Ein tapferer Kirchenvorstand beugt sich nicht dem
bürokratischen Naziterror
Die Beurlaubung von Pfarrer Alfred Goetze[1]
Wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel traf die
Pauligemeinde und ihren Kirchenvorstand die sofortige Beurlaubung ihres langjährigen
Pfarrers Alfred Goetze am 10. November 1938. Goetze war 58 Jahre, seit 1915 an
der Pauligemeinde, als gebürtiger Berliner im kaiserlichen Berlin Schüler und
Student gewesen, deutsch-national und kirchlich liberal und ziemlich
widerständisch: eine typisch preußische Mischung. In der Weimarer Zeit hatte er
mit großer Energie evangelische Elternbünde in der Stadt und in der
Landeskirche gegen die sozialistische Schulpolitik organisiert und konnte
ziemlich giftig werden. Klein von Statur, leicht gehbehindert nannte ihn sein
Kollege Johann Heinrich Wicke nur „den Giftzwerg“. Er war 1933 Mitglied des
Braunschweiger Pfarrernotbundes geworden und hatte als nunmehr Dienstältester
neben den Kollegen Schwarze und Henneberger einen angesehenen, soliden Platz in
seiner Gemeinde.
Goetze hatte am Tag nach der Pogromnacht, in der die
Braunschweiger Synagoge und jüdische Geschäfte zerstört oder verwüstet und
über hundert jüdischen Mitbürgern abtransportiert worden waren, einen
Telephonanruf von OKR Dr. Breust erhalten, der ihm im Auftrag des
Finanzbevollmächtigten Hoffmeister im Landeskirchenamt mitteilte, dass ihm die
Vornahme aller Amtshandlungen untersagt wäre. Es wäre denkbar gewesen, dass
auch die Wohnung der Familie Goetze von SA-Leuten überfallen und Goetze abtransportiert
worden wäre. Denn die Mutter Goetzes war Jüdin gewesen, daher galt ihr Sohn
Alfred nach den unsäglichen Nürnberger Rassegesetzen als „Halbjude“. Diese
Stigmatisierung brauchte die Kirche nichts anzugehen, denn die Mutter Goetzes
war nach der Geburt ihres Sohnes Alfred getauft worden und damit Christin und
Glied ihrer evangelischen Kirchengemeinde in Berlin gewesen. Aber die
Nationalsozialisten hatten bereits 1924 den antisemitischen Artikel ihres
Parteiprogramms so interpretiert, dass die Taufe an der rassischen Einstufung
als Jude nichts ändere. Das hätte begreiflicherweise für eine Landeskirche
keinerlei Bedeutung haben müssen.
Nicht alle hingegen waren überrascht, unter ihnen das
frühere Mitglied des Kirchenvorstandes Ball. Ball hatte schon vor eineinhalb
Jahren an Staatsrat Bertram einen Brief geschrieben und ihm davon berichtet,
dass in der Paulikirchengemeinde bekannt geworden sei, dass Pfarrer Goetze
„Halbjude“ sei.
Ball fügte an: „Ich bin s.Zt. von der Partei in den
Kirchenvorstand der Pauligemeinde eingesetzt worden. Ich bitte Sie, mit allen
Mitteln zu versuchen, dass dieser Pfarrer seines Postens enthoben wird.“[2]
Er könne als politischer Leiter sich von einem Halbjuden keine Vorschriften
machen lassen. Goetze müsse verschwinden. Die Denunziation zeigte Wirkung. Die
Kirchenregierung drängt Goetze, den Vorsitz im Kirchenvorstand, den er erst
seit 1936 für sechs Jahre lang innehatte, niederzulegen, was Goetze dann auch
tat, vor allem, um seinen Sohn zu schützen, der in Wolfenbüttel das 1.
theologische Examen abgelegt hatte. Es ist unklar, wie lange Ball noch
Mitglied des Kirchenvorstandes geblieben ist. Er hatte noch an der
Kirchenvisitation am 28. November 1937 teilgenommen. Ball schien am 10.
November 1938 am Ziel seiner kirchenpolitischen Wünsche zu sein.
Der rechtswidrige Bescheid
Der ansonsten in Rechtssachen bekanntermaßen gewiefte
Oberkirchenrat Dr. Breust, der im Stadtkirchenamt Braunschweig als der
verlängerte Arm des Finanzbevollmächtigten Hoffmeister in Wolfenbüttel amtierte,
hätte diese rechtswidrige Anweisung gar nicht weitergeben dürfen. Hoffmeister
war für Personalfragen überhaupt nicht zuständig, Es gab obendrein keine
Rechtsgrundlage, nach der Goetze hätte beurlaubt werden können. Ein derart
schwerwiegender Vorgang war schon gar nicht telephonisch zu übermitteln. Goetze
hatte keinen Anlass, auf dieses Telephongespräch zu reagieren, aber die
Atmosphäre war durch den überall sichtbaren Staats- und Parteiterror bereits
furchterregend und einschüchternd. Wen konnte es noch treffen? Auch der
frühere 65jährige Seminardirektor Pastor Niemann in Gr. Stöckheim wurde aus
demselben Grund am selben Tag vom Dienst beurlaubt.
Die Kirchenleitung beugte sich dem Unrecht
Es war noch unklar, wie sich das Landeskirchenamt zu dieser
Rechtswidrigkeit verhalten würde. Landesbischof Johnsen war am 10. November in
Berlin. Unter dem Datum 12. November erhielt Goetze nun einen schriftlichen
Bescheid, unterzeichnet von OKR Röpke, der die telephonische Beurlaubung vom
Dienst schriftlich bestätigte. „Wie Ihnen bereits durch Herrn Oberkirchenrat
Dr. Breust mitgeteilt, haben Sie sich bis auf weiteres jeglicher Ausübung
pfarramtlicher Geschäfte zu enthalten. Röpke.“[3]
Pfarrer Schwarze erhielt unter demselben Datum den Bescheid, die Vertretung für
Goetze zu übernehmen.
Die Lage hatte sich also auch in der Kirchenbehörde so
grundlegend verändert, dass der Landesbischof, der Personalreferent Röpke und
auch der für theologische Fragen zuständige OKR H.E. Seebaß der Durchführung
dieser geschäftsordnungswidrigen Anweisung trotz fehlender Rechtsgrundlage
Folge leisteten. Dem schriftlichen Bescheid von OKR Röpke fehlte
begreiflicherweise jede Begründung. Aber er deutete auch Unsicherheiten in der
Beurteilung der Lage an: die Beurlaubung galt „bis auf weiteres“, und sie war
nicht vom Landeskirchenamt ausgegangen. Dass die Mitteilung von Dr. Breust
erfolgt war, war ein Hinweis, dass an der Maßnahme das Landeskirchenamt
ursächlich nicht beteiligt sein wollte.
Der Protest des Kirchenvorstandes
Goetze protestierte bei der Kirchenkanzlei in Berlin gegen
die schriftliche Anweisung Röpkes und wies auf die fehlende Rechtsgrundlage
hin. Auch der Kirchenvorstand beriet die Lage und stellte sich unerschrocken
einstimmig hinter Pastor Goetze.[4]
Dem Pauli- Kirchenvorstand gehörten damals Prof. Kellner als 1. Provisor,
Kaufmann Grosse als 2. Provisor, Prokurist Ball, Bankbeamter Dannenberg,
Buchhalter Engelland, Studienrat Hesse, Landgerichtsdirektor Höse,
Kriminalsekretär Jorns, Oberingenieur Kirchberg, Studienrat Dr. Klingenspor,
Fräulein Löhnefinke, Frau Lüddeckens, Witwe Tetzlaff, Prof. Mack, Kohlenhändler
Meier, Juwelier Ring, Polizeibüroassistent Urban.[5]
Der anlässlich der „Wahlen“ im Sommer 1933 gebildete Kirchenvorstand war schon
wenige Zeit später auseinandergefallen, und 1935 war auf Vorschlag der drei
Paulipfarrer ein neuer Kirchenvorstand bestimmt worden. „Die
Kirchenvorstandsmitglieder verwalten die ihnen aufgetragenen Ämter sehr
gewissenhaft. Beteiligung am kirchlichen Leben im allgemeinen gut, bei manchen
vorbildlich“, hatte Pfarrer Schwarze auf dem Visitationsbogen vermerkt.
Goetze sollte also nach dem Willen des
Paulikirchenvorstandes weiterhin Seelsorger ihrer Kirchengemeinde sein. Diese
Erklärung konnte nicht geheim bleiben und war für jene Mitglieder des Kirchenvorstandes
mit einem hohen Risiko verbunden, die in Staatsdiensten auf das Wohlwollen von
Partei und Staat angewiesen waren, wie Landgerichtsdirektor Karl Höse,
Kriminalsekretär Jorns, der bei der Polizei tätige Urban, aber auch Studienräte
und Bankbeamte. Der Beschluss des Pauli Kirchenvorstandes war ein Beispiel für
die Wolfenbüttler Kirchenleitung, die Anweisung von Hoffmeister nicht
widerspruchslos hinzunehmen.
Die Haltung des Pauli Kirchenvorstands war deshalb besonders
bemerkenswert, weil Solidaritätserklärungen vom Braunschweiger Propst, aus der
Stadtpfarrerschaft und auch vom Pfarrernotbund zunächst offenbar ausblieben.
Der Konflikt wurde ausschließlich auf dem Rücken der Kirchengemeinde Pauli
ausgetragen. Nun hatten die beiden anderen Pastoren alle anfallenden
Amtshandlungen, Konfirmandenunterricht und Gottesdienste zu vertreten.
Es blieb nicht bei einem einmaligen Protest des
Kirchenvorstandes. Am 3. September 1939, zwei Tage nach dem Überfall der
deutschen Wehrmacht auf Polen, tagte der Kirchenvorstand von Pauli und
beschloss ein Schreiben an den Landesbischof und bat erneut um die
Wiederverwendung von Goetze. Die hohen Anforderungen, die gegenwärtig an jeden
deutschen Mann gestellt würden, verlangten dringend den Einsatz aller
verfügbaren Kräfte auch in der Seelsorge. „Der Kirchenvorstand von St. Pauli
bittet daher einmütig, eine solche Beauftragung des Herrn Pastor Goetze
baldmöglichst auszusprechen zu wollen.“ [6]
Der Kirchenvorstand wollte unbedingt vermeiden, dass das Schreiben im Landeskirchenamt
unterging, und sandte es, unterzeichnet von Pastor Schwarze, zur Kenntnisnahme
auch an den stellvertretenden Propst Kalberlah und an Pastor Goetze selbst „zur
gefälligen Kenntnisnahme und mit der Bitte, auch seinerseits in jeder ihm
geeignet erscheinenden Weise dahin zu streben, dass er um der Gemeinde willen
baldigst sein Amt ausübt.“ Das war eine beispielhafte, tapfere Haltung, und
Pastor Goetze wusste, dass er mit der geschlossenen Unterstützung seines
Kirchenvorstandes rechnen konnte.
Die „lex Goetze“
OLKR Röpke schickte den Antrag am 5. September 1939 an die
Kirchenkanzlei in Berlin mit der dringenden Bitte, über den Antrag des
Kirchenvorstandes eine Entscheidung herbeizuführen, anstatt selber eine tapfere
Entscheidung zu treffen. Auch Goetze schaltete sich mit persönlichen Gesprächen
und zahlreichen Briefen an die Kirchenkanzlei in sein Verfahren ein. Nach wie
vor fehlte es der Kirchenbehörde an einer stichhaltigen Begründung zur
Entfernung Goetzes aus dem Dienst. Allein aus diesem Grund schuf die
Braunschweiger Kirchenbehörde das erbärmliche Kirchengesetz Nr. 5339 „über die
Versetzung eines Geistlichen in den einstweiligen Ruhestand“.[7]
Danach konnte die Kirchenregierung einen Pfarrer in den Ruhestand versetzen,
„wenn es das Wohl der Gesamtkirche“ erforderte. Der Vorsitzende des
Pfarrervereins, Propst Hans Ernesti, Querum, kündigte umgehend Protest gegen
dieses Gesetz an und lieferte einige Monate später eine ausführliche
Begründung. Durch dieses Gesetz waren die Pfarrer der Landeskirche praktisch
nicht mehr ihres Amtes sicher. Das Gesetz erhielt den Spitznamen „lex Goetze“,
weil es nunmehr die rechtliche Handhabe bot, Goetze aus dem Paulipfarramt zu
entfernen. Es war eines der ersten Gesetze, die im Herbst 1945 aufgehoben
wurden. Nun konnte die Kirchenregierung Goetze mitteilen, dass seine Entfernung
aus der Pauligemeinde mit „dem Wohl der Gesamtkirche“ begründet werde.
Erneuter Protest des Kirchenvorstandes
Diese Begründung ließ der Kirchenvorstand, der darin zu
Recht eine Diskriminierung der Gemeindearbeit Goetzes sah, nicht gelten, hielt
am 21. Januar 1940 eine Kirchenvorstandssitzung ab und schrieb am 22. Januar
1940 an die Kirchenregierung, es wäre ihm „nichts bekannt, was einer
ersprießlichen Arbeit des Pastor Goetze in unserer Gemeinde“ entgegenstünde.
Pointiert fügte der Kirchenvorstand hinzu, insbesondere bitte der
Kirchenvorstand um Auskunft, „ob etwa die nicht rein arische Abstammung von
Pastor Goetze“ die oben erwähnte Maßnahme veranlasst habe.[8]
Dieser Brief war eine furchtbare Blamage für die gesamte Kirchenbehörde. „Etwa“
sollte bedeuten, dass die längst bekannte Tatsache, dass die Mutter Goetze mal
jüdisch gewesen war, für den Kirchenvorstand keinesfalls ein Grund für die
Entfernung aus dem Dienst der Kirchengemeinde sein konnte. Der Kirchenvorstand
widersetzte sich hartnäckig den Maßnahmen der Finanzabteilung, der
Kirchenregierung, des Bischofs und des Landeskirchenamtes, die sich offenkundig
alle darin einig waren, Goetze opfern zu müssen, um Wohlwollen der Partei für
die Landeskirche zu erlangen. Der Brief war von Pastor Schwarze unterzeichnet.
Es wäre möglicherweise noch eindrucksvoller gewesen, wenn auch Pastor
Henneberger den Brief mit unterzeichnet hätte. Aber Henneberger hielt sich
während des ganzen Verfahrens bedeckt.
Schützenhilfe aus Berlin und die Amtshandlung Goetzes
Der Kirchenvorstand erhielt unerwartet Schützenhilfe aus
Berlin. Das Landeskirchenamt erreichte auf die Anfrage von Röpke am 26. März
1940 einen Bescheid von der Kirchenkanzlei, wonach Goetze wegen seiner
„nichtdeutschblütigen Abstammung“ nicht aus dem Dienst entlassen oder in den
Ruhestand oder Wartestand versetzt werden dürfte. Er behielte alle Ansprüche
auf Dienstbezüge, Versorgung und Amtsbezeichnung in vollem Umfang weiter, er
dürfe zwar keine Amtshandlungen vornehmen „mit Ausnahme solcher Amtshandlungen,
die er auf besonderen Wunsch der Beteiligten im geschlossenen Kreis vollzieht.“[9]
Auf dieses Schreiben berief sich Goetze, als zum Entsetzen des Braunschweiger
Propstes in der Braunschweiger Tageszeitung vom 11. August 1940 eine
Danksagung mit Namensnennung von Goetze für die Abhaltung einer Beerdigung
erschienen war. „Was tun?“ schrieb Leistikow an Röpke. „Ich hatte Herrn P.
Goetze zur Rede gestellt, wie er dazu käme, gegen die eindeutige Verfügung vom
12.11.1938 und zuletzt noch die Verfügung vom 25.6.1940 zu handeln“.[10]
Goetze zeigte Leistikow das Schreiben der Kirchenkanzlei, wonach „im kleinen
Kreise“ eine Amtshandlung möglich wäre. Goetze war also nach wie vor vom
Kirchenvorstand und auch von Kreisen seiner Kirchengemeinde getragen. Das
Landeskirchenamt hatte von der Berliner Kirchenkanzlei freie Hand für die
Behandlung des „Falles Goetze“ erhalten.
Auch das Landeskirchenamt erhielt einen es irritierenden
Bescheid von der Kirchenkanzlei vom 27.5.1940, in dem es hieß: „Im staatlichen
Raume würden nach den geltenden Bestimmungen der Tatbestand, dass ein Beamter,
der zwar Halbjude aber im Besitz des Reichsbürgerrechts ist (wie Goetze) nicht
dazu ausreichen, ihn aus dem Amt zu entfernen“.[11]
Das „nicht“ war im Original sogar unterstrichen. Wenn jene indes im
öffentlichen Dienst in einer führenden Stellung tätig wären, würden sie
zurückgezogen und etwa in einem Archiv beschäftigt. Der Kirchenregierung bliebe
es überlassen, ebenso zu verfahren. Es herrschte also auch in den Berliner
Stellen keine eindeutige Klarheit. Propste Leistikow schwenkte auf die Linie
des Kirchenvorstandes ein und schrieb an das Landeskirchenamt: „Mit mir würde
es auch der Vorsitzende des Kirchenvorstandes St. Pauli, Herr Pastor Schwarze,
begrüßen, wenn Herr Pastor Goetze erlaubt würde, auf besonderen Wunsch in
geschlossenem Kreis Amtshandlungen vollziehen zu dürfen. Unter solchen
Amtshandlungen verstehe ich Trauungen, Taufen, Beerdigungen und
Privatabendmahlsfeiern.“[12]
Der vierte Protest des Kirchenvorstandes
Zum vierten Mal wurde der Kirchenvorstand vorstellig und
zwar dieses Mal persönlich. Am 3. Februar 1941 gingen Pastor Schwarze,
Landgerichtsdirektor Höse und Studienrat i. R. Klingenspor ins Landeskirchenamt
und legten den OLKRäten Röpke und Seebaß in einem fast zweistündigen Gespräch
den Standpunkt des Kirchenvorstandes vor, Höse den juristischen Standpunkt,
Klingenspor den theologischen und Schwarze den von der Gemeindearbeit aus.
„Sie machten geltend, das nach Ansicht des Kirchenvorstandes die Möglichkeit
eines Weiteramtierens des Pastor Götze gegeben sei, zeichneten anerkennend die
Persönlichkeit Götzes als Pfarrer und Prediger und baten, Götze doch im Amt zu
belassen.“ OLKR Seebaß ging auf die vorgebrachten theologischen und die
Gemeinde betreffenden Argumente offenbar nicht ein, während Röpke den
Kirchenvorstehern ungerührt erklärte, an der Versetzung in den Wartestand wäre
nichts zu ändern, sie sei außerdem notwendig im Interesse der Gesamtkirche. Die
Kirchenvorsteher mussten mit der bitteren Erkenntnis nach Hause fahren, daß
sich die beiden theologischen Oberlandeskirchenräte den Standpunkt der
nationalsozialistischen Finanzabteilung völlig zu eigen gemacht hatten. Mit
dieser Entscheidung und nach diesem Gespräch war einem Weiteramtieren beider
Oberlandeskirchenräte nach 1945 eigentlich die Grundlage entzogen. OLKR Seebaß
blieb bis zu seinem Tod 1957 im Amt, OLKR Röpke bis zu seiner Emeritierung
1963. Die Kirchenvorstandsmitglieder baten, über den Besuch einen Vermerk zu machen
und ihn zu den Akten zu nehmen. So ist dieses Gespräch überliefert worden.[13]
Die verstockte Kirchenbehörde
Noch im selben Monat erhielt Goetze mit dem Datum vom
24.2.1941 seine von OLKR Röpke unterzeichnete definitive Entfernung aus dem
Dienst der Landeskirche. „Es ist Ihnen bekannt, daß Ihnen seit dem 10. November
1938 wegen Ihrer nicht rein arischen Abstammung – Sie haben einen jüdischen
Elternteil – die Ausübung des Dienstes untersagt ist. Das Wohl der Gesamtkirche
erfordert bei dieser Sachlage, daß Sie künftig nicht mehr ein öffentliches
Pfarramt der Braunschw. Landeskirche bekleiden. Außerdem ist es notwendig, die
Möglichkeit einer anderweitigen Besetzung Ihrer Pfarrstelle zu schaffen. i.V.
Röpke“.[14]
Mit diesem Schreiben war die theologische Unterordnung des Taufsakramentes
unter die mörderischen Rassengesetze und die aus dieser Häresie folgenden
Dienstentfernung eines Pfarrers aktenkundig.
Goetze legte sofort Widerspruch gegen die Entscheidung ein
und verzögerte auf diese Weise den Vollzug der Entscheidung.
Der Schachzug mit dem Landgericht
Nun zögerte Goetze das Verfahren durch eine Klage vor dem
Landgericht Braunschweig hinaus und ließ sich von Rechtsanwalt Justizrat H.
Dedekind vertreten. In einem 30 Seiten langen Schriftsatz bestritt Dedekind die
Rechtmäßigkeit der Beurlaubung und des Gesetzes vom Dezember 1939, „das an
rücksichtsloser Ausschaltung aller Sicherungen für den Pfarrerstand über alle
anderen Landeskirchlichen Wartestandgesetze, auch über das bis dahin radikalste
– das in Bremen..hinausgeht.“[15]
Dedekind betonte „die ganz eindeutig nationale, völkische Gesinnung und Haltung
, die der Kläger als Pfarrer und besonders als Geschäftsführer des
Landeselternbundes im öffentlichen Kampf gegen Kommunismus und
Gottlosenbewegung in den Jahren 1918-33 an den Tag gelegt habe und das
einmütig bekundete Vertrauen des Kirchenvorstandes. „Durch mehrfache Entsendung
von Abgeordneten ins Landeskirchenamt wie durch schriftliche Eingaben hat sich
der Kirchenvorstand von St. Pauli nunmehr bald drei Jahre hindurch bemüht,
seinen Pfarrer für die seelsorgerliche Arbeit in der großen Gemeinde wieder
frei zu machen und zum Einsatz zu bringen.“ Goetze hatte insofern Erfolg, als
die Beschlußstelle der Kirchenkanzlei die Sache an sich zog und eine
Urteilssprechung verschoben wurde.
Goetze nutzte die vom Gericht geschaffene Pause dazu, das
Landeskirchenamt im Herbst 1941 darauf hinzuweisen, daß seine Dienstentfernung
auch parteipolitisch unnötig wäre. Die ebenfalls „rassistisch belastete“
Tochter Goetzes hatte aus dem Führerhauptquartier schriftlich eine persönliche
Entscheidung Hitlers, „daß Fräulein Ingeborg Goetze in Braunschweig Wilhelm
Bodestr. 2, deutschblütigen Personen im Sinne der deutschen Rassegesetzgebung
und der hierzu erlassenen Gesetze mit allen sich daraus ergebenden Rechten und
Pflichten gleichgestellt wird.“[16]
Mit diesem Schreiben hätte sich auch kirchenpolitisch gut argumentieren lassen,
aber Goetze war der Kirchenleitung unbequem geworden.
Die vergebliche Besetzung der Pfarrstelle Pauli II und Ergänzung des
Kirchenvorstandes
Das Landeskirchenamt hatte die von Goetze besetzte
Pfarrstelle Pauli II ausgeschrieben. Zur Durchführung der Wahl eines neuen
Pfarrers war eine Ergänzung des Kirchenvorstandes notwendig geworden. Im Mai
1941 teilte Pastor Schwarze dem Landeskirchenamt mit, dass sechs Mitglieder aus
dem Kirchenvorstand ausgeschieden waren. Es waren Ball, Engeland, Jorns,
Kirchberg, Löhnefink, und Preer. Folgende 12 Mitglieder, die sich für Pastor
Goetze eingesetzt hatten, waren verblieben: die beiden Provisoren Kellner und
Grosse, Danneberg, Hesse, Höse, Klingenspor, Lüddeckens, Mack, Meier, Ring,
Tetzlaff und Urban. Zu diesen traten 1941 hinzu: Oberstudiendirektor Dr. phil
Richard Bock, Reichsbahnoberinspektor Karl Globig, Dr. Hanke, Buchhalter Walter
Köhler, Martha Münter, geb. Heuer, Ilse Vestner, geb. Diekmann. Letztere war
nicht nur Vorsitzende der Frauenhilfe sondern auch Mitglied der NS
Frauenschaft. Als Ersatzmänner nannte Schwarze Zollinspektor Hans Königsdorf;
und Lehrer a. D. Karl Meyer. Schwarze bezeichnete die neuen Mitglieder alle als
treue Kirchenbesucher und verbürgte sich ausdrücklich auch für ihre „politische
Zuverlässigkeit“.[17]
Diese Auffüllung des Kirchenvorstandes ist ein wichtiger
Hinweis, dass die Kirchenvorstandsarbeit dort, wo sie gepflegt wurde, sogar in
Kriegszeiten möglich war. Die Mitarbeit in diesem derart profilierten
Kirchenvorstand war ein besonderer Akt christlicher Solidarität.
In einem öffentlichen Gottesdienst wurden diese acht Frauen
und Männer in ihr Kirchenvorsteheramt eingeführt, für die öffentliche Situation
des Jahres 1941 doch ein Ereignis gegen den Trend. Im Dezember 1941 wurde
Pfarrer Lepsien knapp vor Pfarrer Witte (mit 8:7 Stimmen) gewählt. Allerdings
wurde Lepsien eingezogen und trat seinen Dienst in der Paulikirche nicht an.
Die Pfarrstelle blieb noch acht Jahre bis 1950 vakant.
Goetze beantragte bei der Kirchenregierung, der Pfarrerwahl
die Bestätigung zu versagen. Die Kirchenregierung entschied im Februar 1942,
dem Antrag Goetzes nicht zu entsprechen.
Erst am 21.8.1942 wies das Landgericht erwartungsgemäß die
Klage Goetzes ab. Nun verzog Goetze aus seiner eigenen Wohnung in der Wilhelm
Bodestr. 2 in die süddeutsche Gemeinde seines Sohnes, der Pfarrer der
württembergischen Landeskirche in Allmersbach geworden war, nachdem ihm das
Landeskirchenamt in Wolfenbüttel 1936 aus nationalsozialistisch- rassistischen
Gründen nach dem bestandenen zweiten Examen die Anstellung in der
Braunschweiger Landeskirche verweigert hatte. Der Sohn war an die Front
eingezogen worden, und sein Vater verwaltete für ihn die Kirchengemeinde. In
Württemberg war möglich, was in der Braunschweiger Landeskirche aus Mangel an
Zivilcourage der Kirchenleitung und trotz der Zivilcourage des
Paulikirchenvorstandes nicht möglich gewesen war. War es nur ein zeitlicher
Zufall, dass am 21. Dezember dieses Jahres 1942 die Kirchenregierung Otto
Henneberger den Ehrentitel Kirchenrat verlieh? Die Kirchenregierung, der auch
noch OLKR Röpke angehörte, verlieh auch Alfred Goetze den Titel eines Kirchenrates.
Die Nachricht erhielt Goetze drei Tage nach seinem Tod 1960, am Tag seiner
Beerdigung, dem 28. Juli, seinem 80. Geburtstag.