Die Zerstörung der Braunschweiger Stadtkirchen 1944 und
die religiöse Deutung
Der Krieg bestimmt den Tagesablauf [1]
Der Luftkrieg, die heulenden Sirenen, die den Anflug
feindlicher Fliegerverbände meldeten, die Entwarnung, nach der die Bevölkerung
wieder nach Hause und an die Arbeit strömte, bestimmten
den Tagesablauf. Die Stadtbevölkerung hatte ca 900 Alarme
zur Tag- und Nachtzeit erlebt. Während des Krieges waren ab 1941 im Stadtgebiet
auf freien Flächen mehrere, riesige, mehrstöckige Betonbunker als Zufluchtsorte
für einen Teil der Bevölkerung errichtet worden, die beiden letzten von
insgesamt 24 wurden 1945 bezugsfertig.[2]
Die meisten lagen im Innenstadtbezirk innerhalb des Okergraben, neun in
auswärtigen Stadtbezirken. Sie lagen diskret hintern anderen Gebäuden, auf
Krankenhausgeländen oder auch klotzig mitten in den schönsten Wohngebieten und
verschandelten die Innenstadtarchitektur, für einen direkt an der
Knochenhauerstraße gelegenen wurde die Ruine der 1938 zerstörten Synagoge
abgerissen. In der Innenstadt wurden offenbar die meisten Zerstörungen
vermutet, auf der Fläche konnte nach dem Endsieg die Naziarchitektur Triumphe
feiern, wie sie sich schon sonst an vielen Ecken der Stadt auffällig
präsentierte.[3]
Die Bunkerplätze reichten auch bei Überfüllung für etwa ein Viertel der
Braunschweiger Stadtbevölkerung.
Die Kriegslage wurde bereits als sehr ernst eingestuft.
Sicherheit ging vor Schönheit. Die Kinder zwischen 5 und 10 Jahren wurden, um
sie vor den möglichen tödlichen Folgen des Luftkrieges zu schützen, in den Harz
verschickt. Dort fand in Sammelquartieren der Schulunterricht für die unteren
Klassen statt. Die obersten Klassen der Gymnasien wurden zum Flakunterricht
abkommandiert. So hat der Krieg mit zunehmender, von der Bevölkerung
ursprünglich nicht erwarteter Kriegsdauer das Familienleben und den geordneten
Schulunterricht zerstört.
Das betraf auch den Konfirmandenunterricht und den
Gottesdienst. Gottesdienstzeiten wurden verlegt, Gottesdienste unterbrochen,
manchmal nach der Entwarnungssirene mit einigen Rückkehrern noch zu Ende
gebracht. Die bewusste oder unterbewusste Erwartung des Sirenengeheuls schuf
eine ängstliche Gereiztheit.
Zahlreiche Kunstschätze in den mittelalterlichen
Stadtkirchen wurden der Andacht entzogen und an Ort und Stelle eingemauert oder
ausgelagert. In einem Schutzraum im Südturm der Martinikirche verschwanden u.a.
das bronzene Taufbecken von 1441, Epitaphien, Kronleuchter, Holzfiguren vom
Kanzeleingang, in der Taufkapelle der Brüdernkirche zwei mittelalterliche
Taufbecken, im Kreuzgang derselben Kirche die beiden Flügel des gotischen
Altars. Das Imervard Kreuz, der siebenarmige Leuchter und die Grabfiguren von
Heinrich d. Löwen wurden aus dem Staatsdom in den Rammelsberg bei Goslar
transportiert, der gotische Flügelaltar von Brüdern im Kloster Michaelstein
untergebracht, Kronleuchter, Pastorenbilder in Kisten verpackt und in
umliegende Dörfer verschickt, im Tresor der Staatsbank 12 Abendmahlskelche
gesichert.[4]
Manche verbleibende Kirchenräume wie die Melveröder Kirche
waren keine ungestörten Andachtsräume mehr. Sie dienten zur Aufbewahrung. So
wurde z.B. der Innenraum der Paulikirche vollständig mit Mobiliar und Gepäck
vollgestellt und der Gottesdienst im Konfirmandenraum gehalten. Das war der
hohe Preis für die Kooperation mit der Vernichtungspolitik Hitlers, die nun
vollständig auf die Kirche zurückschlug.
Die Ablieferung der Glocken
Die Benutzung der Glocken war bereits stark eingeschränkt.
Zum Gottesdienst sollte nur kurz drei Minuten vor Gottesdienstbeginn geläutet
werden, zu einem Traugottesdienst überhaupt nicht mehr.
Wenn der Staat die Glocken aus den Kirchentürmen abholen
lässt, ist der Krieg zugunsten der Feinde entschieden. Es war schon im 1.
Weltkrieg eine erkennbare Albernheit, mit den abgelieferten Glocken die
Rohstoffreserven etwa der USA ausgleichen zu wollen. Sie diente vor allem dazu,
die Bevölkerung weiter in den totalen Krieg einzubeziehen. Sie bedeutete auch
den Verzicht auf ein großes Geläut bei einem Sieg, der offenbar nicht mehr erwartet
wurde.
1942/43 wurden von den insgesamt 62 in den Türmen der
Stadtkirchen vorhandenen Glocken 44 Glocken zur „Metallverwertung“ abgenommen.
Der Glockenbestand war nach einer Aufzeichnung folgende: der Dom besaß 11
Glocken, Katharinen neun, Martini acht, Magni und Petri je fünf, Brüdern,
Michaelis, Jakobi, Pauli, Johannis, Andreas, St. Georg und Riddagshausen je
drei Glocken.[5]
Von insgesamt neun Glocken der Katharinenkirche stammten
drei aus dem Jahre 1933 und sechs weitere aus dem 15.-17. Jahrhundert. Zwei
Glocken aus den Jahren 1553 und 1650 wurden abgeliefert. Von den fünf Glocken
der Magnikirche wurden vier aus den Jahren 1461, 1630, 1643 und eine weitere
aus dem 15. Jahrhundert abgeliefert. Aus dem Dom wurden neun Glocken
abgenommen, darunter sechs aus dem 16. Jahrhundert. Von den acht Martiniglocken
wurden vier abgenommen, darunter eine aus dem Jahre 1400. Besondere
„Abschiedsgottesdienste“, wie sie noch im 1. Weltkrieg, besonders auf den
Dörfern, gehalten worden waren, sollten vermieden werden. So wurden sie sang-
und klanglos aus den Türmen entfernt.
Man kann von Glück reden, denn bei der Bombardierung der
Innenstadt stürzten einige der verbliebenen Glocken aus den brennenden Türmen.
Die abgelieferten Glocken lagerten dagegen in Hamburg auf einem
„Glockenfriedhof“, von wo sie 1947 teilweise wieder an ihre alten Stätten
zurückkehren konnten. Es erhielten nach dem Krieg zurück der Dom 7 Glocken,
Martini und Magni vier Glocken, Katharinen und Ulrici zwei Glocken und Petri
eine Glocke. Am 5.6.1947 kehrten die vier Glocken der Magnikirche zurück und
läuteten am 7. September 1947 wieder zum ersten Mal. [6]
Die Stadt als Etappe
Metallsammlungen und die Abnahme zahlreicher Kirchenglocken
zogen die Kirchen merklich in das Kriegsgeschehen mit ein. Die Kirchen waren
Teil der Heimatfront. Aber zu jeder Front gehörte auch die Etappe. Und die
Etappe bot in der Stadt allerhand Abwechslung:
Nach der Bekanntgabe der vernichtenden Niederlage bei
Stalingrad war die Stimmung in der Braunschweiger Bevölkerung zwar „schwer
betroffen“, berichtete Generalstaatsanwalt Rahmel an das
Reichsjustizministerium[7],
aber nach einer kurzen Trauerfrist ging das Vergnügen in der Heimat weiter. Ein
Blick in das Kinoprogramm nach der Braunschweiger Tageszeitung vom 23. Juli
1943. Es gab in Braunschweig sieben „Lichtspieltheater“. An Juliwochenende
wurde gespielt in der Schauburg „Sommerliche Liebe“, Jugendliche nicht
zugelassen: im Ufa Saalbau „Frauen sind keine Engel“, Jugendliche über 14
zugelassen; im Ufa Wendenstraße „Damals“ mit Zara Leander, Jugendliche nicht
zugelassen.; in den Ufa Lichtspielen „Des jungen Dessauer große Liebe“,
Jugendliche zugelassen; in Palast „Liebesgeschichten“, Jugendliche nicht
zugelassen; in der Scala „Der Seniorchef“, Jugendliche nicht zugelassen und in Brunswieck
„Wiener Blut“, Jugendliche über 14 zugelassen. Die Programmtitel versprachen
flotte Stunden, wenn nicht gerade Fliegeralarm das Vergnügen unterbrach. Am
selben Wochenende beschäftigte sich ein Artikel in der BTZ mit der Frage „Warum
ist das Kino so voll?“ Der Verfasser meinte, es kämen vor allem Soldaten, die
auf Urlaub wären und solche aus der wachsenden Zahl der Industriearbeiter. Die
Älteren sähen besonders gerne die Wochenschau mit den Kriegsberichten von der
Front. Außer Kino wurde im Astoria Kabarett geboten, im Palast am Damm täglich
Konzert, in Brünings Saalbau spielte das Orchester Lange, im Börner am Bohlweg
Walter Kern mit seinen Solisten und in Holst Variete zweimal am Tag „Die
Fratellis“.[8]
Das war bereits mehrere Monate nach Stalingrad, als Hitler
und seine Generäle nicht mehr den Mut aufbrachten, den verlorenen Krieg zu
beenden, und der Bevölkerung der Glaube an den Endsieg allmählich schwand.
Nach Moral wird in keiner Etappe gefragt.
In der Etappe war immer etwas zu holen. So wie in anderen
Städten auch in Braunschweig. Ein Auktionator der Stadt war vom Finanzamt
beauftragt, die aus den Wohnungen der jüdischen Braunschweiger beschlagnahmten
Hausratsgegenstände öffentlich zu versteigern. Der Auktionator bedauerte nach
dem Krieg: „Wenn ich die Sachen zu Versteigerung erhielt, waren die wertvolle
Gegenstände wie echte Teppiche, Schmuck, Silber bereits ausgeschieden, sodass
nur die weniger
wertvollen Gegenstände zur Versteigerung kamen.“[9]
Die untere arische Braunschweiger Volksgemeinschaft bediente sich zu niedrigen
Preisen wie in Wolfenbüttel, wo das Finanzamt die versteigerten Sachen penibel
notierte. „Nahezu jede ausgebombte Familie saß an einem Tisch, der aus dem
Besitz ehemaliger jüdischer Nachbarn stammte oder aus den Wohnungen in den
besetzten Gebieten herangeschafft worden war,“ schätzt Wolfgang Dressen. Es
waren die Frauen, die zur Versteigerung gingen und ihrer Familie zu einer neuen
Einrichtung verhalfen.[10]
Während Kino, Salonmusik und Versteigerung Ablenkung boten,
wurde durch Heldengeschichten die Phantasie der Leser auf den Endsieg gelenkt.
Immer wieder berichteten sog. Kriegsberichterstatter für die Regionalpresse von
den kleinen Abschnittsiegen im Grabenkampf oder wie ein Kampfflugzeug trotz
Treffer hinter den feindlichen Linien landen und der Pilot sich durchschlagen
konnte.[11]
Daneben wirkte das „Abendgebet eines Soldaten“ fast
sentimental. „Redet nicht so viel/ unser letztes verborgenes Ziel/ Unser
letzter Wille/ ist Stille/. Wir haben mit drohenden Schritten/ Länder durchmessen/
wir haben gedarbt und gelitten/ und nicht vergessen... Abend mag kommen/ in uns
und um uns walten/ ob wir es können noch/ leise mit frommen Gedanken die Hände
falten“.[12]
Diese Mischung von Heldengeschichten, Kino und Frömmigkeit hatte den Geschmack
von Trivialität, der für die Etappe bezeichnend ist, und die Stimmung des
Jahres 1943 authentisch auffängt.
Zwischendurch sprach die Zeitung aber auch Warnungen aus,
dass keiner vor den Luftangriffen aufs flache Land flüchten dürfte. Andernfalls
verwies die Zeitung auf den Verlust von Lebensmittelkarten und es gäbe auch
keine Entschädigung, wenn in der leergelassenen Wohnung ein Schaden einträte.
Die Lazarette in der Etappe
Wieviel Lazarette es außer denen in den Krankenhäusern z.B.
in den Schulen in der Stadt gab, ist noch nicht erforscht. Pfarrer Reinhard
Herdieckerhoff erinnert sich an seine dortige Arbeit: „Am heißesten war der
Boden in den Lazaretten. Dem Leiter der Inneren Mission war durch Verfügung
des Generalkommandos die Seelsorge in fünf großen Lazaretten der Stadt
Braunschweig zur Pflicht gemacht worden. Viele Wochenstunden weilte er unter
den Männern, deren Leiber zerschossen, verstümmelt,in abgestürzten Flugzeugen
verbrannt oder durch die Krankheiten abgezehrt waren.. Aber dieses
Mittragenmüssen körperlicher Leiden und schmerzten war bei weitem nicht so
schwer wie die Aufdeckung der Wunden an den Gewissen und Seelen, deren Zeuge er
dort wurde. Die mühsamen Aussprachen unter vier Augen, die gefährlichen
Diskussionen mit den Kämpfern nationalsozialistischer Weltanschauung, die
geflüsterten Seelenqualen - von alledem ausführlich zu berichten, würde sich
lohnen. Jedenfalls war auch das ein Dienst der Inneren Mission und er war
fruchtbarer und begehrter als man hätte denken sollen.“[13]
Die Luftangriffe
Braunschweig blieb lange Zeit von schweren Luftangriffen
verschont. Ein erster Angriff am 27. September 1943 beschränkte sich auf das
Gebiet Riddagshausen/Giesmarode, forderte aber 63 Tote. „Die Bevölkerung war
durch dieses Ereignis stark beunruhigt und ahnte instinktiv, dass dieses der
Anfang einer Folge von Angriffen sein würde.“[14]
Ein kleinerer Luftangriff am 14. Januar 1944 traf den Südrand der Stadt, die
Ackerstrasse, das Eisenbahnsignalwerk bis hin zur Rüninger Gartenstadt. Die
Braunschweiger Tageszeitung überging eine Berichterstattung, aber der
Braunschweiger Propst Leistikow erlebte ihn in seiner Gemeinde am Zuckerbergweg
und berichtete davon den Braunschweiger Amtsbrüdern im Wochenrundbrief.[15]
Kurz vor dem Angriff brachte Leistikow eine Frau mit ihrem Kind, die beide
gestürzt waren und noch nach Hause wollten, zum nächsten Bunker. Nach dem
Angriff war das Haus durch Volltreffer zerstört. „Diese Stunden von Freitag
abend bis Sonntag sind wohl die erlebnisreichsten meines ganzen Amtslebens. Sie
können sich nicht vorstellen, was für Szenen sich abspielten, als ich die ganze
Nacht bis in den frühen Morgen von Haus zu Haus und von Wohnung zu Wohnung
ging, um den am meisten Geschädigten die Hand zu reichen.“[16]
Man wisse nun wirklich nicht nach einem Gottesdienst, ob man sich noch
wiedersähe, schrieb Leistikow am Ende dieses Rundbriefes, und deshalb lasse er
aus dem alten Braunschweiger Gesangbuch die Nr. 460 singen:„Zieht in Frieden
eure Pfade/ Mit euch des großen Gottes Gnade/ und seiner heilgen Engel Wacht/
Wenn euch Jesu Hände schirmen/ geht’s unter Sonnenschein und Stürmen/ getrost
und froh bei Tag und Nacht./ Lebt wohl, lebt wohl im Herrn/ Er sei euch nimmer
fern/ spät und frühe/ Vergeßt uns nicht in seinem Licht / Und wenn ihr sucht
sein Angesicht.“ Der Text aus dem 19. Jahrhundert stellt die in ferne
Missionsgebiete abfahrenden Missionsleute dar, die von der Heimatgemeinde
verabschiedet werden. 1944 galt das „leb wohl“ jenen Gemeindemitgliedern, die
einen Luftangriff nicht überleben würden.
Die Zerstörung der Kirchengebäude begann Anfang 1944.
Am 10. Februar 1944 erlebte Braunschweig um 11.30 einen
schweren Tagesangriff, bei dem nach der Bergung der Verschütteten 350 Personen
zu Tode kamen und insgesamt 708 Häuser mittelschwer bis total zerstört wurden.
„Vom Wendentor bis Augusttor und vom Magnitor bis Petritor reihte sich eine
Schadensstelle an die andere“, vor allem waren Bäckerklint, Hinter Brüdern und
Umgebung, Altstadtmarkt und Sack, aber auch der Bohlweg und die Kaiser-Wilhelm
Straße betroffen worden. „Als sich die Einwohner aus den Kellern wagten,
schlug ihnen vielfach schon beizender Rauch entgegen. Über Trümmer und Schutt
mussten sie sich ihren Weg bahnen. Doch viele, viele Menschen waren in den
Kellern verschüttet oder hatten den Tod gefunden. Viele Sprengtrichter,
herabhängende Oberleitungen der Straßenbahn, Schuttberge von eingestürzten
Häusern und umherliegende Blingänger behinderten den Verkehr.“[17]
Eine Luftmine durchschlug das Gewölbe des südlichen
Seitenschiffes der Brüdernkirche und brachte eine Kirchenaußenwand zum
Einsturz.[18]
Gottesdienste wurden von nun an in der Kapelle gehalten. Die Seitenschiffwand
der Petrikirche hatte durch eine Bombe ein Loch erhalten. Das Kirchendach der
Andreaskirche war abgedeckt worden.
Der Pfarrer der Andreaskirche Paul Barg erinnerte sich: „10.
Februar 1944: wieder einmal Vollalarm, kaum hatte der Nachbar mit der
Beinprothese die Kellertür geschlossen, als die Bomben fielen. Wir flogen fast
bis unter die Decke. Dann Stille, bald Vorentwarnung.- Ein Riesenkrater gähnte
vor dem kleinen Häuschen des malerischen Winkels des Andreaskirchplatzes. Die
kleinen Häuser waren zerstört – und damit einer der schönsten Winkel
Braunschweigs. Die Bewohner zogen ins Pfarrhaus um. Hinter dem Pfarrhaus war
eine kleinere Bombe in die Steingrotte gefallen: die Steine der Grotte waren
zusammen mit riesigen Erdmassen durch die Fenster des Pfarrhauses geflogen. Die
Kirche hatte nichts abbekommen. (Allerdings wurde das Kirchendach abgedeckt)
Aus allem aber wurde die Lehre gezogen: Mit den Kellern ist es nichts, wir
gehen von jetzt an in den kleinen Turm der Kirche. Dort sind meterdicke Wände;
auf den Steinstufen der Wendeltreppe kann man sitzen; die
schießschartenähnlichen Fenster werden mit Sandsäcken verschlossen, die
Einstiegstür mit einem Vorbau aus Erde und Steinen gesichert. Die
Nachbarschaft, des Bunkerlaufens müde, fand sich ein. Wir waren von da an wohl
meist mehr als hundert Menschen in dem Turm.“[19]
Zehn Tage später wurde die erst vor fünf Jahren feierlich
eingeweihte St. Georgkirche im Siegfriedviertel schwer getroffen. „Die rechte
Altarwand wurde aufgerissen und in den Riesentrichter versanken Kanzel, Altar
und Taufstein. Von den Fenstern blieb nur ein kleines Stück, und es blieb das
Altarmosaik, obwohl der Wandputz ringsum abgeplatzt war. Durch die leeren
Fenster und durch das Riesenloch hindurch sah die erschrockene und verzagte
Gemeinde das Bild Christi als tröstliche Zusage“.[20]
Unter den Toten dieses Luftangriffes waren auch zehn Querumer, bei deren
Bestattung es am 21. Februar auf dem Querumer Friedhof zu einem Eklat kam. Die
Partei, die ihre Version eigentlich schon bei Staatsakt im Dom zum Besten
gegeben hatte, beanspruchte dasselbe bei der Bestattung auf dem Querumer
Friedhof. Andere Angehörige wünschten eine kirchliche Bestattung durch den
Ortspfarrer Propst Ernesti. Man einigte sich: erst die Partei, dann der Propst.
Als dieser im Talar auf dem Friedhof erschien, wurde er vom Gelände verwiesen.[21]
Beim Tagesangriff am Karsamstag, dem 8. April 1944 um 14.00
Uhr kamen 116 Bewohner ums Leben. Vor allem das Gebiet Büssing, Augusttor
(heute Kennedyplatz) und Ostbahnhof wurden schwer getroffen.[22]
Das Bestattungsbuch der Johannisgemeinde vermerkte allein für den 2. Bezirk am
14. April zwölf Beerdigungen. Eine kirchliche Bestattung der Toten wurde allein
wegen der hohen Zahl zu einem Problem.
Beim Nachtangriff am 23. April 1944 wurden 799 Häuser vor
allem in der Altewiek, am Löwenwall, und der Ackerstraße mittelschwer bis
total beschädigt. „Die Auswirkungen dieses Angriffs waren furchtbar. Sie waren
am stärksten in den Wohngebieten.“[23]
Es starben 44 Personen. Bei diesem Angriff wurde die Magnikirche von einem
Volltreffer einer Luftmine schwer getroffen, das Gewölbe und große Teile der
Außenmauern zerstört. Es war die erste schwere Verwüstung einer Stadtkirche und
stellte der Stadtpfarrerschaft vor Augen, was in der nächsten Zeit mit den
anderen Kirchen geschehen könnte. Zum Gottesdienst ging die Gemeinde in den
benachbarten Gemeindesaal.[24]
Die Braunschweiger Tageszeitung veröffentlichte ein Bild von
der Kirchenruine und dazu einen knappen historischen Rückblick der Magnikirche,
„in der mit tapferen Bürgern gegen einen widerspenstigen Geistlichen das reine
Lutherwort erstritten“ worden sei.[25]
Eine Woche später fand im Staatsdom ein Staatstrauerakt unter dem Motto von
Gorch Fock „Wir müssen leben, damit unsere Toten leben“ statt.
Staatsdomorganist Auler spielte Bach und Reger, an einem Stellvertretersarg in
der Vierung wurden Kränze niedergelegt, und der Bürgermeister Dr. Mertens beteuerte
in seiner Traueransprache die Unschuld Deutschlands am Krieg, aber die neid-
und hasserfüllten Feinde „wollten nicht, dass der deutsche Arbeiter die
Freiheit gewinne. Also mussten viele sterben, auf dass Deutschland nicht
sterbe“. Dieser „Abschied in der Gemeinschaft“ hatte durch die Musik und das
Verlesen der Namen der Toten zwar eine sentimentale Note, enthielt aber mehr
Propaganda als Trost. Die Magnikirche blieb 20 Jahre lang Ruine und Baustelle.
Erst 1964 konnte die Gemeinde in ein neu konzipiertes Gotteshaus einziehen, das
bewusst die Wunden des Krieges noch zeigt.
Auch die Johanniskirche wurde in dieser Nacht so schwer
beschädigt, dass die Kirche für Gottesdienste auf die Dauer unbenutzbar
geworden war. Zwar blieb anders als bei der Magnikirche das Außenwerk des
Kirchengebäudes intakt, aber der Dachstuhl und sämtliche Fenster waren zerstört
und nicht in kurzer Zeit reparabel. Die Gottesdienste fanden im Pfarrhaus
statt. Die Johanniskirche wurde 1950 wieder bezogen. Auch das benachbarte Marienstift
wurde schwer getroffen.
Für die Generalstaatsanwaltschaft berichtete der erste
Staatsanwalt Hirte am 4. Juni 1944 an das Reichsjustizministerium von den
Zuständen in der Stadt Braunschweig, dass seit Ende September 1943 bis jetzt 18
Angriffe erfolgt, 1000 Tote zu beklagen und 25.000 Personen obdachlos geworden
seien.[26]
„Es ist erklärlich, wenn diese Angriffe auf die Stadt Braunschweig auf die
Bevölkerung nicht ohne Eindruck geblieben sind. Schon nach dem ersten größeren
Angriff am 10. Februar 1944 setzte eine allgemeine Bunkerflucht ein. Der größte
Teil der Bevölkerung, und zwar auch die männliche, drängen sich bei Alarm in
den Bunkern zusammen. Kein noch so gut ausgebauter Keller wird als
Luftschutzraum mehr geschätzt. Sobald die Luftmeldung im Radio die Annäherung
feindlicher Flieger erkennen lässt, sieht man die Bevölkerung bereits zum
Bunker laufen. Ja, es hat zeitweise Personen gegeben, die sich den ganzen Tag
vorsorglich in der Nähe der Bunker aufgehalten haben. Mir ist erzählt, dass
Schlafzimmer in der Nähe der Bunker für die Nächte vermietet würden.“ Es habe
in den letzten 5 Monaten 175 Alarme gegeben.
Es sind noch neun Monate bis zum Kriegsende, von dem keiner
ahnt, das es die gewaltsame Trennung von Hitler bringen wird. Noch drei Monate
bis zur Zerstörung der mittelalterlichen Bausubstanz der Stadt Braunschweig,
wenn sich Braunschweig nicht von Hitler trennt. Am 21. Juli titelte die
Braunschweiger Tageszeitung „Das Schicksal erhielt uns den Führer“. Einige
Konservative im Heer und im konservativen Bürgertum und sogar in der Kirche
hatten die gewaltsame Trennung von Hitler vorbereitet, aber das Attentat im
ostpreußischen Hauptquartier war gescheitert und der Putsch schon wenige
Stunden später zusammengebrochen. Hitler blieb dem deutschen Volk erhalten. Am
21. Juli trafen sich nach Schätzungen der Partei 50.000 Braunschweiger zu einer
Sympathiekundgebung auf dem Hagenmarkt.[27]
„50.000 schaffende Braunschweiger vereinen sich zu einem Bekenntnis der Treue
zu Führer und Reich“.[28]
Die Zahl sollte wohl signalisieren, dass es im Braunschweigischen nicht die
geringsten „Widerstandsnester“ gebe. Kreisleiter Heilig deutete das Attentat
folgendermaßen: „Das Schicksal hat uns noch einmal gezeigt, wie sehr wir zu
kämpfen haben. Es hat uns aber auch gezeigt, dass die Vorsehung uns Deutsche
gesegnet hat. Wer wollte nun noch zweifeln, wer meinen dass dieser Kampf anders
ausgehen kann als mit dem gewaltigsten aller Siege, der je erfochten wurde.“[29]
Die Verbundenheit zwischen den Deutschen sowie den
Braunschweigern mit Hitler blieb erhalten und die Kirchen gratulierten Hitler
zum überstandenen Attentat, auch die Wolfenbüttler Kirchenleitung. Die Folgen
der vertieften Bindung waren fürchterlich.
Beim Luftangriff am 13. August 1944 waren 99 Tote zu
beklagen und 1.432 Häuser mittelschwer bis total zerstört worden, vor allem vom
Wollmarkt bis zum Steinweg zur Kaiser Wilhelm Straße (heute Jasperallee),
Kastanienallee, Nussberg – und Gliesmaroderstraße. Die Andreaskirche wurde von
Brand- und Sprengbomben schwer getroffen.[30]
Der Südturm brannte herunter. Auch die Pfarrhäuser und das Schwesternhaus an
der Maschstraße wurden zerstört. Pastor Barg erinnerte sich: „13. August 1944.
Alarm kurz nach Mitternacht. Wir waren kaum im Turm, da geschah es. Eine
Luftmine war in nächster Nähe unserer Kirche gefallen. Heraus aus dem Turm!
Ringsum brannte es. Die Häuser um die Kirche waren zerstört, teils brannten
sie. Die Alarmwache vom hohen Andreasturm kam blutend an Seilen von oben. Die
Zwischenböden waren zerstört, die Anstiegstreppen zertrümmert. Auf den
Kirchboden kam man nur noch unter Lebensgefahr. Unter der Kuppel konnte der
Brand nicht mehr gelöscht werden Das Kupfer wurde glühend, die Feuerwehr
sperrte ab. Nach Stunden stürzte die Kupferhülle nach unten. Im Kircheninnern
sah es schaurig aus. Kleinere Brände konnten gelöscht werden. Ein dicker
Lindenstamm war auf dem Kirchplatz von Luftwirbeln abgedreht, entästet und
durch eines der Kirchenfenster auf die Kirchenbänke geschleudert worden. Kein
Fenster war mehr heil, das Maßwerk herausgebrochen, die Giebel und einige
Wasserspeier zerstört. Das Pfarrhaus stand, aber die Innenmauern waren
versetzt, die Treppe hing nur noch, alles zerschlagen – und nebenan brannten
die Häuser der Opfertwete, Waschküche und Kohlenkeller ebenfalls.“[31]
Der Redakteur der Parteizeitung reagierte auf die hohe
Opferzahl mit einem Kommentar „Wille und Glaube“ und behauptete eingangs
parteigetreu: „Besiegt wird nur, wer sich besiegen lässt. Deutsche kann man nur
mit Deutschen besiegen. Wer sich nicht aufgibt, dem hilft am Ende Gott, und wer
über die Todeslinie hinaus sieht, der bleibt am Leben“.[32]
Dieser Parteischwulst suggerierte ein Geschichtsbild vom unbesiegbaren
Deutschen, das durchaus dem in den Schulen vermittelten Geschichtsbild
entsprach und tiefere Spuren hinterlassen hat, die im Wirtschaftswunderland
Bonner Bundesrepublik in zahlreichen Landserheften wieder zum Vorschein kamen.
Der Staatstrauerakt fand am 17. August morgens zur erhofften fliegeralarmfreien
Zeit um 8.00 auf dem Zentralfriedhof statt, die Särge waren mit einer
Hakenkreuzfahne bedeckt, ein Mitglied des Staatstheaters verlas die Namen der
Toten, über dem Massengrab auf dem Ehrenfriedhof schoss die Waffen SS ein
Ehrensalut, danach das Lied vom „guten Kameraden“. Kreisleiter Heilig verkündet
dieses Mal als Kernsatz: „Weil wir das Volk mehr lieben als uns selbst, mussten
auch diese Toten das Leben lassen.“[33]
Ob und wann und wie die Familienangehörigen Gelegenheit zur persönlichen Trauer
hatten, ist unbekannt. Die Andreaskirche blieb lange eine Ruine und wurde erst
gut zwanzig Jahre später wieder gottesdienstlich genutzt.
Der Tod der „Landestante“ im Irrenhaus des Krieges
Zum 1. September 1944 musste die Braunschweiger
Landeszeitung ihr Erscheinen einstellen. Die von Braunschweigern liebevoll wie
spöttisch als Landestante benannte Zeitung war 64 Jahre alt geworden. Sie war
die traditionsreichste und bestand seit 1880. Sie war nach dem Zeitungssterben
1941 die vorletzte verbliebene.[34]
Mit einem Kommentar „Die Tat ist alles“ verabschiedete sie sich von den
Leserinnen und Lesern. Da war nicht vom „freudigen Opfer“ die Rede, sondern
„und fügen uns willig dem ehernen Gebot der Stunde“. Man fusioniere nun „in
Kriegsgemeinschaft“ mit dem NS Gauverlag Hannover Süd, nämlich mit der BTZ, die
bis zum April 1945 die proportionierten Lügen von Partei und Staat den
Braunschweigern druckte. Man müsse nun auf das Wort verzichten, und die Tat,
also der Zeitungstod in Form der Fusion, zähle allein. „Alles für die
Wehrmacht, alles für die Rüstung, alles für den Sieg“, war der schale
Selbsttrost, und dann weitschauend: „Würde nicht unser Dasein jeden Sinn
verlieren, wenn unsere Jugend ihr Leben in den Bergwerken Sibiriens verbringen
müsste?“ Dort befanden sich schon die Jungen, die nach Stalingrad zu Tausenden
von der Roten Armee gefangen genommen worden waren. „Wir denken nicht daran,
dem Abschied von der Braunschweiger Landeszeitung eine tragische Note zu
geben“. Also doch und möglicherweise zu diesem Zeitpunkt, so klingt es,
unerwartet. Das mag die ungewöhnlich lange Liste von bereits bezahlten
Todesnachrichten in der letzten Wochenendeausgabe erklären. [35]
Auf einer dreiviertellangen Zeitungsseite reihen sich 30 Eiserne Kreuze mit
einem Aufschrei von Trauer und Schmerz. „tief traf uns die schmerzliche
Nachricht“, „schweres Herzleid brachte uns die schmerzliche Nachricht, dass
unser innigstgeliebter hoffnungsvoller, unvergessene einzige Sohn..“, „ich
erhielt die schmerzvolle Nachricht“, „unsagbares Herzeleid brachte uns die
Nachricht..im Alter von 23 Jahren den Heldentod“, „unsagbar schwer traf uns die
überaus harte, schmerzliche Nachricht, dass unser lieber, guter Sohn.. im 26.
Lebensjahr in einem Kriegslazarett im Westen für immer von uns gegangen ist“,
„für Führer, Volk und Vaterland gab er im Westen in treuer Pflichterfüllung
sein junges Leben im Alter von 34 Jahren“, „nach Gottes heiligem Willen für
Führer und Reich“, „mein ganzes Glück, mein über alles geliebter, stets treu
sorgender Lebenskamerad, unser lieber jüngster Sohn, Bruder, Schwiegersohn,
Onkel, Schwager und Neffe Inhaber mehr. Auszeich. musste sein junges Leben
lassen.“, „auf ein baldiges Wiedersehen hoffend erhielt ich unerwartet die
schmerzliche Nachricht.,. im blühenden Alter von 22 Jahren im Westen sein
junges Leben lassen musste,“ „Unser sonniger Junge..im 20. Lebensjahr im Osten
gefallen. In unsagbarem Herzeleid“, „Den Heldentod erlitt in begeisterter
Pflichterfüllung für sein Vaterland unser innigstgeliebter Sohn im Alter von 19
Jahren.. in unsagbarem Schmerz“. Wilhelmitorwall Pionier Erich: Lebensrune,
Todesrune in Italien. Er folgte seinem Bruder Hans nach nur zehn Monaten. In
stiller Trauer.“
Das Deutsche Reich ein Trauerhaus, Braunschweig auch. Die
andern traf es, so meldete es die Landeszeitung in derselben Woche viel
schlimmer: am Montag: „Bisher 7.250 V 1 Geschosse in England gezählt, täglich
werden 17.000 Gebäude zerstört“; am Mittwoch: „Weit über eine Million Häuser
zerstört. Plünderungsepidemie in London“.
Die Wochenendglosse „Handle und schweige“ mahnte
eindringlich, in der Heimat den Mund zu halten. Einer prahlte im Gasthaus oder
im Eisenbahnabteil mit angeblichen Geheimnissen. „Deutschland versteht keinen
Spaß mehr in diesen Dingen. Wer schwatzt, der muss es büßen durch lange
Freiheitsstrafen, ja mit Konzentrationslager. Es ist dann doch besser, das Wort
zu beherzigen: Volksgenosse schweige“.[36]
Das Volk sollte nicht reden und nicht trauern, dafür
schwätzte die Partei ihre Sieges- und Überlebensphrasen bei der öffentlichen
„Abschiedsfeier“ für die beim Luftangriff vom August Umgekommenen. An den
Särgen auf dem Schlossplatz, wo eine Todesrune platziert war, Formationen der
SA, SS, Wehrmacht und Hitlerjugend, für die Angehörigen Bänke im Viereck. Die
Musikschule der Waffen SS spielte einen Trauermarsch, bei dem Gedicht „Heilig
Vaterland“ wurden die Fahnen gesenkt, Dichterworte, Deutschlandlied und
dazwischen die Rede eines Parteimannes. Sie seien „gefallen“ für uns, und es
gelte den Willen der Toten zu erfüllen, nämlich weiterzukämpfen.[37]
„In Trauer zwar, doch gläubig und entschlossen“, lautete die Überschrift in der
Zeitung. Dieser Trost der Partei klang wie das Lachen im Irrenhaus. Vater,
Mutter, Kinder, einmal sogar alle drei aus einer Familie tot waren überhaupt
nicht „für uns“ gefallen, das war wie der Schaum vor dem Mund Hitlers am 30.
Juni 1934. Und wer wollte noch weiterkämpfen, wenn der Sohn, der Vater tot
sind, und wofür und wie überhaupt weiterleben, geschweige denn kämpfend? So
ging das nicht nur in Braunschweig. So ging das im ganzen schrumpfenden
großdeutschen Reich. Ein Irrenhaus. Und noch kein Ende.
Der große Naziauftritt Alfred Rosenbergs zur Deutung der
Situation
Am 15. Oktober feierte das nazistische Deutschland den
100. Geburtstag von Friedrich Nietzsche. Aus diesem Anlass hatte Rosenberg in
Berlin die Gedächtnisrede gehalten. Am Abend des 15. Oktober sprach er in
Hannover vor der gesamten niedersächsischen nationalsozialistischen Elite, beim
sog. „Führerappell“, und erläuterte die kritische Lage. Rosenberg war in
Braunschweig ein häufiger Gast. Er hatte den Staatsdom eröffnet, für den sich
Hitler, Goebbels und Himmler nicht erwärmen konnten. Die BTZ berichtete über
den Auftritt Rosenbergs in Hannover groß auf Seite eins.[38]
Eingangs erinnerte er an Nietzsche als „einen großen
geistigen Bruder im Kampf um die Wiedergeburt einer großen deutschen
Geistigkeit, als Verkünder einer europäischen Einheit, als Notwendigkeit für
das schöpferische Leben unseres in einer großen Revolution sich verjüngenden
Kontinents.“ Rosenberg sah den Oktober 1944 im Zusammenhang mit dem 30. Januar
1933, nämlich als Vollendung der Revolution, die nun nicht mehr allein
Deutschland galt, sondern Europa. Der Krieg
sei daher ein „Revolutionskrieg“, und zwar um den
Sozialgedanken, also nicht um Lebensraum, wie es Hitler propagierte. Gegen den
sozialen Fortschritt wende sich „das jüdische Finanzkapital“, das daher den
Nationalsozialismus mit „pathologischem Hass“ verfolge. Um zu verdeutlichen,
dass es um eine lebensentscheidende Frage gehe, zitierte Rosenberg ausführlich
Winston Churchill: „Die Nazidiktatur und den preußischen Militarismus
auszurotten, sei das Ziel dieses Krieges und wir werden nicht müde werden, bis
beides mit Stumpf und Stiel vom Erdboden verschwindet“. Die Beseitigung des
Nationalsozialismus sei „ein alter jüdischer Wunsch“. Es gehe also um die Führung
und Neugestaltung in Europa, daher stünde man in der schwersten Prüfung aber
auch vor der größten Möglichkeit.
Rosenberg bot der niedersächsischen, braunschweigischen
NS-Elite ein geschlossenes, wie er meinte, philosophisch untermauertes Bild von
der Lage, das sie in ihrer Entschlossenheit zu einem Endkampf motivieren
sollte. Es vermittelte ein großes, erstrebenswertes Ziel, er knüpfte an den
verheißungsvollen Anfang 1933 an, auch im Hinblick - wie er glauben machen
wollte – auf die „Überwindung der sozialen Gegensätze“, dem nun ein
verheißungsvolles Ende folgen werde. Diese Rede macht deutlich, warum die
nationalsozialistische Führung und die ihr folgenden Generäle diesem Krieg kein
Ende machen konnten. Das hätte für sie den Abbruch der Revolution und die
Zerstörung ihres Weltbildes bedeutet.
Dieses Kriegs- und Weltbild war für sie durch nichts
wiederleg- und zerstörbar. Während Rosenberg noch in Hannover redete, saßen die
Braunschweiger in ihren Bunkern und hofften auf Befreiung aus der Feuersbrunst,
die die alliierten Bomberverbände in der Braunschweiger Altstadt entfacht
hatten.
„Seit dem 15. Oktober erstarb das kirchliche Leben“[39]
Diese Überschrift findet sich in der Kirchenchronik der
Katharinengemeinde. Beim großen Nachtangriff am 14./ 15. Oktober 1944 von 1000
Bombern auf die gesamte Altstadt, bei der 23.000 Braunschweiger in sechs
öffentlichen Großbunkern und zwei öffentlichen Luftschutzräumen durch
Feuerwände eingeschlossen waren, aber gerettet werden konnten[40],
wurde die Petrikirche völlig zerstört, ebenso das Pfarrhaus, die
Schwesternwohnung und der Kindergarten.
Davon berichtete der Petripfarrer Freise:
„Die Stadt Braunschweig hatte am 15. Oktober 1944 in den
Nachtstunden zweimal Fliegeralarm. Um 23 ½ Uhr dauerte derselbe nicht lange, aber
um 1.30 Uhr heulten die Sirenen wieder. Dieses Mal unternahm die britische
Luftwaffe einen Großangriff auf unsere Stadt. Die feindlichen Flieger setzten
ihre Angriffsziele, dann fiel auch schon eine Unmenge an Bomben. Das gesamte
Stadtgebiet wurde erfasst. 33 Minuten dauerte der Angriff. Als dann die
Menschen aus Kellern und Bomben herauskamen, brannte die ganze Altstadt.
Auch die Petrikirche hatte Feuer erhalten. Es brannte der Turm, das
Mittelschiff und der Boden über dem Altarraum. Das Pfarrhaus schien zunächst
noch unversehrt. Als aber die Pfarrersleute hinein kamen, fanden sie 4
Brandbomben, die gelöscht wurden. Man suchte vom Hausrat im Keller zu bergen,
aber bald stellte es sich heraus, dass das Haus an allen vier Ecken brannte.
Wahrscheinlich hat es von dem brennenden Nachbargrundstück und von der Kirche
Feuer erhalten. Bei der Stärke des Brandes war an ein Löschen nicht zu denken,
zumal die Feuerwehr nicht herankonnte, es brannte fast jedes Haus in dieser
Gegend der Stadt. Mehrere Male habe ich in dieser
Nacht versucht, an das Pfarrhaus heranzukommen, um noch etwas zu retten. Erst
am anderen Morgen gegen 8 ½ Uhr gelang es, aber das Pfarrhaus war schon bis in
das Erdgeschoss ausgebrannt, ja sogar schon bis in den Keller. ... In der
Petrikirche blieb nur der Altar aus dem Jahre 1649 erhalten, er ist erst später
beschädigt. Bänke, die auf dem Altarplatz und in der Sakristei standen, blieben
verschont. Die Tunicaglocke aus dem Jahre 1857 und die 1937 erweiterte und
vergrößerte Orgel wurden ein
Raub der Flammen.
Die Mehrzahl der Häuser der Gemeinde ist in dieser Nacht vernichtet. Keiner der
hier aufgezählten Straßenzüge ist verschont geblieben: Stiftsgasse, Hintern
Brüdern, An der Petrikirche, Bäckerklint, Südklint, Radeklint, Lange Straße, Am
neuen Petritore, Am alten Petritore, Petritorwall, Am Petritor, Rosental,
Celler Straße, Freisetraße, Klosterstraße, Rennelbergstraße, Petristraße,
Häckelstraße,
Liebigstraße, Hildesheimer Straße, Sankt Annastraße, Julius-Konegen-Straße,
Saarbrückener Straße, Am Anger, Flaschendreherkamp, Am Ölper Berge, Bei dem
Gerichte, Amalienplatz,
Amalienstraße, Eulenstraße, Gartenstraße, Keplerstraße und Maschstraße.
In diesen Straßenzügen gibt es nur ganz wenig unversehrte Häuser. In manchen
der arg beschädigten Häuser richteten die Menschen sich wieder ein. Der weit
größte Teil der Mitglieder fanden in anderen Stadtteilen eine Unterkunft, oder
wurden gar im Lande Braunschweig untergebracht. ...
Besonders bei dem schweren Angriff am 15. Oktober 1944 sind eine ganze Reihe von
Gemeindeglieder tödlich getroffen. Die Mehrzahl davon wohnte in der engen
Innenstadt. Bei den Trauerfeiern gab die Gewissheit Johannes 10,2 Inhalt und
Gepräge: „Und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nicht umkommen,
und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Der Vater, der sie mir gegeben
hat, ist größer denn alles; und niemand kann sie aus meines Vaters Hand
reißen.“
Die Gemeinde ward zerstreut. Sobald es möglich war, festzustellen, wo die
einzelnen Gemeindeglieder geblieben waren, ging der Gemeindepfarrer von der
Gemeindeschwester unterstützt daran, die Anschriften zu sammeln und die
zerstreuten Gemeindeglieder aufzusuchen und zu einer
Gemeinschaft zusammen zu schließen.“[41]
Die Parteizeitung brachte zusammen mit einer kurz gefaßen Geschichte zwei
Bilder von der zerstörten und unzerstörten Petrikirche.[42]
Wie die Petrikirche wurde auch die benachbarte Brüdernkirche
schwer beschädigt und die Gebäude des Franziskanerklosters fast völlig
zerstört, die Martinikirche so beschädigt, dass keine Gottesdienste gehalten
werden konnten,[43]
die Türme der Katharinenkirche, das Glockenhaus und die Aufgänge brannten
völlig aus. Sämtliche Fenster waren zerstört. Aber die Außenmauern standen.[44]
Die kleinste aller Innenstadtkirchen, die Michaeliskirche,
war stehen geblieben.
Die Innenstadt war ein einziges Trümmerfeld, das die
Grundstücke und die Straßen meterhoch zudeckten. Die schmalen Straßen in der
Altstadt waren von den hohen zusammengestürzten Fachwerkhäusern vollständig
zugeschüttet und der Verlauf der Straßenzüge nicht mehr zu erkennen.[45]
Von dieser ersten Phase der Verwüstung sind bisher keine Bilder veröffentlicht.
Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene wurden in das Trümmerfeld kommandiert, um
kleinste Schlängelwege durch die Trümmerwüste zu schaufeln. Die vorhandenen
Fotos zeigen erst diese zweite Phase der Verwüstung.
Der Generalstaatsanwalt berichtete, dass Braunschweig am 15.
Oktober noch 160.000 Einwohner hatte, von denen durch den Angriff 60.000
obdachlos geworden seien.[46]
Die Gauleitung veranstaltete erst 14 Tage später, am
Sonntag, dem 29. Oktober, einen pompösen Trauerakt, erst im Staatsdom, dann auf
dem Schlossplatz. Das Programm im Staatsdom bestand aus zwei Bachstücken auf
der Domorgel, „Totenklage“ aus Wagners Rienzi und zum Schluss aparter Weise
Beethovens „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“, dazwischen Gedichte von
Bertram, Anacker und Binding, vorgetragen vom prominenten Berliner
Staatsschauspieler Paul Hartmann und Hella Kaiser aus Braunschweig. Auf dem
Schlossplatz waren zahlreiche Särge aufgestellt und ein übergroßes schwarzes
eisernes Kreuz, das dort für die Zeit nach dem Krieg zur Mahnung stehen bleiben
sollte. Dort sprach Gauleiter Lauterbacher: „Unsere Antwort auf den Terror der
Feinde ist der erneute Schwur zu kämpfen.“[47]
Das war der kümmerliche Staatstrost aus Pathos, Propaganda
und verlogenen Aussichten, wie sie autoritäre Staaten zu allen Zeiten
zelebrieren.
Die Zerstörung der Gemeinden
Mit der Zerstörung der mittelalterlichen Altstadt waren auch
die bewohnten Gemeindebezirke der Innenstadtgemeinden entvölkert. Es gab dort
überhaupt keine Kirchengemeinden mehr. Mit der Zerstörung der Kirchengebäude
und Pfarrhäuser war für die in Kellern hausende noch verbleibende
Restbevölkerung auch ein Sammelpunkt genommen. Das gottesdienstliche Leben
verlagerte sich in die Stadtrandgemeinden.
Pfarrer Siegfried Stange schildert die Lage aus der Sicht
der Katharinengemeinde in der Kirchenchronik folgendermaßen:
„Die Steigerung der
Luftalarme und Luftangriffe auf Braunschweig hatten in den letzten Kriegsjahren
seit 1943 das Gemeindeleben, insbesondere den Kirchenbesuch stark gelähmt. Die
Katastrophe der Stadt in der Nacht vom 15. zum 16. Oktober 1944, die den
Großteil Braunschweigs in Trümmer legte, traf die Katharinengemeinde besonders
schwer. Mehr als die Hälfte der Häuser ihres Bereiches – im besonderen das
dichtest bewohnte Viertel zwischen Steinweg und Fallersleberstraße, die
Wendenstraße, der Wendentorwall, die Gauß-Spielmann Zimmer- u. Göttingstraße
sanken in Trümmer. Drei Viertel der Gemeindeglieder wurden obdachlos. Von
ursprünglich 12.000 Seelen bewohnten im Sommer 45 noch ca 3000 den alten
Bezirk der Katharinengemeinde.
Seit dem 15. 10.44 erstarb in der Katharinengemeinde das
kirchliche Leben in hohem Maße, zumal außer den kirchlichen Räumen beide
Pfarrer fehlten und die Gemeinde von den ohnehin stark überlasteten Geistlichen
der Paulikirche mit versorgt werden mussten.“
Es hat in der Geschichte der evangelischen Stadtkirchen seit
der Reformation eine derartige Zerstörung von Kirchengebäuden nicht gegeben.
Sie war einzigartig und historisch ohne jeden Vergleich.
Die Zerstörung der katholischen Kirchen [48]
Die Luftangriffe
zerstörten von mal zu mal auch die katholischen Einrichtungen. Beim Angriff am
10. Februar 1944 erhielt das Vincenzkrankenhaus einen Volltreffer, der das
Gebäude bis auf das Erdgeschoss aufriss. Der Angriff am 23. April traf das
Krankenhaus erneut. Am 5. August 1944 wurde das Pfarrhaus von St. Joseph
zerstört, und der Feuersturm vom 15./16. Oktober vernichtete die barocke
Nikolaikirche. Die Kirche war von vielen Brandbomben getroffen worden, und der
Fachwerkbau brannte bis auf die Grundmauern nieder.[49]
Wie ein Wunder und durch die unermüdlichen Löscharbeiten der Gemeindemitglieder
blieb der andere Fachwerkbau der alten Schule, der heute noch zu besichtigen
ist (ein Teil der Grundschule Edith Stein), nebenan unversehrt, ebenso wie die
neue massive Schule, und das Nikolaistift. Auch andere Gebäude in diesem
katholischen Quartier brannten aus.[50]
Im Norden der Stadt wurde
die Laurentiuskirche so schwer getroffen, dass nur die Außenmauern stehen
blieben. Auch das dazugehörige, erst vor neun Jahren erbaute Pfarrhaus und das
Küsterhaus Hinter der Masch wurden zerstört. Pastor Lorenz Hellmold,[51]
der erst vor drei Monaten seinen Dienst in der Gemeinde angetreten hatte,
schrieb folgenden Bericht in der St. Laurentiuskirchenchronik nieder:
„Schon während des
Angriff versuchte ich mit einigen Männern den Luftschutzraum der früheren
Katholischen St. Laurentiusschule zu verlassen, wir kamen aber nur bis zur
Treppe, da schlugen uns schon die hellen Flammen von gegenüber
entgegen..Während ich mit Küster Fischer noch auf der Treppe stand, hörten wir
das Rauschen einer fallendes Luftmine, sodass wir eiligst in den Keller
springen mussten. Kaum hatten wir die schwere Eisentür zugeschlagen, da krachte
es und die Menschen im Keller wurden durcheinandergeschüttelt und vom Luftdruck
zu Boden geworfen. Nicht weit von uns, auf dem Amalienplatz, war die Mine
krepiert und hatte dort eine Reihe großer Gebäude dem Erdboden gleichgemacht.
Furchtbar war die Wirkung!.. Als dieser Sturm an uns vorüber war, wagten wir
eine neuen Vorstoß´. Es ließ mir keine Ruhe mehr im Keller, ich musste wissen,
ob Kirche und Pfarrhaus noch da waren. Doch, welch ein Grauen! Als ich aus der
Tür kam, sah ich das ganze Kirchendach in hellen Flammen stehen. Zu löschen war
da nichts mehr! Jetzt galt es noch zu retten, was zu retten war. Ich stürzte
mit dem Stahlhelm auf dem Kopf unter dem Rauschen der Bomben in anderen
Stadtteilen, durch den entsetzlichen Feuersturm und Funkenflug durch die
Sakristei in die Kirche zum Tabernakel, um das „Sanctissimum“ in Sicherheit zu
bringen..Dann, während ich vor dem Altare stand, stürzte hinter mir schon die
Holzdecke der Kirche in großen Teilen brennend in den Kirchenraum herab..Es
näherte sich eine neue Welle angreifender Bomber,..schon fielen die Bomben
immer näher.. Wieder ging es noch einmal im Tiefflug über uns hinweg und manche
Sprengbombe und Luftmine ließ uns im Keller abermals zusammenschrecken. Staub
und Rauch füllte den Schutzraum und nur mit nassen Tüchern im Mund und
Schutzbrille war es möglich auszuhalten...Der Hauptausgang der Schule war nicht
mehr passierbar..Es musste ein anderer Ausgang ausgebrochen werden, um die etwa
60 Frauen und Kinder ins Freie zu schaffen; denn auch unsere Schule hatte
mehrere Brandbomben bekommen und brannte in der obersten Etage..Ich war zum
Pfarrhaus gelaufen mit einigen holländischen Zivilarbeitern. Das Dach stand in
hellen Flammen, der Haupteingang war nicht hat mehr passierbar, nur vom Garten
aus konnten wir durch die Kellertür in den Keller gelangen und holten heraus,
was unten war.. Aus der Sakristei und dem Sakristeikeller holten wir sämtliche
Paramente und die Kirchenwäsche heraus, ebenso die Kelche. Da ringsum alles in
Flammen stand, mussten wir uns erst einen sicheren Zufluchtsort suchen. Auf dem
Wendenring 37 bei Familie Oberthür stellten wir alles zunächst unter und wurden
in demselben Hause bei Familie Sommer aufgenommen. In der Wohnung von Frau Sommer
fand dann auch von Montag bis Donnerstag die hl. Messe statt. Freitag den 20.
Oktober 44 war das Pfarrhaus soweit hergerichtet, dass von diesem Tage ab der
Notgottesdienst abgehalten werden konnte... Der Raum fasste 120 Leute, sodass
er unter den gegenwärtigen Umständen den Ansprüchen genügte...Der größte Teil
der Gemeinde ist ausgebombt und evakuiert.“ [52]
Ich finde es
beispielhaft, wie nach der Ausbombardierung sofort in einem Privathaus oder
anderswo zur Messe eingeladen wurde. Hier zeigt sich ein wesentlicher
Unterschied zur Struktur des evangelischen Gottesdienstes. Die Messe machte dem
Gottesdienstbesucher anschaulich, dass der auferstandene Christus im Vollzug
des Abendmahles leibhaftig gegenwärtig geblieben ist. Der Glaube, dass Gott
auch in der Trümmerlandschaft anschaulich bleibt, ist für den Gläubigen eine
größere Hilfe als Sinndeutungen durch eine Predigt.
Am nächsten Tag war
Bischof Machens in die Stadt gekommen. „Ich bin am Tage nach dem entsetzlichen
Unglück, das euch und eure Stadt getroffen hat, durch eure Straßen gegangen
zwischen rauchenden Trümmerstätten hindurch.“ Machens stand vor den Ruinen des
Krankenhauses, von Nikolai und Laurentius. „Ich habe alle eure Not vor Gott
getragen und trage sie noch täglich zum Altare zu Gott“. Machens beschrieb dann
in einem Hirtenwort, das am nächsten Sonntag in den Gottesdiensten verlesen
wurde, das Innere der Kirche, Tisch und Tabernakel, Taufbecken, Beichtstuhl und
Kanzel und was sie den Gemeindemitgliedern bedeutet hatten. „Ist es nun vorbei
mit Trost und Friede, Kraft und Gnade? Nie und nimmer. Ich bitte euch, kommt zu
den Notkapellen, die eure Seelsorger in treuer Hirtensorge eingerichtet haben“.
„Wie sind wir selber wieder so lebendig an Tod und Gericht und Ewigkeit??
Sorgt, dass diese Tempel nicht durch Spreng- und Brandbomben schwerer Sünde
zerstört und geschändet werden.“ Dechant Stuke richtete umgehend im
Nikolaistift einen Raum als Notkirche für die Gottesdienste und im
Konferenzsaal des Pfarrhaus eine Sakramentskapelle für Taufen, Trauungen und
Beichtgelegenheit ein. Die Laurentiusgemeinde schuf im Keller des zerstörten
Küsterhauses einen Gottesdienstort.
Deutungen der Zerstörung
Die Zerstörungen der Stadt hatten die begreifliche Reaktion,
dass sich die Menschen vom Glauben abwandten. „Selbst
die, die früher „bei uns“ waren, beginnen mehr und mehr sich andern Ufern
zutreiben zu lassen“, schrieb Propst Leistikow seinen Stadtpfarrern.[54]
E gab drei unterschiedliche Deutungen der Zerstörung.
a) Mit den Vokabeln und Deutungsmustern des traditionellen
Christentums suchte der Stellvertreter des Landesbischofs, Oberlandeskirchenrat
Röpke, zu deuten und zu trösten. In einem Schreiben an alle Pröpste vom 17.
Oktober ordnete er die Verlesung eines Briefes an die Braunschweiger
Stadtgemeinden in der ganzen Landeskirche an.[55]
Nach der Klage über die Zerstörung der Wohnungen und der Kirchengebäude
erinnerte Röpke daran, dass „Einer steht, der uns die Hand hält im Zittern und
Beben. Zu ihm wollen wir miteinander beten in aller Not“. Er ermahnte die
Gemeindeglieder zum Glauben an Christus, den „Flammen nicht versengen und verbrennen,
fallende Trümmer und blindwütend geworfene Bomben nicht vernichten können. Der
bleibt.“ Röpke zitierte mehrere bekannte Gesangbuchverse z.B. „Soll’s uns hart
ergehn, laß uns feste stehn“, er erinnert an die Taufe, die Konfirmation und
Trauung als die „Marksteine eures Lebens“, in denen sie Gottes Wort vernommen
hätten. „Da, wo die Gemeinde zerrissen ist, sammelt Euch unter Gottes
Wort,..vertraut auf Gott und wankt nicht.“ Röpke wandte sich an den treuen,
festen Kern der Gemeinden und rief alte Trostworte in Erinnerung. Er
problematisierte nicht die einzigartige Zerstörung der Stadtkirchen und die
Zerstörung von Glauben. Er suchte nicht nach Gründen und ihrer Herkunft.
Diese Erklärung war nicht frei von Vokabeln der
Propaganda. Röpke bezeichnete die Bombardierung als „blindwütigen Terrorangriff,
der über Eure Stadt dahinraste“. Jesus wurde die erquickende Quelle genannt,
„die uns immer wieder Kraft spendet fürs Leben, das unserm geliebten Vaterland
gilt.“ Röpke verband also den Einsatz fürs Vaterland im Jahre 1944 noch mit dem
Glauben an Gott, der für einen solchen Einsatz erst richtig tüchtig macht. Das
entsprach auch Röpkes persönlicher Meinung, die er in einem Brief an einen im
Felde stehenden Pfarrer so wiedergab: „Ich weiß aus Erfahrung, dass gerade auch
der Kriegsdienst unserer Pfarrer für das Amt von besonderem Segen ist. Ich
möchte in meinem Leben dieses Fronterlebnis nicht missen und wäre, wenn es
meine schwere Verwundung zuließe, selbst wieder dabei, um Führer und
Vaterland den schuldigen Dienst zu tun.“[56]
Im Begleitbrief an die Pröpste verband Röpke die Liebe und
Treue zueinander mit der Liebe und Treue „zu unserm teuren deutschen
Vaterland“. Für Röpke hatte der Nationalsozialismus und die
nationalsozialistische Führungselite den Begriff des Vaterlandes keineswegs
verdunkelt. Trotzdem werden die Gaupropagandaleiter und fanatischen Nazis sich
über dieses Kanzelwort Röpkes keineswegs gefreut haben. Zu deutlich spricht aus
ihm die Frömmigkeit eines Christen, der in der Bibel und dem Gesangbuch zu Hause
ist und dessen im Grunde unpolitische Haltung ihn davor bewahrte, die hohlen
nazistischen heroischen Parolen nachzubellen.
Aber konträr anders als Wicke und Leistikow hielt Röpke an
dem traditionellen Christentum und Glauben fest. Zu einem Auszug in ein für die
Gestaltung der Kirche neues unbekanntes Land fehlten ihm Vision und Mut.
b) Propstei Leistikow dagegen rief die Christen in
Braunschweig zu Umkehr und Buße auf und verband diesen Ruf mit einer kaum
zumutbaren Schlichtheit seines Glaubens. Der Propst deutete
deutete die Verluste an Kirchen und Pfarrhäusern als einen
demonstrativen Ruf Gottes.[57]
„Da liegen nun alle unsere großen Kirchen verwüstet. Wir können darin nicht
bloß die Ergebnisse der verabscheuungswürdigen Methoden unserer Feinde sehen. Wir
blicken tiefer. Unsere Kirchen waren schließlich nur noch Fassaden. Wir konnten
sie schon lange nicht mehr mit Menschen füllen. Haben wir sie mit dem rechten
Inhalt füllen können?.. Jesus Christus will sich nicht in Liturgien an
Hochaltären anbeten und ansingen lassen. Er will in uns lebendig werden. Ist er
das schon geworden? In uns, seinen Predigern und in unsern Pfarrhäusern?“
Die schlichte Frömmigkeit des Propstes hielt den Blick auf
das Ausmaß der Zerstörung aus und brach darüber nicht in Selbstmitleid aus. Sie
benutzte auch nicht das einfache Mittel, alle Schuld bei dem Gegner zu suchen,
sondern stellt die Gottesfrage. Sie dämonisiert nicht die Zerstörung
Braunschweigs als ein Werk des Teufels, sie deutete den Angriff als eine
Demonstration Gottes.
Als die Magnikirche und das Marienstift im April 1944
schwer verwüstet wurden, schlug Propst Leistikow den Predigttext für den
nächsten Sonntag, den dritten Sonntag nach Ostern auf. Er lautete: „Wir wissen
aber, so unser irdisches Haus, diese Hütte, zerbrochen wird, dass wir einen Bau
haben, von Gott erbaut, ein Haus nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im
Himmel.“ ( 2.Kor. 5,1-9) Paulus spricht vom Sterben des Menschen, Leistikow
sprach vom zerbrochenen und zerstörten Kirchengebäude, mehr noch: „Ich meine,
wir müssten es ohne Wenn und Aber der Gemeinde einfach bezeugen: und wenn ich
von den Trümmern meines zusammenstürzenden Hauses begraben werde - ich gehe zu
Gott in ein neues Leben. So frei und froh will uns der Glaube an unseren
auferstandenen Herrn machen.“[58]
Das war als ein sehr persönliches Bekenntnis
wohl zu respektieren, als homiletischer Ratschlag eine starke Überforderung.
c) Der Magnipfarrer J.H. Wicke
zog die schärfste Folgerung: die Trennung von der überlieferten Kirchlichkeit. Uns
ist die Predigt erhalten, die der Magnipfarrer Johann Heinrich Wicke an diesem
3. Sonntag nach Ostern Jubilate gehalten hat.[59]
Wicke gab der Predigt das Thema „Heimweh“ und deutete die stehen gebliebenen
gotischen Bogen des Mittelschiffes der Kirchenruine als das bleibende
Christuszeugnis. „In dem hoch aufgerichteten Bogen ist uns ein Zeichen für den
Herrn gegeben, der über die Trümmer sich erhebt, der aufrecht bleibt, auch wenn
die Hüllen fallen müssen.“ Wicke sprach von dem „selbstverständlichen Christentum“,
das nun in Trümmern gegangen sei, dafür aber sammle sich eine Gemeinde aus dem
Geist Gottes, „..er will uns herausnehmen aus dem Trümmerfeld, in dem wir
täglich graben und zu retten suchen, was zu retten ist.. auch ein uns bisher
vielleicht viel zu selbstverständliches Christentum kann mit den gewaltigen
Kirchen in Trümmern gehen, aber der Geist, der einst den Gemeinden solche
Kirchen schuf, wird nie vergehen.“ An den Innenwänden der stehen gebliebenen
wuchtigen Türme, der dem Bohlweg zugewandten Westfront der Magnikirche, war
noch das Psalmwort zu lesen: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von
welchen mir Hilfe kommt.“ Wicke ermutigte seine Gemeinde, auf lieb gewordene
Traditionen wie auf altes mitgeschlepptes Gepäck zu verzichten. „Wir halten es
für weitaus wichtiger, nach Hause zu kommen, als auf halbem Wege liegen zu
bleiben, weil wir uns von der bisherigen Heimat nicht trennen können. Dieses
Los wollen wir ruhig denen überlassen, die in irgendeiner Religion oder Weltanschauung
vergeblich auf eine bessere Zukunft warten. Gott hat uns die Brücke geschlagen,
auf der wir aus der altgewohnten Heimat der heute zusammenbrechenden alten Welt
hinübergehen sollen in die Zukunft, die er für uns herrlich bereitet hat.
Dieses Heimweh sei nicht nach rückwärts gewandt, es sehne sich nicht wehmütig
zurück in die frühere Jugend, sondern sei voller Bereitschaft, „aus der Fremde
einzuwandern in das neue Land, um bei Gott zu Hause zu sein. Selig sind die
Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen.“ Wicke sprach nicht von den
Bombenopfern und stellte sie populär in ein Verhältnis zum Opfer Jesu, sondern
er stellte die riskante Frage nach der Verantwortlichkeit und antwortete
textgemäß: „Die Menschen machen sich durch den Krieg selber fremd in dieser
Welt..Wir reißen uns gegenseitig die letzten Zelte ein..Wir wissen, dass es uns
nicht bestimmt ist, für alle Zeiten verarmt, entblößt, obdachlos zu werden,
sondern dass wir, wenn wir die Hütten unsres sterblichen Lebens abstreifen, aus
den Trümmern der alten vergänglichen Heimat hinausgenommen werden, um von
dieser Stunde an bei Gott zuhause zu sein.“ Wicke deutete die Zerstörung der
Magnikirche, einer der ältesten Kirchen Braunschweigs, als das Handeln Gottes
an einem überkommenen Christentum und weckte zugleich in seelsorgerlicher
Zuwendung zu den nach Sinngebung fragenden Gemeindemitgliedern die Sehnsucht
nach einer Heimat bei Gott.
Das wird der vielleicht mal wieder mitschreibende
Gestapobeamte seiner Dienststelle in der Leopoldstraße, die ebenfalls im
Gemeindebezirk Magni lag, ungern weitergegeben haben. Die braunen Sinngeber
pochten auf Heroismus und Durchhalteparolen und blindes Vertrauen auf den
Führer und seine Wunderwaffen. Das bekamen sie hier nicht zu hören. Johann
Hermann Wicke war damals 35 Jahre alt, und erst seit einem Jahr Pfarrer in
dieser Gemeinde, Mitglied des Braunschweiger Pfarrernotbundes und der
Bekennenden Kirche. Widerständigkeit mitten im Bombenkrieg? Wicke setzte sich
in dieser Predigt nebenbei auch mit der Frage nach dem Ursprung des Krieges
auseinander. Er wies dabei die These, das Leben sei „Kampf aller gegen Alle“ ab
und fuhr fort: „Wer das erkannt, wird unsicher, er verliert den Glauben an die
Menschheit und fühlt sich plötzlich in seiner eigenen Haut nicht wohl.“ Das war
nicht systemgerecht.
Die systemgerechte, nationalsozialistische Alternative zu
dem vom Paulus gepredigten „ewigen Haus“ war das „Ewige Deutschland“. Unter
diesem Titel war ein deutsches Hausbuch 1940 vom Winterhilfswerk herausgegeben
und im Braunschweiger Westermann Verlag gedruckt worden. Das Haus, das den
deutschen Menschen nach seinem Tode aufnehmen soll, war das ewige Deutschland.
Karl Heinz Magerls nahm in seinem Gedicht „Soldatengebet“ die Motive vom
Lebenskampf und vom ewigen Haus auf. „Denn ohne Kampf verlohnt sich’s nicht zu
leben/ ich mag nicht warten Herr bis dann und wann/ mir deine Hände jenen
Lorbeer geben/ den ich mir selbst im Kampf erringen kann// Doch jage deine
Flammen mir entgegen/ und sende deinen stärksten Engel aus/ um mich mit einem
Schlage umzulegen/ und aufzunehmen in dein weites Haus.“[60]
Das war die nazistische Alternative zu 2. Kor. 5. Auf diesem Hintergrund
sprachlicher und gedanklicher Banalität des braunen bürgerlichen Braunschweig erwies
sich Wicke als herber Widerspruch und spitzer Gegensatz mitten im Bombenkrieg.Nach dem Krieg erinnert Wicke in seiner Predigt
vom 11. November 1945: „Als nach der Schreckensnacht des 15. Oktober 1944 die
Ausgebombten mit rauchgeschwärzten Gesichtern aus den Toren der Stadt strömten,
kam uns das Entsetzen an über so viele Heimatlose. Aber Gott hat sie
herausgerufen aus einer brennenden Stadt, weil er ihnen und mit ihnen uns allen
sagen wollte : Lasst die alten Heimat ruhig hinter euch.“ Wicke predigte über
den Auszug Abrahams aus seiner Heimat (1. Mose 12,1-3).[61]
Die Predigt in den Trümmern der Stadt war mit dem Kriegsende keineswegs
beendet.
Die Trümmerlandschaft dauerte bis Ende der 50er Jahre und
mahnte und rief die Braunschweiger Pfarrerschaft zur Besinnung.