wer jetzt noch verzagt ist, wer
jetzt noch darüber murrt, die Lasten mitzutragen, die das ganze Volk trägt, der
ist nicht mehr wert, ein Deutscher zu heißen, der beschmutzt aber zugleich auch
seinen christlichen Glauben an den Gott und Herrn, der immer wieder und heute
vor allem seine eindeutige Sprache redet. Gott segne unsren Führer! Gott schenke
Sieg unseren Waffen! Das sei unser Neujahrswunsch! Vorwärts mit Gott in
unwandelbarer Treue zu Führer und Volk! Das sei unsere Neujahrslosung!“ So wie
der Katharinenpfarrer äußerten sich in ganz Deutschland alle unterschiedlichen
kirchenpolitischen Gruppen unisono. So setzte sich die Aushöhlung des
evangelischen Glaubens in den Stadtgemeinden fort, wenn sie dieser Beschreibung
von v. Wernsdorffs folgten. So erflehte der Michaelispfarrer am Ende des
Kriegsjahres 1939 den weiteren Beistand Gottes: „Im Rückblick auf das alte Jahr
danken wir Gott für den gnädigen Schutz, den er unserem Führer in den Stunden
schwerster Gefahr verliehen. Aus tiefstem Herzen erflehen wir im Ausblick auf
das neue Jahr für Führer, Volk und Wehrmacht Gottes Beistand und Segen“.[40]
Treue und Liebe zu Hitler waren Glaubenssache, die fällige Untreue eine
Beschmutzung des Glaubens.
Die Kirche begleitet als „innere Front“ die Truppen im Frankreichfeldzug
Am 10. Mai 1940 fielen die Hitlertruppen in Frankreich
und unter Bruch der Neutralität auch in Belgien und Holland ein. Die
holländische und belgische Armeen kapitulierten innerhalb von vierzehn Tagen.
Unter der Überschrift „Die Stunde der Entscheidung“ veröffentlichte das
Braunschweigische Volksblatt fettgedruckt einen Kurzbericht, in dem es u. a.
hieß: „Der ungeahnte, unvorstellbare Siegesmarsch, mit dem unser Heer den
großen Entscheidungskampf im Westen begonnen hat, hält in diesen Tagen uns alle
in atemloser Spannung und reißt unsere Herzen mit zu Dank und Bewunderung“.
Holland habe kapituliert, die Truppen dringen in die belgische Hauptstadt ein,
die Maginotlinie sei durchbrochen. Die Herzen finden Ruhe im Gebet zu dem
Herrn über Leben und Tod, der uns alle in seiner Hand hält. „In tiefer Demut
beugen wir uns vor Ihm, der unserem Volk die Gnade gegeben hat, so Großes zu
vollbringen. Er halte seine schützende Hand über unseren Führer, und über alle,
die unseres Landes Grenzen schirmen. Er gebe auch und in der Heimat ein festes
Herz, dass wir uns der großen Stunde würdig zeigen, in der letzte Bewährung von
uns gefordert wird.“[41]
So wurde blankes Unrecht auch in der Kirche als „Großes“
frisiert.
Das Herz der Gemeindemitglieder zu festigen und die
Kirchengemeinde als innere Front zu stabilisieren, empfand Pfarrer Koenig als
die jetzt fällige eigentliche Aufgabe der Kirche. „Wir rufen tapfere, gläubige
Herzen. Unvergleichliche Großtaten hat unsere Wehrmacht vollbracht. Führung und
Kampftruppen aller Waffengattungen haben Erfolge errungen,, die man bisher
nicht für möglich hielt. Jeder Einzelne, Offizier wie Mann, setzte sein Letztes
ein, erfüllt von einem unüberwindlichen Glauben an den Sieg. Die Heimat will
dahinter nicht zurückbleiben. In unerschütterlicher Treue steht sie hinter der
Front. Es ist der s e e l i s c h e Einsatz, zu dem ein jeder, ob Mann oder
Frau oder Kind aufgerufen ist. Wir haben mit der Kraft unseres Herzens zu
kämpfen „für das heilige, göttliche Recht – gegen alles, was falsch und
schlecht“. Wir sind zu jedem Opfer bereit und „werfen das Schwert des Glaubens
hinein in den Gottesstreit:“ „Wir siegen, wir siegen, denn Gottes ist unsere
Sach/ und seinen Standarten gehen freudig und stolz wir nach/ Wir folgen dem
Herzog Christus und sei es in Not und Tod/ wir sind ja des Volkes
christdeutsches Aufgebot“.[42]
Den Aggressionskrieg Hitlers als Gottesstreit zu verkünden, signalisierte den
hohen Grad der Verkommenheit des theologischen Denkens.
Der Katharinenpfarrer v.
Wernsdorff erklärte seinen Gemeindemitgliedern im Gemeindebrief „Worum es
geht“, so der Titel seiner Glosse.[43]
Es sei das Gebot der Stunde, in dem „uns aufgezwungenen Kampf“ immer aufs neue
klar zu werden, „worum es in diesem Völkerringen geht“. Es gehe nicht um
Eroberungen, wehrte v. Wernsdorff verräterisch am Anfang ab, sondern um eine
Entscheidung zwischen Gott und Teufel, dem Glauben an den Sieg der ewigen Macht
und dem Glauben an den Triumph des satanischen Goldes. „Wenn die jüdischen
Plutokraten oder die jüdisch gesinnten Geldherrscher in London und Paris ihre
Völker in den Krieg hetzen und wenn auf unserer Seite eine aus deutschem Boden
und nationalsozialistischem Geist geformte junge Mannschaft zum Kampf antritt,
dann hebt im gleichen Augenblick die unsichtbare Geisterschlacht über den
Gefilden der Erde an, dann geht es um die Frage „Gott oder Mammon... soll der
tote Geldsack herrschen oder soll der lebendige Mensch mit seiner
Schaffenskraft das Antlitz der Erde gestalten?“ v. Wernsdorff beendete seine
Glosse mit folgendem Wunsch: „Dass unser deutsches Leben immer mehr von uns
verstanden werde als Gottesdienst, dass es den Sieg behalte in der Welt, und
den unter dem Fluch des Geldes gequälten Völkern der Erde einen wahren starken
Frieden bringe, das ist der letzte Sinn unseres Kampfes! Darum geht es! Und in
diesem Kampf helfe uns Gott“.
Allein die Tatsache, dass es keinen Friedensvertrag mit
Polen gegeben hatte, sondern Polen geteilt und entvölkert werden sollte, um
dort nordische, arische Menschengruppen anzusiedeln, konnte jedem Deutschen zu
diesem Zeitpunkt schon zeigen, dass es um nichts anderes als um Eroberung ging.
Die Besetzung Dänemarks und Norwegens seit April 1940 diente keinem anderem
Zweck als der Eroberung der Erzvorkommen und der Herstellung eines
faschistischen Kontinents. Verräterisch war auch die Überhöhung des bis dahin
noch begrenzten Krieges zu einem Superkampf zwischen zwei Ideen, welche künftig
die Welt beherrschen sollte. Das widersprach der eingangs aufgestellten
Behauptung vom aufgezwungenen Verteidigungskrieg. Der Krieg richtete sich nicht
auf die Verteidigung der deutschen Bevölkerung, sondern darauf, „den Völkern
Frieden zu bringen“, ausgerechnet unter Hitler. Das konnte nur bedeuten, die
ganze Welt in einen ewigen Kriegszustand zu versetzen.
Eine Predigt während des
Frankreichfeldzuges von Pfarrer Benndorf
„Eine Sinfonie der
Vernichtung“, titelten die Braunschweiger Neusten Nachrichten am 6. Juni 1940
nach der Einkesselung französischen und englischer Truppen. „Das Volk dankt
seinem Führer“, und Gott werde weiter mit denen sein, die den Sieg verdienen,
telegraphierte Rudolf Hess ins Führerhauptquartier. Die Nachricht aus dem
Führerhauptquartier wurde mit dem Choral „Wir treten zum Beten“ beendet. Hitler
befahl, acht Tage lang zu flaggen und an drei Tagen zu läuten. „Ihr Klang möge
sich mit den Gebeten vereinen, mit denen das deutsche Volk seine Söhne von
jetzt ab wieder begleiten soll.“[44]
Der Minister für die kirchlichen Angelegenheiten bestimmte die Mittagszeit von
12.00 Uhr bis 12.15 Uhr.
Nachdem am 14. Juni
deutsche Truppen das kampflos geräumte Paris eingenommen hatten, ordnete Hitler
an, erneut drei Tage lang zu flaggen und wieder die Glocken zu läuten. Vom 14.
–16. Juni läuteten in Braunschweig von 18.00-18.15 Uhr die Glocken.[45]
Am Sonntag darauf, dem 16. Juni predigten in Brüdern Uhrig, in der
Garnisonkirche Ernesti, in Jakobi Dosse, in Johannis Herdieckerhoff, in Martin
Luther Sander, in Katharinen Gennrich, in St. Georg Bosse, in Magni Rauls, in
Martini Rohde, in Michaelis Koenig, in Pauli Henneberger, in Petri Freise, in
Lehndorf Klapproth, in Riddagshausen Leistikow und in der reformierten Gemeinde
Benndorf.[46]
Die Predigt von Benndorf
ist uns erhalten. Pfarrer Benndorf, früher an der Martinikirche hatte den Text
Lukas 22,31-32: „Der Herr aber sprach: Simon, Simon, siehe der Satanas hat euer
begehrt, dass er euch möchte sichten wie den Weizen; ich aber habe für dich
gebetet, dass dein Glaube nicht aufhöre“, gewählt. Benndorf hatte bereits
während des 1. Weltkrieges in Braunschweig Kriegsandachten gehalten und
veröffentlicht. „Liebe Gemeinde! Am vergangenen Sonntag haben wir in heiliger
Freude unsre Herzen erhoben zum Herrn der Heerscharen und als Gemeinde Gottes
ihm aus tiefster Seele gedankt für die wunderbaren Siege und Erfolge, die er in
seiner Gnade unsern vorwärtsstürmenden Heeren geschenkt hat. Und wiederum liegt
eine Woche unaussprechlich großer Siege hinter uns, die uns mit immer neuer
Bewunderung vor unsern kämpfenden Brüdern mit Preis und Dank gegen den Lenker
der Schlachten erfüllen.
Da liegt die lichtvolle
Seite des Krieges vor uns: unvergleichlicher Heldenmut, opferbereite
Todesbereitschaft, glühende Vaterlandsliebe, herrliche Siege und Triumphe über
unsre Feinde. Aber es gibt auch eine andere, dunkle Seite des Krieges, die
heißt: Vernichtung, Opfer, Sterben jungen blühenden Lebens, ständiges Bangen
und Sorgen von ungezählten Vätern und Müttern, Frauen und Bräuten, Schwestern
und Brüdern, Trauer und Glaubensnöte. Auch dieser dunklen Seite gegenüber muss
ein Christ die rechte Stellung einnehmen.
Jesu Wort an Petrus zeigt uns den rechten Weg dazu...
Nur ein Weg führt aus allem Dunkel zum Licht und der heißt:
sich durchglauben. Halte aus im Glauben!“
Die Seelen der Gleichgültigsten würden aufgerüttelt werden
vom Sturmwind Gottes, der alte Lutherchoral „Ein feste Burg ist unser Gott“ zum
deutschen Volkslied und das deutsche Volkslied „Deutschland über alles“ zum
deutschen Volkschoral.
Aber das Fronterlebnis sei widersprüchlich. „So manche
unserer feldgrauen Brüder haben da draußen auf den Schlachtfeldern
Gottesbegegnungen gehabt, die ihnen unvergesslich bleiben ihr Leben lang. Im
Schützengraben, auf Feldwache und einsamen Posten, vor dem Sturm auf den Feind,
vor dem Angriff aus der Luft, auf dem Meer hat mancher wieder an seinen Gott
denken gelernt und die Hände gefaltet oder ein stilles Gebet aus dem Herzen zum
Himmel gesandt. Wir wissen es aus Briefen von der Front. Das sind beglückende
Erfahrungen. Aber auch das Gegenteil mussten wir erleben. Wir mussten von
Manchen hören, die aus der Hölle des Granatfeuers und Schlachtenlärms kamen:
wir glauben nichts mehr, unter den furchtbaren Erlebnissen da draußen ist uns
Gott fremd geworden, ist uns das Heilandsbild entwichen. Erschütternd sind
solche Bekenntnisse. Wir können sie verstehen, aber sie müssen uns mit tiefem
Ernst erfüllen.“
Darum müsse die Losung lauten für die deutsche Christenheit:
„Kämpfe dich nicht nur mutig mit dem Schwert hindurch durch diese Zeit, sondern
glaube dich hindurch! Halte aus im Glauben...
Wer sich durchgeglaubt hat, ward noch nie von Gott betrogen
im Leben. Seht unsre herrliche Luftwaffe an..Oder denkt an Näherliegendes.
Unser großer Führer glaubte in einer Zeit tiefster Schmach und Erniedrigung an
seinen Gott und sein deutsches Volk. Er glaubte sich hindurch und ward der
Retter unsres Vaterlandes und der Schöpfer unsres neuen, großen herrlichen
Deutschen Reiches.
So bleiben auch wir in allem Erleben bei unsrem Dennoch des
Glaubens....“
Die Predigt dokumentiert die fortschreitende Aushöhlung des
Glaubens durch die Festlegung auf den Sieg. Die Vielfalt und Reichhaltigkeit
des biblischen Textes ist eingetauscht gegen die Eintönigkeit und ständige
Wiederholung vom Heldenmut und der Opferbereitschaft. Zwar referierte Benndorf
auch den Krieg als Hölle, Vernichtung, Trauer und Glaubensnöten. Aber dieser
Zweifel wurde nicht fruchtbar und führt zu keinem gereiften Glaubens, er fiel
mit der peinlichen Behauptung von Hitler als einem Vorbild des Glaubens zurück
in eine erste infantiler Phase vom Sieg und dem großen herrlichen Deutschland.
Die Einseitigkeit konnte nur durch eine Steigerung der Phrasen (das Deutschlandlied
als „Volkschoral“) überboten werden. Die Predigt ist ein erschütternder
Vorgriff auf die tatsächliche Ruinenlandschaft, die sich nach vier Jahren um
den Predigtort, die Bartholomäuskirche und ihre Umgebung ausbreitete.
Zum dritten Mal Glockengeläut
Am 24. Juni wurde die „Waffenruhe“ durch
den Rundfunk gemeldet, und Hitler erließ eine Proklamation an das deutsche
Volk, in der er vom „glorreichsten Sieg aller Zeiten“ sprach und: „Inbrünstig
danken wir dem Herrgott für seinen Segen. Ich befehle die Beflaggung des
Reiches für zehn, das Läuten der Glocken für sieben Tage“[47]
Danach erklang der Choral „Nun danket alle Gott“.
Der für die Hauptstadtnachrichten
zuständige Redakteur der Neusten Nachrichten Erich Mundt verfasste unter dem
Choralanfang eine Glosse: „In machtvollen Akkorden stand der Choral gestern
abend mitten unter uns. Es war die Krönung einer Sondermeldung, wie sie in
diesen Tagen militärischen und politischen Geschehens nicht herrlicher hätte
widerfahren können. Voller Ergriffenheit hatten wir der knappen, so
bedeutungsvollen Fassung dieser weltgeschichtlichen Kunde aus dem
Führerhauptquartier gelauscht.“ Es gehe einem letzten Ziel entgegen und das
heißt Engelland.[48]
Die Glosse gibt die andächtige Stimmung in
der Braunschweiger Bevölkerung wieder. Was mochte Hitler veranlasst haben, die
Meldungen mit Gebetsaufrufen, bekannten Chorälen und der Aufforderung zum
Glockengeläuten zu umgeben? Entsprach sie gewissen religiösen Resten in seinem
geistigen Haushalt? Was bedeutete diese ausgesprochen kirchenfreundliche
Umhüllung im Hinblick auf die längst eingesetzte Entkonfessionalisierung der
deutschen Öffentlichkeit und vor allem auf die Gottgläubigen in seiner Partei?
Aber auch für Rosenberg, Himmler und Bormann? Verband sich der Dank in der
Tiefe des allgemeinen Bewusstseins mit dem Gefühl einer nunmehr gesättigten
Rache für Versailles, die als Heilung des Traumas von der Niederlage 1918
missverstanden wurde?
Oder wurde das Trauma, weil es der
Stillung der Rache diente, tatsächlich nur vertieft? In der Literatur wird
Hitler im Juni 1940 gerne als auf dem Gipfel seines Triumphes dargestellt.
Tatsächlich verbaute der Sieg für lange Zeit die Einsicht in die Niederlage
von 1918, vertiefte also das zerstörerische Trauma sowohl bei Hitler wie bei
der deutschen Bevölkerung und trieb die Erkrankung seinem Höhepunkt entgegen,
die in der totalen Niederlage und im Selbstmord endete.
Im Juni 1940 erschien die Vision eines
faschistischen Europas mit Deutschland, Italien, Spanien, Frankreich, Dänemark
und Norwegen greifbar nahe. Und es war endlich wieder ein „christliches
Europa“, im Sinne des Hitlerschen „positiven Christentums“.
Was Hitler tatsächlich plante, wurde bald
klar. Es gab keinen neuen Friedensvertrag, nicht Versailles drei. Sondern
Frankreich wurde geteilt und blieb besetzt. Hitler machte, was die Alliierten
1945 mit dem besiegten Deutschland machten: teilen und besetzen.
Der Stadtkirchenverband annoncierte in den Zeitungen die
Abhaltung von Dankgottesdiensten am 30. Juni 1940. Die Magnichronik vermerkte:
„Die Kriegsereignisse des Jahres fanden im kirchlichen Leben in mancherlei
Hinsicht ihren Niederschlag. Der gewaltige Vormarsch des deutschen Heeres, der
im Westen am 10. Mai begann und am 24. Juni mit dem Waffenstillstand beendet
wurde, war begleitet von den Bittgebeten und den Dankgottesdiensten der
Gemeinde, die ihren Höhepunkt in den Gottesdiensten am 30. Juni fanden“. Die
Predigt ging in 300 Stück zu den Soldaten an die Front.[49]
In der Stadt Braunschweig herrschte nach
dem Sieg über Frankreich eine merkliche Enttäuschung. Goebbels hatte zwar in
München und Berlin Jubelparaden inszeniert, in der Provinz tat sich dergleichen
nicht. Es gab keine Siegesfeier auf dem Platz der SS, vor dem ehemaligen
Schloss, keine auf dem Franzschen Feld. Auffälligerweise organisierten die
Ortsgruppen der NSDAP eine Versammlungswelle als kümmerlichen Ersatz. Neben den
zahlreichen Siegesmeldungen veröffentlichten die Lokalzeitungen halbseitig
lange, mit einem Eisernen Kreuz versehene Todesannoncen von der Front. „den
Heldentod für Führer, Volk und Vaterland“ oder: „getreu seinem Fahneneid
fiel..“. Meist waren elf Todesannoncen auf einer halben Längsseite platziert.
(siehe Kapitel 27)
Der Krieg als Deutsche Sendung für das Christentum in der Welt
Wie wenig der Sieg über das französische Heer das Trauma von
Versailles heilte, wird daran deutlich, dass sich eine tiefe Wurzel dieses
Übels wiederum rührte: der schon seit der Kaiserzeit tiefsitzende Hochmut von
der Sendung des Deutschen Reiches in die Welt.
So platzierte Pastor Koenig nach dem Ende des Krieges gegen
Frankreich in seinem Gemeindebrief als eine neue Aufgabe zur Fortführung des
Krieges eine besondere Sendung Deutschlands für die Welt. Die Deutschen haben
eine Sendung, eine Mission, nämlich den besonderen Auftrag Gottes, das
Christentum in der Welt zu verwirklichen. Der Glaube an Jesus Christus sei „ am
reinsten und schönsten vom deutschen Volk. Wir können das wohl als ein
besonderes Geschenk des Herrgottes für unser Volk betrachten, zugleich aber ist
es ein geschichtlicher Auftrag, den unser Volk für die Welt zu erfüllen hatte
und auch heute und künftig zu erfüllen hat.“[50]
Diesen historischen Unsinn versah Koenig mit der pathetischen Überschrift „Der
Deutschen Sendung für das Christentum“. Die europäischen Länder, die die
Deutschen bis Ende September überfallen und besetzt hatten, Polen Dänemark,
Norwegen, Frankreich, waren seit Jahrhunderten christianisiert und hatten
teilweise das Christentum schon wieder hinter sich gelassen. Das war auch
schlichten Gemeindegliedern der Michaelisgemeinde bekannt. Dieses
Sendungsbewusstsein war ein bösartiges Erbe der wilhelminischen Zeit, als
kirchliche Missionsarbeit und außenpolitische Kolonialpolitik Hand in Hand
gingen. Es hatte bereits als Motiv die Propaganda des ersten Weltkrieges
bestimmt. Es war der Ausdruck eines nationalen Hochmutes, der sich tief in das
Bewusstsein vor allem der bürgerlichen Schichten eingefressen hatte.
Das ideologische Programm der NSDAP hatte diese vor allem
nach der Niederlage des 1. Weltkrieges völlig unangebrachte Unart wieder
aufpoliert und durch eine unwissenschaftliche Herrenrassenideologie zu
verstärken verstanden.
Im Juli 1940 erschien die letzte Nummer des 9. Jahrgangs des
Michaelisboten. Der Herausgeber Pastor Koenig dankte und wünschte den Lesern
für den neuen 10. Jahrgang, der Gemeindebrief möge mithelfen, „das gesamte
deutsche Volk zu einer seelischen Einheit zusammenzufügen „Ein Volk – Ein
Führer – Ein Glaube! Diesem Hochziele soll an seinem Teile und in seinem
Wirkungsbereiche auch unser Gemeindeblatt dienen, den Ruf der Schicksalsstunde,
in die Gott unser Volk hineingeführt hat, verstehend. In Treue zu Führer und
Volk mit allen Lesern des „Michaelisboten“ verbunden grüßt mit H e i l H i t l
e r Der Herausgeber: Pastor Koenig“.[51]
Der Wunsch verdichtet das seit 1933 immer wieder vorgetragene Verlangen der
Kirche nach einer christlichen Volksgemeinschaft, nach einer „seelischen“
Einheit von Führer, Volk und christlichem Glauben.
Im Rückblick auf das Jahr 1940 schrieb Koenig im
Michaelisboten im Januar, dem Eismond 1941, schwärmerisch: „Nun liegt es hinter
uns, das Jahr 1940, und das neue Jahr steigt herauf. Deutsche Soldaten halten
in eiserner Wacht das Land umspannt, das die deutsche Wehrmacht 1940 in
deutschen Schutz genommen hat! Der riesige deutsche St. Michael ist
aufgebrochen. Er hält das Flammenschwert des Rechts in seinen Händen. Eine
neue, bessere Ordnung wächst, die den Völkern den Lebensraum schaffen wird, den
sie brauchen. Eine alte müde Welt versinkt, so zähe sie sich auch dagegen wehren
mag. Sie muss zerbrechen, weil die neue Ordnung auf eine höhere Gerechtigkeit
gegründet ist.“
Koenig verstand die kriegerischen Eroberungen als errungene
„Missionserfolge“ und die Eroberten entsprechend jenem alten Missionsmodelles,
als unbedarfte, niedrige Bevölkerung, der zu ihrem Heil das Christentum
eingeflößt werden müsse, nunmehr vermischt mit der gehörigen Portion von
Hitlerismus. Die neue Ordnung, von der Koenig schwärmte, war das Europa mit
einer rassereinen, vor allem judenfreien, großdeutschen Mitte, und locker dem
Nationalsozialismus verbundenen Nachbarländern sowie versklavten Staaten am
äußersten Rande. Diese christlich/nationalsozialistische kerndeutsche Mitte
pflegt das Gebet, jedoch anderes als die Väter. Ihr Beten hat sie „im Felde gelernt“.
Das persönliche Gebet trete zurück oder wird „eingetaucht in das Stahlbad einer
harten Zeit.“[52]
Die zweite Hälfte des ersten Kriegsjahres im Spiegel der
Jakobigemeindebriefe
Wer sich auf das Unrecht des Krieges einlässt, marschiert in
die Verdammnis des Zwanges, siegen zu müssen. Dieses dämonische Dogma des
Sieges lag wie ein Fluch auf der Kirche. Auf der Rückseite des Sieges lauert
die Angst vor einer Niederlage.
Es gab für die Kirche nur eine Möglichkeit, dem Zwang zu
entgehen, nämlich um des Friedens willen den Abbruch der Kriegshandlungen zu
verlangen, immer und immer wieder. Diesen Weg ging sie nicht. Stattdessen
stellte sich die gesamte Kirche, auch die Braunschweiger Stadtkirchen, unter
den Fluch, siegen zu müssen, was an den Gemeindebriefen jener Zeit anschaulich
wird. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der politische Anteil in den
Gemeindebriefen, z.B. der der Jakobigemeinde erheblich anwuchs. Vom Juli/August
1940 bis Mai/ Juni 1941 erschienen sechs Gemeindebriefe[53].
In diesen sechs Gemeindebriefen befanden sich allein 17 längere oder kürzere
politische Artikel, meist zum Kriegsgeschehen. In allen Artikeln wurde auf die
Notwendigkeit des Sieges verwiesen, die mit der Person Hitlers verbunden war.
Die meisten Artikel waren nicht persönlich gezeichnet, stammten also aus einer
Presseagentur, einige waren mit „dew“ bezeichnet. Anstatt eines geistlichen
Wortes wie üblich auf Seite eins wurde unter der Überschrift „Verantwortung“ in
der Juli/August Ausgabe die Rede Hitlers vom 19. Juli 1940 vor dem „Reichstag“
kommentiert und die „tiefe sittliche Verantwortung“ Hitlers gepriesen. Er sei
zum Krieg gezwungen worden, obwohl er einen großen deutschen Sozialstaat bauen
wollte und darin nun gestört sei. „Der Führer kennt nur das Ziel, der Welt zu
einem gerechten Frieden zu verhelfen, in dem allerdings sein Volk atmen und
leben kann. Diese tiefe Verantwortung für Volk und Völker ist die Größe des
Führers.“[54]
Die deutsche Bevölkerung wusste nicht, das Hitler, der Lügner, am Vortag die
Planungen für die Eroberung Englands verabredet hatte, aber sie konnte die
Passagen zum neuen deutsch-russischen Verhältnis als verlogen durchschauen.
Hitler hatte erklärt, das deutsch-russische Verhältnis sei endgültig
festgelegt, die „nüchterne Interessenfestsetzung“ für immer klargelegt. Wenig
Jahre vorher hatte Hitler damit geprahlt, die Kirche vor dem bolschewistischen
Abgrund gerettet zu haben. Im Hitler-Stalin Pakt dagegen hatte er den
bolschewistischen Staat vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit, mit viel
bebilderten Besuchen der beiden Außenministern in den Hauptstädten, Molotow in
Berlin, Ribbentrop in Moskau als vertragsfähig hingestellt.
Hitler zur Aufgabe aller weiteren Eroberungspläne
aufzufordern, wäre wohl als Verrat verstanden worden. So war es folgerichtig,
dass die Kirche auch die Besetzung Dänemarks und Norwegens hingenommen hatte.
„Das deutsche Volk liebt seinen Führer gerade wegen seines
tiefen Ernstes, mit dem er sich nicht nur seinem Volk, sondern vor dem ewigen
Gott in seinem großen Amt verantwortlich weiß. Wir können es nicht ertragen,
dass man den Edelsinn des Führers immer wieder verachtet und ihm unedle Motive
unterschiebt. Will man ihn nicht ernst nehmen, dann bleibt allerdings nur die
eine Möglichkeit, dass das scharfe deutsche Schwert weiter seine Sprache
spricht“, endete der Kommentar, der die Gemeindemitglieder im August 1940
schonungslos auf die Fortsetzung des Krieges vorbereitete.[55]
In einem weiteren Artikel wurde „Der Atem der großen Zeit“
besungen, nämlich die Fahrtenlieder der Jugend, in denen „der kämpferische
Geist einer großen Vergangenheit und der sieghafte Glaube an eine größere
Zukunft“ lebe. „Zwischen den Entscheidungen“ lautete der Titel des dritten
Artikels, der darauf Bezug nahm, dass der Angriff auf England bisher ausgeblieben
und offenbar kein Blitzsieg mehr zu erwarten gewesen war. Aber: „Wir warten
voller Spannung der letzten großen Entscheidung.. „Der Ring um die englische
Insel wird dichter“. Unverblümt beschrieb der Artikel das Ziel des Krieges:
„Eine neue Ordnung will wachsen, sie wird den gesamten europäischen Raum
umfassen von der skandinavischen Küste bis zum Bosporus, von der Weichsel bis
zu den Pyrenäen“.[56]
Es ging also gar nicht mehr um den angeblich nötigen Lebensraum“ für die
deutsche Bevölkerung, sondern um die Schaffung eines braunen Europas. In einem
vierten Artikel „Ein Wort an die Alten“ wurden die Alten
aufgefordert, für die an der Front kämpfenden Männer zu
beten, ihnen ein Neues Testament zu schicken und „jetzt zu helfen, die
Heimatfront zu stärken“. Der Artikel war persönlich gezeichnet. Ebenfalls vier
politische Artikel enthielt die September/Oktobernummer unter der Überschrift
„Gott ruft in die Geschichte“. Sie führen über das erste Kriegsjahr bereits
hinaus.
Die hoffnungslose Verirrung: das verchristlichte Deutschland als
innenpolitisches Kriegsziel
Wenn ganz Europa zum christlich-nationalsozialistischen
Missionsfeld erklärt wurde, war es folgerichtig, dieses Ziel trotz aller
Konflikte und Querelen mit Staat und Partei auch für das Großdeutsche Reich aufrecht
zu erhalten. Propst Leistikow hielt an diesem Ziel ausdrücklich fest und legte
es den Braunschweiger Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern nahe. Leistikow lud
seine Braunschweiger Mitarbeiterschaft am 1. Dezember 1940, dem 1.
Adventssonntag, zu einem Treffen in die Magnikirche ein, das außerordentlich
gut besucht war. Es wurden Adventslieder gesungen, Pfarrer Gennrich berichtete
aus der Männerarbeit, Frau Sinemus aus der Arbeit der Frauenhilfen und
Jugendwart Haferlach aus der Jugendarbeit. Propst Leistikow nahm in seiner
Ansprache eingangs ein Zitat von Ministerpräsident Klagges auf, wonach das
Verhältnis zwischen Deutschtum und Christentum nicht erst erfunden werden
müsse, sondern es bestehe „von Anfang an“. Der Auftrag für die christliche
Gemeinde, „um eine neue, echte Verchristlichung in unserm Volk zu ringen,
bleibt uns. Er ist der Gemeinde befohlen durch Gottes heiligen Geist. Die
gegenwärtige Zeit kann ihn uns nicht abnehmen.“ Die Gemeinde dürfe trotz allem
nicht ablassen, zu hoffen, zu ringen, zu warten, dass es einmal „eine große
Heimkehr zu Christus“ geben werde.[57]
Das Ende der Ökumene
Da England zu den Feindmächten gehörte, wurde auch die
anglikanische Kirche als plutokratische, machversessene christliche Kirche
karikiert. Der Brüdernpfarrer Uhrig veröffentlichte einen längeren Aufsatz
unter dem Titel „Christentum auf britisch“,[58]
der auch vom Katharinengemeindebrief übernommen wurde. Der Artikel endete mit
einem antisemitischen Ausfall: „Dieses britische Christentum, gewaltiger
Exponent im Machtstreben des britischen Weltreiches, verwechselt auf Schritt
und Tritt Religion mit Macht, wie der Herrgott eigens dazu bestimmt ist, das
britische Weltreich im Verlauf seiner Geschichte zu segnen. Der Geist, der aus
dieser Welt atmet, ist nicht christlich; er ist jüdisch-alttestamentlich. Mit
der Frohbotschaft Gottes, die uns Martin Luther schenkte, hat er nichts
gemein.“[59]
Uhrig stellte ein britisches Sendungsbewusstsein fest, das seit Jahrzehnten
entsprechend von der evangelischen Kirche für Deutschland reklamiert worden
war.
So endete das erste Kriegsjahr mit der Hoffnung auf einen
Sieg für die deutsche Wehrmacht, der aber in eine ungewisse Zukunft gerückt
war. Es musste also weiter für den Sieg gebetet und gebangt werden. Die
Aushöhlung von Kirche und Theologie unter dem Fluch des Sieges ging weiter. Ein
„Sieg“ indessen konnte im Inneren „gefeiert“, der Hitler noch in seiner
Todesstunde im Bunker 1945 noch Befriedigung verschaffte, der „Sieg“ über die
jüdische Bevölkerung in Großdeutschland. Jedes Ja Hitlers zur christlichen
Kirche war zugleich ein schroffes Nein gegen die jüdischen Deutschen, auch
schon in der Regierungserklärung 1933. Auch in der Stadt Braunschweig.
Deutsch - christliche Gottesfeiern und erstarkter
Antisemitismus
Im Sog des Krieges unternahmen die radikalen Deutschen
Christen einen neuen Anlauf zum Eindringen in die Stadtkirchengemeinden. Sie
versuchten, deutsch-christliche Gottesfeiern neben den traditionellen
Sonntagsgottesdiensten zu etablieren. Die Deutschen Christen hatten in Thüringen
eine besonders radikale Form entwickelt und über die Landeskirchengrenzen
hinaus auch Sympathisanten in anderen Landeskirchen gewonnen, in Braunschweig
bei Pfarrer v. Wernsdorff, der nach eigenen Aussagen jetzt erst den Deutschen
Christen beitrat, und Pfarrer Brutzer von der Magnikirche.
Im Entnazifizierungsverfahren begründete v. Wernsdorff
ausführlich seinen Beitritt, von dem ihm Propst Leistikow dringend abgeraten
hatte. „Ich bin 1939 den Deutschen Christen beigetreten, um in meiner sehr
unkirchlichen, aber sehr nationalsozialistischen Gemeinde in Braunschweig
überhaupt eine Plattform für die Verkündigung von Christus, unserm Heiland und
Erlöser, zu haben. Politische Gründe haben mich nicht dazu bewegt, da ich ein
gänzlich unpolitischer Mensch bin.“ [60]
Die Thüringer Deutsche Christen blieben hartnäckig bei
ihren Irrlehren, wie sie Pfarrer Grüner in der Martinikirche schon im April
1934 veröffentlicht hatte, bei einer Gleichsetzung von Gottesreich und Drittem
Reich und einer „entjudaisierten“ evangelischen Kirche. Dazu hatten sie eine
eigene schlichte Liturgie entworfen. Die Bremer Kirche hatte ein eigenes
deutsch-christliches Gesangbuch verfasst. Die Kirchenvorstände der
Stadtkirchengemeinden sträubten sich heftig gegen diese deutsch-christlichen Absichten,
die jedoch vom Bevollmächtigten der Finanzabteilung im Stadtkirchenamt Dr.
Breust, dem unentwegten Nazi und Deutschen Christen, heftig unterstützt und
gegen die Vorstände pro Monat reihum in einem der Braunschweiger Stadtkirchen
zur Hauptgottesdienstzeit durchgesetzt wurden. Sie wurden jeweils im
Katharinengemeindebrief und auch in den Kirchennachrichten bekannt gegeben:
eine deutsch-christliche Gottesfeier“ am 27.8.39. in Pauli; am 3.12.1939 10 Uhr
in Magni; am 26.5.1940 10 Uhr in Martini; 28. Juli 1940 10 Uhr Johannis; am 26.
Januar 1941 10 Uhr in der Paulikirche. Dazu wurden auswärtige Pfarrer
eingeladen. Diese Gottesfeiern waren ausgesprochen schlecht besucht.
Mit dem Erstarken der Deutschen Christen wuchs auch der
Antisemitismus. In der Katharinenkirche fand am 12. und 13. Juni 1940 eine
Tagung der deutsch-christlichen Arbeitsgemeinschaft niedersächsischer Pfarrer
statt, bei der Prof. Hirsch, Göttingen zwei Vorträge über den Philipperbrief
und der Danziger Bischof Beermann über Fragen des Konfirmandenunterrichtes
informierte. Der Bremer Bischof Weidemann übte mit den ca 40 Teilnehmern Lieder
aus dem neuen deutsch-christlichen Gesangbuch. Ein Kirchenkonzert in der
Katharinenkirche und ein Kameradschaftsabend beschlossen beide Tage. Die Tagung
wurde auch von OLKR Dr. Breust besucht und finanziell gefördert.
Am 5. und 6. Februar 1941 fand erneut eine Tagung in der
Katharinengemeinde, dieses mal zusammen mit dem „Institut zur Erforschung des
jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ statt. Prof. Hirsch
erklärte auf dieser Tagung: „Wenn es der Kirche und der theologischen
Wissenschaft nicht gelingt, diese jüdische Überfremdung aufzuweisen und das
jüdische Überkleid abzulegen, werden wohl die Sterbeglocken der Kirche noch
läuten, aber die Taufglocken immer seltener erklingen“. [61]
Der Antisemitismus war in der Kirche „wissenschaftlich“
längst vorbereitet. Dr. Max Maurenbrecher hatte in einem Kommentar zum
Galaterbrief des Apostels Paulus behauptet, dass es in Galatien in Kleinasien
Reste einer nordischen Kultur der Kelten gegeben habe, die aus dem 4.
Jahrhundert vor Chr. stammten.[62]
Diese Kelten in Galatien waren „die ersten Vertreter einer nordischen Rasse,
die mit dem Evangelium in Verbindung gekommen waren“. Im Galaterbrief kämpfe
Paulus gegen seine jüdischen Rassegenossen für die Freiheit der nordischen
Länder, dass der Heiland in ihnen Gestalt gewinne. „Das ist die
weltgeschichtliche Bedeutung des Galaterbriefes.“ „Uns ist der Kampf des
Galaterbriefes, der Kampf gegen den jüdischen für den nordischen Christ,
wirklich ein Sinnbild, in dem wir unsere letzte, tiefste, höchste Bestimmung
erschauen dürfen.“ Die Christenheit verdanke also dem Apostel Paulus „die
Erkenntnis des grundsätzlich Unjüdischen des Evangeliums“.
Pastor Koenig zitierte daraus zustimmend in einem Beitrag im
Gemeindebrief „Der Heiland der Deutschen“ in Michaelisbote September-Scheiding
1939.[63]
Den Gemeindemitgliedern der Michaelisgemeinde sollte der Eindruck vermittelt
werden, dass ein seriöser biblischer Kommentar den vollständigen Gegensatz
zwischen einem nordischen und einem jüdischen Christ, zwischen dem Evangelium
und der jüdischen Religion behauptet. Das Judentum wurde vom Kommentator als
„Rasse“ missverstanden. Dieser Kommentar gehört in die Reihe völkischer „Kommentare“,
als welche sich auch der Markuskommentar, das Urevangelium, von Dietrich
Klagges ausgab. Vom theologisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus musste man
auf derlei interessengeleitete Versuche der nordischen Umdeutung der Bibel
nicht eingehen, verheerend indes war es, dass ein Braunschweiger Pfarrer sich
dazu verstand, diesen Kommentar unkritisch zu übernehmen und sich damit in die
antisemitische Front der Nationalsozialisten einreihte.
Die antijüdisch-antisemitischen Einlassungen von Pfarrer
Koenig waren kein einmaliger Ausrutscher. Ausführlich entfaltete Koenig in
seinem Beitrag „Jesu Botschaft antijüdisch“ im Michaelisbote August Ernting
1940 seine Thesen. Unter den Kurzüberschriften „Das Gesetz“, „der Tempel“, „das
Reich Gottes“, „Lohngesinnung“, „Rachegeist“, „Engherzigkeit“ karikierte Koenig
die jüdische Frömmigkeit und kam zu dem vernichtenden Schluss: „Auf der ganzen
Linie steht Jesus im härtesten Gegensatz gegen das jüdische Wesen. Das
Christentum ist nicht etwa aus dem Judentum hervorgegangen, sondern es ist im
Kampf gegen das Judentum entstanden. So ist es auch unsere Aufgabe, alles
Jüdische um uns und auch in uns im Sinne Jesu zu bekämpfen.“ Zum „Jüdischen um
uns“ gehörte gegenüber der Michaeliskirche, fast auf der anderen Straßenseite
die Synagoge, die 1938 zerstört worden war. Die Auslegung Koenigs ist eine
späte Bestätigung der nazistischen Barbarei.
Um diese Zeit wurden den noch in Braunschweig verbliebenen
jüdischen Braunschweiger in ihren Wohnungen gekündigt, sie mussten ausziehen
und wurden städteamtlich in neun Häusern „zusammengefasst“. Am Gaußberg 1
wohnten sieben Personen, in der Hagenbrücke 6-7 fünf Personen, in der
Ferdinandstraße 9 elf Personen, im Neuen Weg elf Personen, Meinhardshof 3
sieben, in der Hennebrgstr.7 fünf Braunschweiger. Sie hatten keine finanziellen
Mittel, um ins Ausland zu flüchten oder waren zu alt oder hingen noch an
Braunschweig, sie hatten keine Heimat woanders. Aber die arische Stadt- und
Volksgemeinschaft fühlte sich durch ihre Anwesenheit befleckt, so zusammengefasst
war der städtische Zugriff für eine endgültige Beseitigung einfacher. Außerdem
waren wieder einige Wohnungen frei geworden. Zehn Braunschweiger hatten 1940
noch aus dem arischen Braunschweig emigrieren können, andere wurden in
geschlossenen Transporten weggeschafft. Einer Liste im Stadtarchiv zufolge
hielten solche Beseitigungstransporte auch auf dem Braunschweiger Haupt- oder
Ostbahnhof: am 21. 1. 1942 Richtung Riga, am 31.3.1942 Richtung Warschau, am
11.4.1942 unbestimmt Richtung Osten, am 11.7. 1942 nach Auschwitz, 1942
insgesamt sieben Transporte, 1943 vier.