Der Regierungswechsel in Berlin, die Verwandlung der
Braunschweigischen Heimat in ein Kriegsgebiet und die Antworten der
Landeskirche
Der Regierungswechsel in Berlin
Am 30. Januar 1933 schien sich zu ereignen, was der
Landesbischof in seiner Neujahrsbotschaft als den Anbruch einer neuen Zeit
erhofft hatte. Das Kabinett Schleicher war am 28. Januar zurückgetreten und vom
Reichspräsidenten Hindenburg ein neues Kabinett Hitler/Papen berufen worden.
Hitler war mit seinen 43 Jahren der jüngste Kanzler der Weimarer Zeit und nach
Auftreten und Sprache unbürgerlich, zu jener Zeit der Alternative. Und er war
radikal, gelegentlich brutal. Diese Mischung von jung, alternativ und radikal
machte ihn interessant. In der Öffentlichkeit wurde gerne die Jugendlichkeit
Hitlers als Ergänzung zum hohen Alter des Reichspräsidenten herausgestellt. [1]
Aber der Regierungswechsel war zu diesem Zeitpunkt für viele
überraschend gekommen. Elisabeth Gebensleben schrieb an ihre Tochter am
3.2.1933: „Hitlers Kanzlerschaft ist nun überraschend schnell gekommen. Damit
gerechnet hatte ich ja felsenfest, aber es schien doch so, als ob zunächst der
Anschluss verpasst war“.[2]
Die Partei war im Dezember 1932 nämlich ziemlich am Ende gewesen.[3]
Bei den Reichstagswahlen im November hatte die NSDAP 2 Millionen Stimmen
weniger erhalten, im Land Braunschweig 20.000 Stimmen weniger, sogar in der
Stadt Braunschweig 1.701 Stimmen weniger als im Juli 1932. Es bröckelte in
allen Stimmbezirken der Stadt. Dafür hatten die DNVP und die DVP Wähler zurückgewonnen.[4]
Den größten Stimmenzuwachs hatte die KPD mit 1.911 neuen Stimmen verbuchen
können[5].
Otto Thielemann trumpfte im „Volksfreund“ auf: „Die Nazis sind zum ersten Mal
geschlagen.“[6]
Der Reichspräsident wollte Hitler die Kanzlerschaft nach wie vor nicht
antragen. Die Partei war in sich zerstritten. Gregor Strasser trat als
langjähriger, erfolgreicher Organisator der Partei zurück, und Hitler brach vor
den Parteifunktionären in Tränen aus. „Wenn die Partei auseinander bricht,
nehme ich eine Kugel“, drohte er. Die Parteikasse war vollkommen leer, und der
Industrielle Thyssen, der sonst großzügig gespendet hatte, wollte die Spenden
einstellen. Spötter buchstabierten den Parteinamen NSDAP mit „Nun sind
die auch pleite.“ Aber das Blatt wendete sich im Januar
durch eine politische Schwenkung Papens, der eine Kanzlerschaft Hitlers dem
Reichspräsidenten schmackhaft gemacht hatte.
Der neue Kanzler
Die Schwächen Hitlers waren durchaus bekannt, daher wollten
die konservativen Kabinettsmitglieder den jungen Kanzler hilfreich „einrahmen“.
Der erfahrene Papen sollte und wollte als Vizekanzler die Kabinettsarbeit
bestimmen. Denn Hitler brachte für dieses Amt wenig berufliche Voraussetzungen
mit. Das war aus seinem Buch „Mein Kampf“ und aus dem frisierten und glorifizierten
Lebenslauf in der Lokalpresse anlässlich des 44. Geburtstag am 20. April 1933
herauszulesen. [7] Der Rowohltverlag
hatte 1933 außerdem die vorzügliche Analyse des Aufstiegs
der NSDAP von Konrad Heiden, einem Münchner Journalisten, veröffentlicht und
den bisherigen Lebenslauf Hitlers schonungslos geschildert.[8]
Hitler hatte die Niederlage von 1918 nie verwunden. Die
längste bisher von ihm ausgeübte berufliche Tätigkeit war das Soldatsein. Als
Soldat hatte er Brot und Sold, Anerkennung, Gemeinschaft, sogar Beförderung
gefunden. Das alles hatte er mit der Beendigung des Krieges verloren. Als er
aus dem Kriegslazarett entlassen wurde, war er 29 Jahre alt und stand vor dem
nichts. Er hatte keinen Beruf, er hatte keine Familie, er hatte keine weiteren freundschaftlichen
Kontakte.[9]
Das Kriegsende hatte ihn arbeits- und hoffnungslos gemacht. In dieser für ihn
aussichtlosen Lage fand er Anschluss an nationalistische Randgruppen und machte
sich zu deren Sprecher und Anführer. Er übte sein Redetalent und bezwang
manchmal seine Zuhörer mit überwältigenden Augenkontakten. Er fand Gönner und
Gönnerinnen, die ihn aushielten und seinen bescheidenen Lebensunterhalt
ermöglichten.[10]
Heiden: „Wovon lebt er eigentlich?“[11]
Die Ausstellung im Historischen Museum Berlin (Oktober 2010
- Februar 2011) unter dem Titel „Hitler und die Deutschen“ ging von der Frage,
die schon Heiden gestellt hatte, aus: „Wie war Hitler möglich? Warum konnte ein
politischer und sozialer Niemand, wie es Hitler bis zu seinem 30. Lebensjahr
war, in kurzer Zeit Massenwirkung erzielen?“ und kam zu der Antwort: „Hitlers
Macht ist weniger aus seinen Charaktereigenschaften und seinem vermeintlichen
persönlichen Charisma zu erklären, als vielmehr aus den
politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Motiven der Deutschen, die
ihre Ängste und Erwartungen auf ihn projiziert und ihn möglich gemacht haben“,
und fügte den viel verwendeten Ausschnitts aus Hitlers Rede auf dem
Reichsparteitag in Nürnberg 1936 an: „Das ist das Wunder unserer Zeit, dass ihr
mich gefunden habt unter so vielen Millionen1 Und dass ich euch gefunden habe,
das ist Deutschlands Glück“. [12]
Wie Hitler ignorierten nämlich auch große Teile der
deutschen Bevölkerung die Niederlage von 1918 und erstrebten die Revision des
Versailler Friedensvertrages unter allen Umständen. So kamen sich schon 1933
beide entgegen, Hitler und Teile der deutschen Bevölkerung. Nach dem Kriege hat
Karl Bonhoeffer, der bis 1938 Chef der psychiatrischen Abteilung der Berliner
Charite gewesen war, der Vater von Dietrich Bonhoeffer, diese Beziehung
zwischen Hitler und den Deutschen aus psychologischer Sicht knapp beschrieben.[13]
Amerikanische Psychohistoriker haben in den 80er Jahren diese Spur verfolgt. [14]
Das Staunen über Hitlers Aufstieg war auch in Braunschweig groß. „Nun
sitzt dieser ehemals einfachste Mann, der im Schützengraben lag, da, wo
Bismarck saß!“ [15]
Der als „Machtergreifung“ verfälschte Regierungswechsel
Zunächst sollte der Regierungswechsel als historisch
eingeprägt werden. Dazu verfälschte die Nazipropaganda den Regierungswechsel in
eine „Machtergreifung“ um. Hans Ulrich Ludewig bezeichnet ihn stattdessen als
stufenweise „Machtdurchsetzung“[16],
der Katalog zur Ausstellung „Hitler und die Deutschen“ im Deutschen Museum in
Berlin spricht von „Machtübertragung und nationale Revolution“,[17]
Ernst August Roloff als „Machterschleichung“. Unter der Überschrift
„Erschlichene Macht“ hatte Konrad Heiden in seiner Hitlerbiografie bereits 1937
den Machtwechsel beschrieben.[18]
Der politische Vorgang wird aus der damaligen Sicht m.E. am besten immer noch
mit dem Begriff „Regierungswechsel“ getroffen.[19]
Propagandistisch wurde der Regierungswechsel von der NSDAP
in Berlin mit dem immer wieder gezeigten Fackelzug durchs Brandenburger Tor
groß herausgestellt. Auch in Braunschweig hielt am Abend des 30. Januar die
NSDAP-Ortsgruppe eine Huldigungsveranstaltung für Hitler mit Fackeln und Reden
auf dem Schlossplatz ab. Es sprach die erste Parteigarnitur, aber kein Mitglied
der Landesregierung. Ihre Reden muteten wie eine Kriegserklärung an.
Kreisleiter Hesse[20]
sprach vom „Ende der nationalsozialistischen Duldsamkeit gegenüber allem
Undeutschen“, er meinte damit Kommunisten und Sozialdemokraten. „Wir werden den
Kampf auch hier in Braunschweig in voller Front weiterführen“. SA Führer Sauke[21]
knüpfte daran an: „Wir stehen heute am Ende eines Vorgefechtes. Der eigentliche
Kampf steht noch bevor.“ Und SS Führer Alpers[22]
beschwor die „eiserne Disziplin“ von SA und SS, diese habe „von
Angriffsschlacht zu Abwehrschlacht und wieder zu Angriffsschlacht“ und damit
von Erfolg zu Erfolg geführt.[23]
Dieses Vokabular deutet an, dass sich die Lage als Kriegssituation in den
Köpfen der führenden SA und SS Leute festgesetzt hatte. Der anschließende
Marsch durch die Innenstadt endete im einsetzenden Glatteis.
Für die meisten Braunschweiger aber war es ein
Regierungswechsel innerhalb gefestigter demokratischer Strukturen. Nach der
Kanzlerschaft Hitlers konnte wieder ein anderer Politiker die Regierung
übernehmen. Die Braunschweigische Staatszeitung kommentierte die neue
Koalitionsregierung in Berlin als „Kabinett der Machtteilung“. Das neue
Kabinett sei „kein Kabinett der vollendeten Machtübernahme durch Adolf Hitler“.[24]
Auch für die Braunschweiger Neusten Nachrichten stand der republikanische
Zusammenhang, in dem sich der Regierungswechsel vollzog, im Vordergrund. Hitler
verfüge keineswegs über die ganze Macht, das Kabinett sei an die Verfassung
gebunden, alle verfassungsmäßigen Garantien, die ein Staatsbürger verlangen
könne, seien gegeben.[25]
Dass der Regierungswechsel allerdings für Braunschweiger
Nationalsozialisten doch einen Systemwechsel bedeuten sollte, hatte Gauleiter
Bernhard Rust in Braunschweig schon vor dem 30. Januar angekündigt. Am Montag,
dem 23. Januar 1933, forderte er auf einer NSDAP Generalmitgliederversammlung
in Braunschweig das Ende des „Parteiismus“. In einer künftigen Regierung müsse
die NSDAP die Bewegungsfreiheit haben, „die Organisationen, die den Tod des
deutschen Volkes wollten, endgültig auszuscheiden“.[26]
In diesem Sinne hatte die kommunistische Neue Arbeiterzeitung am 7. Februar
prophezeit: „Das ist keine parlamentarische Regierung, die abtreten wird, wenn
die Mehrheit des neu zu wählenden Reichstages gegen sie entscheidet.“[27]
Hitler in Braunschweig
Hitler war in Braunschweig kein Unbekannter. Er war zwischen
1925 und 1932 oft in Braunschweig gewesen und hatte Reden gehalten, mal auf
öffentlichen Wahlveranstaltungen, mal zu seinen Parteigenossen, einmal bei der
Beerdigung des Gauleiters Dinklage.[28]
Er sprach in überfüllten Versammlungen im Konzerthaus, Keglerheim und
Sächsischen Hof, im Hofjäger und im Eintrachtstadion. Seither sprachen damals
die sozialdemokratischen Freien Turner nur noch von „Nazieintracht“. In Hitlers
Reden wiederholten sich folgende Gedankengänge: Hitler beschwor seine eigene
schmale Lebensmitte als Soldat, als er erstmals Anerkennung und Auskommen
gefunden hatte, er idealisierte den Krieg als eine
„Schützengrabengemeinschaft“, die alle Standesunterschiede angeblich eingeebnet
hatte. Hitler blendete die typischen gravierenden Unterschiede jeder Front
zwischen Schützengraben und Etappe, zwischen Offizierskasino und einfachen
Soldaten aus. „Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn ein Volk, das vier
Jahre lang an der Front zusammen gekämpft hat, nicht zu einer solchen Einigkeit
kommen würde“, nämlich den Arbeiter mit der Faust und mit dem Kopf
zusammenzuführen, so Hitler. In SA und SS setze sich das Frontsoldatensein
fort, und „nur dann kann es mit Deutschland wieder aufwärts gehen, wenn der
Geist dieser tapferen Braunhemden einst das ganze deutsche Volk erfüllt. Wenn
es dann aber soweit ist, dann „wehe unseren Feinden!“[29]
. Das Motto „Wehe unseren Feinden“ bedeutete das Ende demokratischer und
freiheitlicher Rechte, für Hitler jedoch den Anbruch von Freiheit, wie er sie
verstand, nämlich das „Befreitsein“ von Demokraten und Juden, und auch von der
bürgerlichen Etappe. „Wir werden dem Staat „das Gepräge einer nationalen
Gemeinschaft geben. Die Stunde der Freiheit wird dann gekommen sein.“[30]
Seine Absicht war es vor allem, „die Ketten von Versailles abzuwerfen“. Hitler
phantasierte die von Ludendorff im September 1918 öffentlich eingestandene
militärischen Niederlage in einen Sieg um, der dem deutschen Volk indes durch
die „Novemberverbrecher“, durch Juden und Demokraten angeblich genommen worden
sei. Vorwärts zurück in den Krieg für einen militanten Staat, war das schlichte
Politmotto Hitlers. Hitler, der die Front zu seiner Heimat gemacht hatte, war
nach Kriegsende heimatlos geworden und geblieben. Die Rückkehr in die Front war
für ihn der Weg zurück in seine Heimat. Hier liegt einer unter vielen anderen
Gründen, warum Hitler am Ende seiner politischen Wirksamkeit Millionen von
Deutschen heimatlos gemacht hat, die Braunschweiger sogar in ihrer eigenen
Stadt. Denn der Krieg schafft keine Heimat, sondern macht heimatlos.
Das andere Lieblingsthema Hitlers auch in Braunschweig
waren die Juden: „Dann zog Hitler in der bekannten Form und in der üblichen
Weise über die Juden her“, berichtete die Landeszeitung.[31]
Der Volksfreund zitierte Hitlers antisemitischen Ausfälle ausführlich: „Es gibt
keine jüdische Kultur, keine jüdische Sprache; alles ist zusammengestohlen. Die
Juden halten Westeuropa finanziell in ihren Klauen und beherrschen es politisch
durch die Demokratie“.[32]
Hitler präsentierte die typische antisemitische Ahnungslosigkeit über die
jüdische Kultur und über deren Bedeutung für das deutsche Geistesleben und die
christlichen Kirchen.
Rasse, Raum und Reich war ein weiterer Dreiklang der
verengten und eingeschränkten Gedankenwelt Hitlers.[33]
Beim Thema Rasse tobte Hitler in Braunschweig gegen die „Negerbataillone“ am
Rhein, die das deutsche Volk beaufsichtigten, und meinte die französischen
afrikanischen Truppen. „Das Negerblut wird sich im deutschen Volk verbreiten,
eine große Degeneration wird einsetzen und ein Zusammenbruch, wie ihn die
Weltgeschichte nicht erlebt hat, wird unser Volk betreffen“.[34]
Hitler sprach vor den Parteigenossen auch mal vom fehlenden
Lebensraum, der kriegerisch zu erobern sei, und Deutschland würde wieder durch
ihn zu einem „politischen Machtfaktor“ werden. Im Gegensatz zum fatalen
Weimarer Staat werde durch ihn ein neues deutsches Reich der Größe und
Herrlichkeit entstehen. Dabei war die Vorstellung von einem fehlenden Raum für
die deutsche Bevölkerung besonders abstrus. Zwar geisterte der populäre
Buchtitel „Volk ohne Raum“ von Hans Grimm seit 1926 als Hirngespinst in
deutschen Köpfen, denn tatsächlich gab es für die deutsche Bevölkerung im
Deutschen Reich sehr viel Raum. Außerdem war der begehrte „Raum“, der für
Hitler im europäischen Osten lag, längst von Menschen und ihren Kulturen
besetzt. Von russischer Kultur, Literatur und Kunst, geschweige denn von der
orthodoxen Kirche, hatte Hitler in seiner Halbbildung keine Ahnung. Dort
wohnten für ihn gar keine Menschen, sondern „Untermenschen“. Der begehrte
„Raum“ musste also erst von ihm leer geräumt werden. Innerhalb des
ideologischen Gleichklanges scheint mir der vom Lebensraum ein besonders
schriller Misston zu sein,
Als Hitler zum ersten Mal 1925 in Braunschweig sprach, war
er 36 Jahre alt, ein junger Wilder. Vom Inhalt seiner Reden kam wohl nur so
viel rüber wie, er werde alles umstürzen und anders machen. Eben wie junge
Wilde. Es war mehr der Rummel um seine Person, mehr Hitlerismus als Nationalsozialismus.
In der Mädchenmittelschule, Heydenstraße, stimmte 1925 „die robuste blonde Ilse
vor dem Unterricht ein neues Lied an: ’Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz, weiß,
rotes Band, Hitlers junge Garde werden wir genannt.’ Zwei, drei andere Mädchen
fielen begeistert mit ein.“[35]
Von seinen Mitschülern in der Mittelschule am Augustplatz wurde der jüdische
Bernhard Jelinowitz ständig verfolgt und verprügelt. Es half nichts, dass der
Rektor einmal vor versammelter Schülerschaft in der Turnhalle Bernhard verteidigte.
1931 und 1932 kamen viele Schüler bereits in braunen Uniformen zur Schule.
„Schon in diesen Jahren vor der Machtergreifung wandten sich auch meine Freunde
von mir ab, Ich wurde auch häufig von Hitlerjungen angespuckt, und meine
Freunde taten das auch.“[36]
Seit diesen Hitlerveranstaltungen in Braunschweig, die von
Tausenden besucht waren, begann eine immer enger werdende Bindung zwischen
Hitler und einem Teil der Braunschweiger Bevölkerung.
Elisabeth Gebensleben von Alten, die Frau des stellvertretenden
Bürgermeisters Gebensleben, gehörte zu den total Begeisterten und schrieb an
ihre Tochter in Holland über den Regierungswechsel am 3. Februar 1933 folgenden
Bericht: „Uns erreichte die Nachricht so: Frieda, die die schöne Aussicht aus
unsern Fenstern die Friedensallee (heute Jasperallee) hinunter sehr schätzt,
rief plötzlich Montag mittag: „Draußen werden lauter Hitlerfahnen
herausgesteckt!“ Die Mittagsnachrichten hatte ich leider verpasst, aber da kam
auch Vati mit dem Extrablatt. Vati lachte übers ganze Gesicht. Ich lachte auch
mit, aber als die erste Freude vorüber war, musste ich mich doch mal einen
Augenblick in einen geheimen Sessel zurückziehen und ein paar Tränen kullern
lassen. Endlich, endlich. Nun sitzt dieser ehemals einfachste Mann, der im
Schützengraben lag, da, wo Bismarck saß, nach den unglaublichsten Anfeindungen
und Verleumdungen. Vor 14 Jahren hatte er 7 Anhänger, jetzt 13 Millionen. Das
ist das Resultat einer so unfassbaren Energie, Selbstaufopferung und Kraft, wie
man es wohl kaum je erlebt hat in der Weltgeschichte.“[37]
Die Frau des Bürgermeisters schilderte die Sicht des gehobenen Bürgertums, aber
auch von allen, die sich von dem Regierungswechsel eine Besserung ihrer
Lebensverhältnisse erhofften.
Die Ansichten über Hitler indes waren auch in Braunschweig
geteilt. Schon bei seinem Besuch im November 1925 bezeichnete ihn der
Volksfreund schlicht als „Verfassungsfeind“ und sein Auftreten in Braunschweig
„eine Verhöhnung der Reichsverfassung“,[38]
das Reichsbanner protestierte damals gegen Landesinnenminister Johannes Lieff,
den „Schutzengel des Hochverräters“, der einen „politischen Schwerverbrecher“
begünstige. Hitler war wegen seines Putsches in München 1923 als Hochverräter
zu Festungshaft verurteilt worden. Hitler bestätigte bei seinem Auftritt am 5.
November 1925 den Eindruck eines Verfassungsfeindes, als er erklärte: „Verträge
seien, wie die Geschichte lehre, bei Änderung der Machtverhältnisse ein Fetzen
Papier.“[39]
Später amüsierte sich der Volksfreund über die schon vor 1933 zu Tage tretende
abgöttische Verehrung Hitlers besonders durch einige Frauen als „Messias“.
Durchgehend verwies die Linke auf die von Hitler ausgehende Gewalt. „Ein
Masseneinzug auswärtiger Gewaltmenschen ist von den Hitlerleuten organisiert“,
mahnte der Volksfreund schon 1925.[40]
Im Mai 1932 sprach der Volksfreund bereits von einem „Massenwahn in
Deutschland“.[41]
Proteste erlebte auch Frau Gebensleben am 1. Februar 1933
im Braunschweiger Kino: „Mittwoch Nachmittag war ich im Kino. Das kommt äußerst
selten vor. Nur wenn ich sozusagen über den toten Punkt hinwegkommen will. Da
wurde in der Wochenschau der Fackelzug gezeigt am Dienstag abend in Berlin zu
Ehren Hitlers und Hindenburgs. ..Hindenburg und Hitler am Fenster, Hochrufe,
Marschmusik. Da wurde im Kino laut Beifall geklatscht, zur selben Zeit
gepfiffen, „Nieder“- Rufe, in den ersten Reihen vor der Bühne sprangen schon
Arbeiter hoch. Es war grausig“.[42]
Stimmen aus der Landeskirche zum Regierungswechsel
Es gab nur wenige Stimmen aus den Braunschweiger Stadtkirchen
zum Regierungswechsel in Berlin. Zu den wenigen schriftlichen Äußerungen der
kirchlichen Regionalpresse zum Regierungswechsel gehörte die Einschätzung von
Pfarrer Heinrich Lachmund[43]
in der ständigen Rubrik „Kirchliche Umschau“ der Februarausgabe einer in
Braunschweig gedruckten Zeitschrift „Ruf und Rüstung“[44],
„Hindenburg und Hitler gemeinsam, das alte Deutschland hoch in Ehren und das
neue Deutschland reich an Hoffnungen, wird das die Schicksalswende des
deutschen Volkes werden?“ Lachmund stellte den Regierungswechsel als
„Schicksalswende“ in Frage. Hitler wurde an zweiter Stelle genannt. Die
Marxistenfront sei nicht „irgendwie zerbrochen“, das Zentrum zusammen mit der
Bayrischen Volkspartei im Reichstag immer noch eine starke Mitte. Es sei die
Frage, ob die Neuwahl am 5. März „eine wesentlich andere Zusammensetzung
bringen“ werde. Das war alles andere als der stürmische Parteijubel am
Brandenburger Tor, der eben nicht repräsentativ für die ganze deutsche
Bevölkerung war. „Ruf und Rüstung“ wurde außer von den konfessionellen
Lutheranern vor allem von den konservativen Kreisen der Braunschweiger
Domgemeinde gelesen. Sie gehörten nicht zu den Hitlerfanatikern, sondern zu
jenen Parteirechten, die Hitler bei der Regierungsbildung dazu benutzen
wollten, um ihre eigene Macht zu festigen, worin sie sich gründlich täuschten.
Domprediger v. Schwartz war Mitglied der DNVP, die im Kabinett mehrfach
vertreten war.
In demselben Februarheft wurde das „Altonaer Bekenntnis
veröffentlicht, das am 11. Januar unter sehr großer Beteiligung der Bevölkerung
in der Altonaer Kirche verlesen und von der Presse stark beachtet und zitiert
wurde.[45]
In Altona hatte es im Sommer 1932 eine Straßenschlacht zwischen kommunistischen
und nationalsozialistischen Trupps mit 12 Toten und 40 Verletzten gegeben. Das
veranlasste die dortigen Pfarrer zu einer grundlegenden politischen
Stellungnahme.[46]
Darin wurden aktuelle Themen wie Arbeitslosigkeit, Zerrüttung der Wirtschaft,
Arbeit als Ware, Missbrauch der kirchlichen Feiertage zu gesteigerter wirtschaftlicher
Betriebsamkeit aufgegriffen. Provozierend musste der Satz wirken, wonach es
eine Verleugnung des Herrn Jesus Christus sei, den Heldentod fürs Vaterland als
„seligen Tod“ zu verkündigen.[47]
Das stellte die gängige Kriegstheologie auf den Kopf. Die Bedeutung des
Altonaer Bekenntnisses lag vor allem darin, dass sich überhaupt einige Pfarrer
zur politischen Lage in ihren Gemeinden äußerten. Ihre Veröffentlichung in Ruf
und Rüstung im Februar 1933 wirkte entschieden distanzierend zum Jubel der Parteipresse.
„Wer die Kirche in ihrer Verkündigung dem Einfluss einer politischen Macht
unterstellen will, macht damit die politische Macht zu einer dem Christentum
feindlichen Religion,“ lehrten die Pfarrer.[48]
Das konnte leicht als Stellungnahme auch gegen die Bemühungen der NSDAP und
Hitlers verstanden werden, der zu jener Zeit die Kirchen in das politische
Schlepptau zu nehmen versuchte. Zwar bekräftigten die Verfasser die Schaffung
eines starken Staates mit herausragender Autorität. Aber deutlich ging das Bekenntnis
vom Mehrparteienstaat aus, und auch eine Opposition müsse sich vor Gott
verantworten.[49]
Mit der Veröffentlichung des Altonaer Bekenntnisses stellten sich „Ruf und
Rüstung“ und der Herausgeber des Sonntagsgrußes, Petripfarrer Freise, der das
Altonaer Bekenntnis in der Märznummer veröffentlichte, eher in die Reihe der
kritisch Abwartenden. Es blieb nicht bei der Veröffentlichung. Domprediger v.
Schwartz nahm in der Predigt am 12. Februar auf das Altonaer Bekenntnis Bezug.[50]
und einer der Verfasser, Pfarrer Hans Asmussen, äußerte sich im Aprilheft zum
Thema „Der Christ im heutigen Staat“.[51]
Der Kommentator des Braunschweiger Volksblattes beschrieb
den 30. Januar als Kabinettswechsel, von Schleicher zu Hitler/Papen.[52]
Der Wechsel sei zwar „erfreulich“, aber die Reichstagsmehrheit wegen der
unklaren Haltung des Zentrums und der Bayrischen Volkspartei nicht gesichert.
Den republikanischen Rahmen dieses Kabinettswechsels sprengte allerdings die
Bemerkung: „Die von den Kommunisten geförderte Unruhestimmung dürfte von der
Regierung bald unterdrückt werden.“ Davon waren die nächsten Wochen in einem
Maße erfüllt, wie sie sich der Redakteur des Braunschweiger Volksblattes wohl
kaum vorgestellt hatte.
Gegendemonstrationen im Reich und in Braunschweig
Der Regierungswechsel in Berlin löste im ganzen Reich
heftige Gegendemonstrationen aus. Schon am 31. Januar demonstrierten 7.000
Braunschweiger von der Eisernen Front, also Sozialdemokraten, gegen den
Regierungswechsel in Berlin. Hitlers Aufstieg war für sie aufhaltsam.
Gegendemonstrationen gab es an vielen Orten des Reiches, besonders durch die
KPD, die durch die spätere andauernde Wiedergabe des Fackelzuges der NSDAP
durch das Brandenburger Tor zu Unrecht verdeckt und in der Forschung
vernachlässigt wurden. Der Schöninger Anzeiger z.B. veröffentlichte bis Ende
Februar unter der Rubrik „Chronik der Krawalle“ Ort und Ausmaß der
Gegendemonstrationen, so bereits am 1. Februar 1933: „Bilanz der Berliner
Demonstrationen“, „Ein Toter in Breslau“, Politische Zusammenstöße in
Mannheim“, „.. in Halle und in Düsseldorf“, „Kommunistische Kundgebungen in
Stuttgart“, „Zusammenstöße in Schweinfurt“. In den folgenden Ausgaben wurde
über die anhaltenden Gegendemonstrationen in Essen, München, Königsberg,
Potsdam, Wanne Eickel, Senftenberg, Glogau, Altona, Lübeck, Köln, Krefeld,
Wilhelmsburg, in Pforzheim, Homberg, Stettin und immer wieder in Berlin
berichtet. Auch die Braunschweiger Staatszeitung informierte die
Stadtbevölkerung über die Gegendemonstrationen. „Die politischen Ausschreitungen
im ganzen Reich haben leider immer noch kein Ende“ berichtete sie am 3.
Februar. Dabei kam es immer wieder zu zahlreichen Verletzten und auch Toten.
Tumulte gab es auch in Braunschweig. „Und die Kämpfe, die
jetzt kommen werden! Vorgestern Nachmittag, als ich in der Stadt war, geriet
ich auf dem Bohlweg in Tumulte der Kommunisten; es war schrecklich. Rote
Fahnen, auch Reichsbannerfahnen dazwischen; lautes Schreien: „Nieder, nieder!“
Musik, Johlen und Rufen. Dazwischen die Sipo in Autos, zu Fuß, zu Pferde. Ich
flüchtete in einen Laden; die Leute ließen die eisernen Jalousien herunter. Als
ich die großen Volksmassen verblendeter, hasserfüllter Menschen sah, kam
blitzschnell ein banger Gedanke: Zu spät? Kam Hitler nun endlich ans Ruder,
aber zu spät? Der Bolschewismus ist ja viel, viel weiter drin im Volke als man
ahnt; auch all die Staatsmänner nicht, die bis jetzt am Ruder waren, und ihn in
blinder Schwachheit empor züchteten. Hitler hat die Gefahr erkannt; er wird den
Bolschewismus bezwingen!“ So die bereits zitierte Frau Gebensleben an ihre
Tochter am 3. Februar 1933.[53]
Die Heimat als Frontgebiet und das christliche Vokabular Hitlers [54]
„Er war seinem Wesen nach auf Zerstörung angelegt“, schreibt
Fest einleitend zu seiner Hitlerbiografie[55],
und Hans Ulrich Ludewig hat die NSDAP als „Bürgerkriegspartei“ beschrieben.[56]
Diesen Faden nehme ich im Folgenden auf. Dieses zerstörerische Wesen tobte sich
in den ersten Regierungswochen aus. Die rasche Beseitigung von KPD und SPD aus
dem politischen Leben hatte für die Regierung Hitler höchste Priorität. Sie
wurde in der 1. Kabinettsitzung am 1. Februar besprochen, und war ein Kernpunkt
seiner ersten Rundfunkansprache am 1. Februar um 22 Uhr an die deutsche
Bevölkerung, die von allen Kabinettsmitgliedern gebilligt worden war, und die
wohl auch von vielen Braunschweigern gehört wurde. Die Ansprache galt als so
grundlegend, dass sie am nächsten Tag um 14.00 Uhr, 19.30 Uhr und 22.30 Uhr im
Rundfunk wiederholt wurde. Sie war eine Kriegerklärung an die politische Linke
und reklamierte die Heimat als Frontgebiet. Nicht als Reichspräsident sondern
als „der greise Führer des Weltkrieges“ habe Hindenburg ihn gerufen, „noch
einmal wie einst an den Fronten, nunmehr in der Heimat in Einigkeit und Treue
für des Reiches Rettung unter ihm zu kämpfen“.[57]
Hitler markierte als ersten Frontabschnitt den totalen Krieg gegen die gesamte
politische Linke, „die den Zusammenbruch verschuldeten. Die Parteien des
Marxismus und seiner Mitläufer haben 14 Jahre lang Zeit gehabt, ihr Können zu beweisen.
Das Ergebnis ist ein Trümmerfeld“. Die kommunistische Methode des Wahnsinns
versuche das im Innersten erschütterte und entwurzelte deutsche Volk endgültig
zu vergiften und zu zersetzen. Angefangen bei der Familie, über alle Begriffe
der Ehre und Treue, Volk und Vaterland, Kultur und Wirtschaft hinweg bis zu den
ewigen Fundamenten unseres Moral und unseres Glaubens bleibe nichts mehr
verschont von dieser zerstörenden Idee.
Das war eine übel verzerrte Beschreibung der Weimarer
Verfassung und Republik, auf die Hitler einen Tag zuvor einen Eid geschworen
hatte. Es war die Absage an jede parlamentarische Auseinandersetzung, die
Ankündigung eines innerdeutschen Krieges, wie Hitler ausdrücklich bekräftigte.
Die Reichsregierung werde „der geistigen, politischen und kulturellen
Nihilisierung einen unbarmherzigen Krieg ansagen. Deutschland dürfe und werde
nicht im anarchischen Kommunismus versinken.“[58]
Hitler versetzte die deutsche Bevölkerung in eine Situation
äußerster Gefährdung, und verstand seine kommende Politik als „Mission“, sie
davon zu erlösen. Er spannte diese Kriegserklärung in einen auffälligen
heilsgeschichtlichen Rahmen. Seit 1918 („diesen Tagen des Verrates“) habe „der
Allmächtige unserem Volk seinen Segen entzogen“. Die Hitlerregierung dagegen werde
„das Christentum als Basis unserer gesamten Moral, die Familie als Keimzelle
unseres Volks- und Staatskörpers in ihren festen Schutz nehmen“. Fromm endete
dann auch die erste Ansprache an die deutsche Bevölkerung: „Möge der
allmächtige Gott unsere Arbeit in seine Gnade nehmen, unseren Willen recht
gestalten, unsere Einsicht segnen und uns mit dem Vertrauen unseres Volkes
beglücken. Denn wir kämpfen nicht für uns, sondern für Deutschland.“[59]
Das war eine unerwartete religiöse Sprache und Überzeugung
im politischen Programm einer deutschen Reichsregierung, wie sie seit Kaisers
Zeiten nicht gegeben hatte.[60]
„Eine einzige Kriegserklärung an die Arbeiterschaft“,
kommentierte der Volksfreund hellsichtig, und zitierte auch süffig die
religiösen Phrasen der Hitlerreden, weil diese seinem Weltbild von einer
kapitalistisch verseuchten Kirche mit ihren strukturell engen Verbindungen zum
Kapital und den Herrschenden entsprachen.[61]
Die Landeszeitung hingegen gestaltete die gesamte Ausgabe
zeitgemäß. Unter der Überschrift „Volk wird Heer“ gab sie ein Gespräch zwischen
Gneisenau und Blücher wieder. „Wie macht man ein Volk frei? Wie macht man es
klug, sittlich und glücklich? Man erzieht das ganze Volk zu Soldaten!“ In eine
solche „soldatische“ Phase wünschte die Landeszeitung einen Teil der
Braunschweiger Stadtbevölkerung. Auch die traditionelle religiöse Überhöhung
durfte nicht fehlen. Sie wurde in einem Gedicht „Aufruf zu Gott“ von Wolfgang
Jünemann nachgeliefert. Gott wurde darin aufgerufen, sein bisheriges Schweigen zu
brechen und gebeten: „Schleudre nun das Kampfeswort/ und die Wirrnis wird sich
neigen/ Komme, und die Not ist fort/ Pack das Schwert, zerschlag, zerbrich“.
Mit dieser Regierungserklärung vom 1. Februar war nicht nur
der Frontabschnitt in der Heimat markiert, sondern einzelne Frontabschnitte
auch eröffnet.
Sofort begannen noch in der ersten Regierungswoche
zahlreiche Hausdurchsuchungen und Verhaftungen mit Verletzten und Toten. In
Preußen und auch in Mecklenburg-Schwerin wurden bereits am 2. Februar alle Demonstrationen
der KPD unter freiem Himmel verboten und die Pressezentrale, das Karl
Liebknecht-Haus in Berlin, durchsucht. In Erfurt wurden 40.000 Flugblätter und
angeblich verbotene Schriften beschlagnahmt. Hausdurchsuchungen wurden auch in
Kiel, Aurich, Norden, Leer, Wilhelmshaven gemeldet. Diese Maßnahmen wurden
juristisch durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten vom 4.2. „zum Schutz
des deutschen Volkes“, - tatsächlich zum Vorteil und Schutz der NSDAP -,
abgedeckt, die die Versammlungs- und Pressefreiheit erheblich einschränkten,
was den Protest des Hauptausschusses des Reichsverbandes der deutschen Presse
hervorrief. Diese Notverordnung weitete den Verbotsbereich auch auf die
sozialdemokratische Versammlungen und Presseerzeugnisse aus.[62]
Die Vorgänge in der Stadt Braunschweig blieben hinter der
Entwicklung im Reich nicht zurück, bildeten aber auch keine Vorreiterrolle.
Schon am 3. Februar verbot auch der Braunschweiger Polizeipräsident alle
Versammlungen und Umzüge der KPD unter freiem Himmel. In Braunschweig
durchsuchten am frühen Morgen des 3. Februar 190 Kriminal- und
Schutzpolizeibeamte 63 Wohnungen von Kommunisten in allen Stadtteilen nach
„hochverräterischen Druckschriften“ und Waffen.[63]
„Durchsuchung“ ist wohl ein euphemistischer Begriff in der Phase eines
Kriegszustandes. Faktisch bedeutete dies die Verwüstung von 63 Wohnungen und
die Einschüchterung von Hunderten von kommunistischen Braunschweigern, die sich
jedoch als vergeblich erwies.
Der Sonntag nach dem Regierungswechsel, der 5. Februar, war
der 5. Sonntag nach Epiphanias. Die Epistel dieses Sonntags tönte wie ein
einsamer Ruf in die aufgewühlte, teils begeisterte, teils schwer bedrohte
Stadtlandschaft: „So ziehet nun an, als die Auserwählten Gottes, Heiligen und
Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld und
vertrage einer den andern..“ (Kol. 3,12 ff) Und im sog. Gleichnis vom Unkraut
unter dem Weizen (Mat. 13,.24 ff) mahnte Jesus seine Jünger, nicht das Unkraut
zwischen dem Weizen auszujäten. „Lasset beides miteinander wachsen bis zur
Ernte“. Das konnte als eine schneidende Alternative zur neuen Hitlerschen
Vernichtungspolitik für einen militanten arischen Rassestaat verstanden werden.
Aber die Geistlichkeit sah keinen Anlass, sich in die
Politik einzumischen, Hitlers Kabinett hatte sich offen zu den Grundlagen des
Christentums bekannt und sich auf Gott und sein Gewissen berufen und sogar den
Allmächtigen angerufen.[64]
Eindrucksvoll für das fromme Gemüt war auch der Auftritt Hitlers und Görings im
Berliner Dom, zwar nicht im schwarzen Anzug, sondern in SA Uniform, angesichts
der an diesem Sonntag in silbernen Särgen vor dem Domaltar aufgebahrten zwei
erschossenen Nationalsozialisten und nun zu Märtyrern der Bewegung
missbrauchten Berlinern. Die Landeszeitung berichtete am 6.2. auf Seite eins
über „Das feierliche Staatsbegräbnis“.[65]
Die Heimat als Kriegsgebiet mit Vernichtungscharakter
Das Lieblingswort der Regierung Hitler in den nächsten
Wochen hieß „Vernichtung“.
Es gelang Hitler, den Reichspräsidenten dazu zu bewegen, den
Reichstag umgehend aufzulösen. Als Termin für die Reichstagswahl wurde der 5.
März bestimmt, und in der Stadt Braunschweig wurde in derselben Woche vom
Staatskommissar Kreisdirektor Kybitz die Stadtversammlung mit ihrer sozialdemokratisch-kommunistischen
Mehrheit aufgelöst und Kommunalwahlen ebenfalls zum 5. März angesetzt.
Hitler eröffnete den Wahlkampf in der zweiten
Regierungswoche mit einer über den Rundfunk verbreiteten Rede im Berliner
Sportpalast am 10. Februar 1933. Er tobte gegen SPD und KPD und hielt, so die
Überschrift der Landeszeitung, „Eine vernichtende Abrechnung mit dem Ungeist
des Marxismus.“[66]
„Die Parteien dieser Klassenspaltung aber mögen überzeugt sein, solange der
Allmächtige mich am Leben lässt, wird mein Entschluss und mein Wille, sie zu
vernichten, ein unbändiger sei. Niemals, niemals werde ich mich von der Aufgabe
entfernen, den Marxismus und seine Begleiterscheinungen aus Deutschland
auszurotten, und niemals will ich hier zu einem Kompromiss bereit sein.“[67]
Hitler tobte dieses Mal nicht als Parteiführer, sondern kündigte die
“Vernichtung” der Linken als von der Reichsregierung geduldeten Staatsterror
an. Vernichtungsziele und fromme Anrufung Gottes schlossen sich bei Hitler
nicht aus.[68]
Anstatt sich in die für ihn ungewohnte Regierungstätigkeit einzuleben, reiste
Hitler durch Deutschland und hielt in den verbleibenden drei Wochen Wahlreden
in allen deutschen Großstädten. In diesen Reden sollte sich die Bevölkerung an
den Gedanken einer Vernichtung der linken Parteien gewöhnen.[69]
Hitler machte seine eigene Lebensmitte zur Lebensmitte der
deutschen Bevölkerung: den Krieg, die Front. Im Krieg kam der
Nationalsozialismus zu sich selbst. Der Krieg war der Boden, auf dem sich
Rücksichtslosigkeit, Haß, Rache, Machtgier, Blutdurst Hitlers und seiner
paramilitärischen Gruppen austoben konnten. [70]
Ministerpräsident Klagges,[71]
der politische Kopf in der Stadt und im Land Braunschweig, übernahm das
Vokabular und verkündete bei einer Generalmitgliederversammlung der Amtswalter
der NSDAP in Braunschweig am 10.2. im Hofjäger und Konzerthaus, der Sinn
„unseres Kampfes sei es, „diesen heute bereits auf der Flucht befindlichen
Marxismus in den nächsten Jahren zu vernichten“.[72]
So war bereits am 8. Februar eine SPD Versammlung im Konzerthaus schon vor
Beginn aufgelöst worden, da nationalsozialistische Schlägergruppen den
Versammlungsraum besetzten und randalierten.[73]
Es bedurfte keines Reichstagsbrandes und keiner neuen
Notverordnung „zum Schutz von Volk und Staat gegen die kommunistische Gefahr“,
um die beabsichtigte völlige Vernichtung des politischen Gegners in Werk zu
setzen. Der Staatsterror ging mit größerer Brutalität und abschreckender
Offenheit durch das ganze Reich. Allerdings nach dem Reichstagsbrand erst
recht. Chefredakteur Dohrmann überschrieb seinen Kommentar in der Landeszeitung
mit „Fort mit dem Marxismus“. Die Persönlichkeit Hitlers und Görings bieten die
Gewähr dafür, dass die staatliche Aktion gegen den Marxismus mit dessen
Vernichtung enden werde. Hitler habe dem Marxismus bewusst und offen einen
Kampf auf Leben und Tod angesagt und werde sich nicht zufrieden geben, bis
Kommunisten und Sozialdemokraten jede Bedeutung verloren hätten. „Dieser
Vernichtungskampf ist ein zwingendes Gebot der Stunde“, resumierte Dohrmann.[74]
Das war gegenüber mehr als 40.000 Sozialdemokraten und Kommunisten in der Stadt
eine riskante Sprache, aber Dohrmann setzte am nächsten Tag
noch nach und forderte: „Keine Sentimentalitäten“. Das
bedeutete die Bestätigung eines kriegsähnlichen Zustandes durch die
Braunschweiger Landeszeitung.
Wenige Tage vor dem Wahltag wurde im Reich und auch in
Braunschweig dazu eine sog, „Hilfspolizei“ aus SA und SS Einheiten und aus
Mitgliedern des Stahlhelm rekrutiert mit der verlogenen Begründung, die
öffentlichen Gebäude zu schützen.[75]
Die Landeszeitung berichtete von 300 Mitglieder, und zwar aufgeteilt in 150 SS
Angehörige, 100 SA- Leute und 50 Mitglieder des Stahlhelm, die im Hof der
Polizei in der Kasernestraße verpflichtet wurden.[76]
Eine polizeiliche Ausbildung stellte sich als entbehrlich heraus. Fachliche
Qualifikation wurde durch Hass ersetzt, so treffend Gerd Wysocki.[77]
Sie brauchten nur prügeln, foltern und töten können. Die Vorbereitung diente
zur Entfesselung des Tötungstriebes, der sich in den folgenden Monaten in
Blutrausch und Mordgier ausleben sollten. Die Motivation hatte Kreisleiter und
späterer Oberbürgermeister Hesse auf dem Schlossplatz am 30.1.1933 geliefert.
Die andern waren „Undeutsche“, also Nichtbraunschweiger. Sie gehörten gar nicht
in die Stadt, und wenn sie nicht von alleine gehen wollten, mussten sie eben
„vernichtet“ werden. Wenn wir erst an der Macht sind, dann „wehe unsern
Feinden“, hatte Hitler seinen Braunschweigern 1930 zugerufen, und die
Landeszeitung hatte es für alle aufgeschrieben, die nicht im Hofjäger am 11.
Dezember dabei gewesen waren.[78]
Jetzt war die Zeit dazu gekommen. So wurden Teile der Braunschweiger
Bevölkerung in die Verbrechen des Staatsterrors mit einbezogen. Nur 17 Jahre
später wurden der Stadt im Klaggesprozeß ihre Bluttaten vorgestellt. Sie nahm
es ohne erkenntliche Bewegung hin.
Am 2.3. wurde der Volksfreund verboten und die Räume im
Volksfreundehaus „durchsucht“ und dabei angeblich 40 Zentner Druckschriften
beschlagnahmt. Das war eine schwere Beeinträchtigung der Wahlvorbereitung.[79]
Die Wahl zum neuen Rat der Stadt hatte am 5. März ein
erstaunliches Ergebnis. Die NSDAP hatte bei der hohen Wahlbeteiligung von 91 %
zwar 43.574 Stimmen (15 Sitze) erhalten; aber 36.196 Wählerinnen und Wähler
gaben der SPD (12 Sitze) und sogar 12.065 der KPD (wie bisher 4 Sitze) ihre
Stimme.[80]
Das war angesichts des enormen Terrors ein sehr starkes Ergebnis für die Linke
und muss die NSDAP schwer gekränkt haben, denn aus ihrer Parteisicht, die die
SPD und KPD fälschlicherweise zusammensah, hatte die Linke insgesamt mehr
Stimmen als die NSDAP und auch einen Sitz mehr. Die KPD hatten ihren
Stimmenanteil und Sitzzahl sogar gehalten. So gestaltete die SPD die Märzwahl
zu einem eindrucksvollen Bekenntnis zur Demokratie und zur Parteienvielfalt und
die KPD, wenn auch nicht zur Demokratie, so doch zu einer beispielhaften
Prinzipientreue und einem unerschrockenen Widerstandswillen. Ich finde es
bedauerlich, dass in dem Gedenkkalender der Stadt diese mutigen Eintreten gegen
den Nationalsozialismus nicht einen bleibenden, sich Jahr für Jahr
wiederholenden Platz hat. Die Bürgerlichen, in der Kampf-Front Schwarz-weiß -
rot zusammengefasst, brachten nur 6. 320 Stimmen zusammen, aber zwei Sitze und
zwei weitere Sitze erhielten der Haus- und Grundbesitzerverein und die deutsche
Volkspartei und dadurch insgesamt eine Mehrheit von 19 Stimmen in der
Stadtversammlung für die Parteien der Berliner Regierungskoalition. Der
sozialdemokratische Oberbürgermeister Böhme hatte in der Stadtversammlung keine
Mehrheit mehr, trat aber entgegen den Erwartungen der Nazis nicht zurück. Die
SA rächte sich für dieses Verhalten und erzwang von ihm unter tumultuarischen
Umständen am 8. März das Hissen der Hakenkreuzfahne auf dem Braunschweiger
Rathaus. „Er wird bestimmt früher oder später verschwinden“, sekundierte der
Chefredakteur der Landeszeitung den Vorgang.[81]
Am 9. März wurden die Redaktionsräume der KPD in der
Friesenstrasse und der SPD im Volksfreundehaus besetzt und in eine
Vernichtungszentrale der SS umgewandelt. Bei der Besetzung wurde ein Kaufman
getötet und das gesamte Aktenmaterial zerstört und verbrannt. Einige
Parteigenossen griffen auch in die aufgebrochenen Kassen. In den folgenden
Tagen und Monaten wurden in die Räume des Volksfreundehauses Sozialdemokraten
verschleppt, und ihnen dort Glieder, Gelenke und Zähne zerbrochen, psychisch
und physisch programmgemäß „vernichtet“.[82]
Die Pfarrerschaft fügt sich in diesen Kriegszustand - der Volkstrauertag am
12. März 1933
In diesem kriegsähnlichen Zustand beging die Bevölkerung den
Volkstrauertag, den traditionellen Gedenktag an die Toten des 1. Weltkrieges.
An diesem Tag waren die Kirchen besonders gut besucht, denn auch die Kirche
gedachte an diesem Staatsfeiertag der Kriegereignisse und seiner Toten. Die
Verbände des „Stahlhelm“ waren in den Vorjahren geschlossen in die Kirchen
gerückt und füllten den Raum mit Fahnen. Am 12. März dieses Jahres 1933, dem 2.
Passionssonntag Reminiscere, waren auch die SA-Stürme zum Kirchgang
aufgefordert worden, was offenkundig Eindruck machte, den Frau Gebensleben von
Alten ihrer Tochter in Holland so schilderte: „Vati und ich machten dann einen
Spaziergang durch der Innenstadt. Ich ging, während Vati kurz zum Rathaus
hinaufging, für eine Viertelstunde in den Dom, kam gerade recht zum feierlichen
Anfang des Gottesdienstes. Die beiden Seitenschiffe des Domes waren ganz
besetzt mit Braunhemden, das gab schon ein ganz eigenes stimmungsvolles Bild.
Und dann brauste mächtig und ernst der Gesang auf: „Ein feste Burg ist unser
Gott“. Ich stand vorn an der Eingangstür des Domes, da ich nicht lange Zeit
hatte. Das ganze feierliche Bild und die Stimmung vergesse ich so bald nicht
wieder.“[83]
Die Pfarrer hatten für diesen Tag einen mehrfachen,
unterschiedlichen Trost parat. Beliebt war in den vergangenen Jahren der
Hinweis auf die im Frontgebiet am Kopfende der Kriegsgräber eingerammten
Holzkreuze. Das war eine reichlich romantische Vorstellung aus der Sicht der
Etappe, denn die Leichen der meisten toten Soldaten lagen zerfetzt und
verstümmelt im granatendurchpflügten Gelände. Das Kreuz auf dem Kriegergrab
wurde in Beziehung gesetzt zum Galgenkreuz, an dem Jesus aufgehängt worden war
und das zum zentralen Symbol der christlichen Kirche und optischer Mittelpunkt
jedes Innenraum einer evangelischen Kirche war. In dieser Tradition überschrieb
der Herausgeber des Braunschweiger Volksblattes, Pfarrer Fritz Dosse, einer der
klügsten Pfarrer damals in der Landeskirche, seine Andacht mit „das
Christuskreuz und die Kriegerkreuze.“[84]
Er verfiel in den grundlegenden, irreführenden, im Weltkrieg viel verwendeten
Vergleich, indem er, obwohl völlig unvergleichbar, beide Kreuze nicht nur in
eine Beziehung zueinander setzte, sondern die Kreuze auf den Kriegergräbern als
„letztlich Abbilder des Kreuzes von Golgatha“ verstand. Noch herber war der
andere Gedankengang, der nun den gekreuzigten Jesus von Nazareth zu einem
Soldaten phantasierte und Golgatha die „Kampfesstätte eines Menschen“ nannte,
„der uns in der inneren Wehrhaftigkeit eines standhaften Mannes zum Vorbild
gegeben wurde.“ Die vier Evangelisten haben stattdessen den Jammer des
Kreuzestodes beschrieben. Dosse postulierte zwar die Überlegenheit des
Christuskreuzes, beendete aber seine Andacht mit folgender Aktualisierung:
„Unser Volk steht auch heute wieder im Kampf. Wie damals geht es auch heute um
die Existenz, wirklich siegen können wir nur im Zeichen des Kreuzes“. Dosse
stellte den Volkstrauertag in den tagespolitischen Zusammenhang mit dem von
Hitler ausgerufenen Kampf gegen den Marxismus, folgte der Hitlerschen zugespitzten
Devise von „Kampf auf Leben und Tod“, verhieß aber einen Sieg in diesem Kampf
nur im Zeichen des Christuskreuzes. Das war eine Erinnerung an die Legende von
Kaiser Konstantin, dem ein Himmelsstimme im Kampfe versprach, „in diesem
Zeichen zu siegen“, damit begann die Christianisierung des römischen Reiches.
In einer vergleichbaren Situation sah Dosse das Deutsche Reich im Frühjahr
1933, am Beginn einer durchgreifenden Christianisierung durch den
Nationalsozialismus.
Der andere traditionell vorgetragene,
vermeintliche Trostgedanke war der des Opfers. Der Braunschweiger Volksbund für
Kriegsgräberfürsorge hatte für seine zentrale Feier am Nachmittag auf dem
Hauptfriedhof den jungen, gutaussehenden Pfarrer Johannes Leistikow von der
Johanniskirche gewonnen, der für seine zeitgemäße Auslegung am Sonntag
stadtbekannt geworden war. Leistikow vermied in seiner Ansprache jede
Verherrlichung der Frontsituation und der Soldaten als Helden, die einen
Heldentod gestorben seien. Die jungen Männer haben alle leben und nicht sterben
wollen. Damit nahm Leistikow verständnisvoll den Schmerz der hinterbliebenen
Familienangehörigen auf, die ihre Väter und Söhne zu Hause und bei der Arbeit
wünschten und nicht als Helden im Himmel. Dann aber machte Leistikow gedanklich
eine nicht mehr folgerichtige Wendung in die allgemeine Alltagsweisheit: „Wir
sind nicht für uns auf der Welt, sondern um uns zu verzehren im Opfer für die
Brüder. Wenn wir nicht kämpfen wollen, werden wir Verräter am Volk“. Leistikow
hatte sozialdemokratische und nationalsozialistische Zuhörer bei der
staatlichen Veranstaltung auf dem Hauptfriedhof. Mit dem ersten, kritischen
Teil stellte er die ersteren, mit dem Schluss der Ansprache die braunen Zuhörer
zufrieden. Und mit dem Schlusssatz die kirchlich Gesonnenen: „Möge diese Stunde
des Gedenkens uns den Gott finden lassen, der zu uns redet durch das Kreuz des
Herrn Jesus Christus. Das walte Gott!“[85]
Hochaktuell war die Ansprache von
Katharinenpfarrer Johannes Schlott bei dem Sondergottesdienst im Braunschweiger
Dom um die Mittagszeit dieses Tages. Die NSDAP Amtswalter der Braunschweiger
Ortsgruppen waren zur vormittäglichen Gottesdienstzeit zum Kolonialdenkmal
marschiert und hatten dort einen Kranz niedergelegt. Auf dem Rückmarsch kehrten
sie zur zeitgemäßen Besinnung in den Dom ein, wo der übliche
Sonntagsgottesdienst, den Domprediger v. Schwartz gehalten hatte, beendet war.
Wie seine Zuhörer war der Prediger Johannes Schlott ein stadtbekannter
Parteigenosse und dankte Gott, der dem deutschen Volk Hitler als Retter
„gesandt“ habe. Denn nun sei offenbar, dass die Toten des Weltkrieges nicht
umsonst gestorben, sondern für das neue, ins Braune erwachende Deutschland. Das
war eine dreiste Inanspruchnahme der toten Männer, die in den folgenden Jahren
bei ähnlichen Anlässen ständig wiederholt wurde. Schlott benutzte das
Pauluswort „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist
vergangen, siehe es ist alles neu geworden“. Das Neue, klar, war das Dritte
Reich, an das der Apostel Paulus leider noch nicht denken konnte. Aber Schlott
beendete seine Ansprache mit einem Appell an die Parteigenossen zu einer
christlichen Lebensführung. Hitler wisse, dass das deutsche Volk noch
meilenweit von einem echten Christentum entfernt sei. „Jeder einzelne von uns muss
seinem Christus die Treue halten wie seinem Führer Adolf Hitler. Wenn uns Gott
die Gnade gibt, damit ein neues deutsches und christliches Volk werde, dann
erst können wir den Kampf drinnen und draußen bestehen“.[86]
Da war wieder die Vision jener Monate vom künftigen christlichen Deutschland.
Diese Sicht wirkte noch sehr lange fort.
Am selben Ort hielt am Abend als
Veranstaltung des Volksbundes für Deutsche Kriegsgräberfürsorge
der Braunschweiger Sozialpfarrer Adolf
Brandmeyer eine ganz anders geartete Predigt.[87]
Er verzichtete im Sinne des Altonaer Bekenntnisses vollständig auf eine
Überhöhung des 1. Weltkrieges, der Ausdruck des Zornes Gottes und seines
Gerichtes gewesen sei.[88]
Er polemisierte gegen die Redeweise der politischen Schwärmer, der Tod an der
Front sei das Stahlbad der Nation, gegen den „Chor der Trostlosen“, die den Tod
der Soldaten für „umsonst“ empfanden und gegen den „Chor der Verbitterten“, die
Gräber seien eine Beute des Mammonismus. Da in den lutherischen Kirchen jedoch
nach 1918 keine Friedenstheologie, geschweige denn Antikriegstheologie
entwickelt wurde, verlor sich die positive Antwort Brandmeyers im homiletischen
Nebel: „Sie gaben ihre Leiber und Seelen dem Zorn Gottes hin, damit wir unser
völkisches Sein „aus seiner Gnade“ nähmen“. Brandmeyer zielte gegen den
völkisch überhöhten Staat, wie er ihn beim Nationalsozialismus zu Recht
vermutete. Volk sei „von Gottes Gnaden“, postulierte er und fügte drohend
hinzu: „Ein Volk, das in seinem Selbstbehauptungswillen das nicht begreift, ist
der Verworfenheit verfallen“. Brandmeyer beschloss die Andacht mit einem Gebet
und mit folgender Bemerkung: „Die Opfer des Krieges sind für den Glauben nie
umsonst. Die Entscheidung über die Frucht des Sterbens der Krieger für unser
Volk fällt in der Haltung der Deutschen zu Christus“. Brandmeyer verlagerte die
Ansicht, ob der Fronttod etwa sinnlos gewesen sei, in die erhoffte
Christianisierung der deutschen Bevölkerung nach 1933, in die von ihr
geforderte „Entscheidung für Christus“.
Es gab auch ganz wenige Pfarrer, die den
allgemein kirchlichen Tenor dieses Sonntages nicht ertragen konnten und
ehrlicherweise auf eine Predigt verzichteten. So ließ sich z.B. der Pfarrer
Paul Schmieder von der Lehndofer Kreuzkirche an diesem Sonntag von Pfarrer
Schwarze von der Paulikirche vertreten.[89]
Diese vier sehr unterschiedlichen
Predigten haben gemeinsam, dass sie die aktuelle kriegähnliche Lage auch im
Braunschweigischen nicht im Blick hatten. Man redet in der Etappe auch nicht
über das Grauen in der Front Allerdings bestand an diesem Sonntag ein
besonderer aktueller Anlass:
am Sonnabend vor dem Volkstrauertag, dem 11. März,
hatten maskierte SS-Männer die Kaufhäuser von jüdischen Besitzern gestürmt und
29 große Schaufensterscheiben zerschlagen, deren tagelang verbretterter Zustand
einen passenden optischen Eindruck von der künftigen Stadtherrschaft
vermittelte. Es sprach sich in der Stadt auch bald herum, dass hinter den
schwarz Maskierten die Nationalsozialisten steckten, obwohl der Rädels- und SS
Führer Alpers am Nachmittag auf dem Kohlmarkt bei einer Parteikundgebung den
Kommunisten die Schuld gab. [90]
An diesem Tag wurden 21 Wohnungen von Sozialdemokraten „durchsucht“.
Es ist nicht überliefert, ob in den
Predigten des Volkstrauertages auf dieses Terror eingegangen wurde.
Es ist auch zweifelhaft, ob ein warnendes
Wort der Stadtpfarrerschaft beachtet worden wäre.
Jedenfalls fielen am nächsten Tag die Würfel der kommenden
kommunalpolitischen Veränderung.
Am Montag nach diesem Sonntag wurde der Braunschweiger Oberbürgermeister Böhme
gezwungen, seine Amtsgeschäfte an den Stellvertreter Stadtbaurat Gebensleben zu
übergeben. Das hatte nach dem Wahlergebnis vom 5. März durchaus seine innere
Logik. Insofern ist es mir fraglich, ob man von einer Absetzung Böhmes sprechen
kann. Im Innern des Rathauses ging alles noch legalistisch und sogar etwas
sentimental zu. Der nunmehr stellvertretende OB soll Tränen in den Augen gehabt
haben.[91]
Vor dem Rathaus fand sich Böhme in dem kriegsähnlichen Zustand wieder. Er
wurde unter großer Beteiligung des Parteipöbels auf einen Lastwagen
verfrachtet und bis zum Abend in das Rennelberggefängnis verbracht. „Mit Gott, Herr Boehme, auf Nimmerwiedersehn“,
höhnte die Parteizeitung hinterher.[92]
Die Zusagen Hitlers an die Kirchen im sog. Ermächtigungsgesetz
Der 21. März war nicht nur Frühlingsanfang sondern mit der
Einberufung des Reichstages zur ersten Sitzung nach den Märzwahlen die erste
parlamentarische Hürde nach dem Regierungswechsel im Januar. Die Märzwahlen mit
ihrem unerhörten Propagandaaufwand lagen nur gut 14 Tage zurück und erneut
wurde die Bevölkerung zu einem nationalistischen Höhepunkt gedrängt. Alle, alle
sollten mitfeiern und mitjubeln. Natürlich Fahnen aus allen Fenstern von
Nazisympathisanten, Fackelzüge am Abend, die Landeszeitung veröffentlichte am
19. März unter der Überschrift „Das ganze Volk soll mitfeiern“ das Programm für
Braunschweig. Es gab dienstfrei für Beamte, unterrichtsfrei in den Schulen,
Übertragung im Rundfunk, die Geschäfte hatten von 11.00 Uhr – 14.00 Uhr
geschlossen.
Der Chefredakteur der Landeszeitung Dohrmann veröffentlichte
am 21.3. einen Kommentar unter dem Titel „Erwacht“ als Ausdruck, „dass zum
mindesten die Mehrheit dieses Volkes erwacht ist aus dumpfen Opiumschlaf der
letzten vierzehn Jahre jämmerlichster Irrungen und Wirrungen, in die jemals
durch die Schuld entarteter Führer ein Führervolk geriet.“ Das deutsche Heer
sei unbesiegt gewesen, bis „der Satan des Marxismus vernichtend und zersetzend
in unser eigenes Haus einging“. Der Artikel schloss mit „Heil Deutschland! Heil
Hitler!“
Die Propaganda hatte für die erste Reichstagssitzung am 21.
März evangelische und katholische Eröffnungsgottesdienste in den Potsdamer
Gemeindekirchen und dann einen gottesdienstartigen Staatsakt in der
traditionsreichen Garnisonkirche vorgesehen, wo die Särge von Friedrich d. Gr.
und seinem Vaters standen. Reichspräsident Hindenburg erschien nicht, wie es
angemessen gewesen wäre, in präsidialen Zivil, sondern hineingepresst in die
Uniform eines Generalfeldmarschalls. Das erweckte bei den meisten die
Erinnerung an den 1. Weltkrieg, für Nachdenkliche an seine Lüge vom unbesiegten
deutschen Heer. Stundenlang paradierten nach dem Staatsakt militärische
Formationen an Hindenburg vorbei. Der alte herrliche Kriegszustand wurde
beschworen. Die Aufmachung bedeutete auch die kleidungsmäßige Absage an die
Zivilgesellschaft der Weimarer Zeit, die mit den Erklärungen Hitlers
eingeläutet wurde.
Es wurde gleichzeitig auch die andere Seite des
Kriegszustandes bekannt gemacht. In Deutschland wurden „Gefangenenlager“
eingerichtet, in Württemberg waren im April 1.750 „Schädlinge des deutschen
Volkes“ inhaftiert worden, so die Braunschweiger Presse.[93]
Man nannte die Gefangenlager „Konzentrationslager“. Passend zum Spektakel um
die Reichtagseröffnung berichtete die Braunschweiger Neuste Nachrichten am
22.3.1933: „Die ersten Konzentrationslager“ in der Nähe von Dachau. Es solle
ein Fassungsvermögen für 5.000 Personen haben. Hitler brachte einen Tag später
in der Krolloper, dem Ausweichquartier für den abgebrannten Reichstag, das sog.
Ermächtigungsgesetz ein, das die Regierung völlig unabhängig vom Reichstag
machte und die formale rechtliche Grundlage für die Aufhebung wesentlicher
demokratischer Rechte bot. Die Braunschweiger Tageszeitung fasste das ganze
Gesetz bündig und ohne Umschweife in der Überschrift zusammen: „Adolf Hitler
erhält alle Verantwortung“.[94]
Hitler entwarf in seiner Einbringungsrede in Grundrissen sein Bild vom
künftigen Staat.[95]
Dieser Staat bot sich als krasse Alternative zum Weimarer Staat dar, auf dessen
Boden nur noch „ein Bruchteil der gesamten Nation“ gestanden habe. Die
politische Linke gelte es „nicht nur im Interesse Deutschlands, sondern im
Interesse des übrigen Europa in unserem Lande restlos auszurotten und zu
beseitigen“. Das stelle sich als „Entgiftung unseres öffentlichen Lebens dar“.
Er sollte auch keinesfalls monarchistisch geprägt sein. Eine „monarchistische
Restauration“ sei „indiskutabel“. Schließlich setzte sich Hitler auch von
bürgerlichen Formen des künftigen Staates ab.
Hitler führte seine Alternative nicht systematisch durch,
aber die schimmerte immer wieder aus der Einbringungsrede hervor; sie lautete
zusammengefasst: der militante Staat. In diesem militanten Staat erhielten die
Reichswehr („die Ehre unserer Armee müsse dem deutschen Volk wieder heilig
werden“, die Wirtschaft („stärkste Förderung der Privatinitiative“) und nun
auch die Kirchen ihren besonderen Stellenwert. Erst die politische und
moralische Entgiftung des öffentlichen Lebens habe die Voraussetzung „für eine
wirklich tiefe Einkehr religiösen Lebens“ geschaffen. Unmittelbar darauf folgte
der viel zitierte Satz: „Die nationale Regierung sieht in den beiden
christliche Konfessionen die wichtigsten Faktoren zur Erhaltung unsres
Volkstums“. Diesen Satz konnten die Braunschweiger auch in ihrer Tagespresse
mitlesen.[96]
Die Reichsregierung sehe „im Christentum die unerschütterlichen Fundamente der
Moral und der Sittlichkeit des Volkes“, die Rechte der Kirchen würden nicht
geschmälert. Die Zusage verknüpfte Hitler mit der Erwartung, „dass die Arbeit
(der Regierung D.K.) in der sittlichen und moralischen Erneuerung des deutschen
Volkes auch bei den Konfessionen die gleiche erforderliche Beachtung findet.“ [97]
Die Kirche missverstand diese Zusagen, als ob bei ihr alles
so weitergehen könne wie bisher. Sie übersah, dass Hitler ihr nur in seinem
neuen militanten Staat einen Platz zugestand. So frisierte Hitler die
Terrorwelle gegen die politische Linke als eine „religiöse Einkehr“, was ein
groteskes Missverständnis dessen war, was die Kirche traditionell unter Einkehr
und Umkehr verstand.
Außerdem war bei der praktischen Aufhebung der Weimarer
Verfassung nun fraglich, ob die verfassungsmäßigen Zusagen an die Kirchen für
alle Zukunft gesichert seien.[98]
Der Tag von Potsdam in Braunschweig
Zum Festprogramm in Braunschweig gehörte wie allüberall
ein viertelstündiges Glockengeläut aller Stadtkirchen zu Beginn des Staatsaktes
in der Garnisonkirche ab 12.00 Uhr, ein Feldgottesdienst eine halbe Stunde
zuvor und ein Zapfenstreich am Abend. „Die ganze Stadt im Flaggenschmuck,
Festtagsstimmung überall, großer Aufmarsch der Reichswehr und der nationalen
Verbände“ titelte die BNN ihren Bericht.[99]
Für die Predigt des Feldgottesdienstes war Garnisonpfarrer
Otto Jürgens zuständig, der in Abständen in der Garnisonkirche predigte. Es
fanden keine Dankgottesdienste in den Kirchengemeinden statt, die hätte Hitler
nicht anordnen können, aber Feldgottesdienste ließen sich staatlicherseits
arrangieren. Der Feldgottesdienst hätte in der Braunschweiger Garnisonkirche
erfolgen können. Man wählte stattdessen den Braunschweiger Schlossplatz. In der
Mitte eine Kanzel, links und rechts der Kanzel je ein Minenwerfergeschütz. Der
passende Rahmen für das Wort Gottes im neuen militanten Staat.[100]
Jürgens verstand, wie die Hitlerregierung, in seiner
Predigt die Neubildung der Regierung nicht als einen Regierungswechsel, sondern
als „Grundsteinlegung des neuen deutschen Reiches“.[101]
Diese knüpfte bewusst nicht an die Weimarer Verfassung an, sondern an ein
Ethos, das nach Jürgens im Schützengraben des ersten Weltkrieges lebendig
gewesen sei. Jürgens erinnerte an den 21. März 1918, als mit einem letzten
großen Angriff der Stellungskrieg in Frankreich beendet worden sei, als „die
feldgraue Nation sich aus ihren Schützengräben erhob, um in einem wunderbaren
Anlauf den eisernen Ring zu sprengen, der unser Vaterland im Westen umschlossen
hielt.“ Wie schon damals 1918 so gehe auch jetzt der lebendige Gott „sichtbar
und spürbar durch die Erlebnisse dieser Wochen“. Jürgens gliederte seine
Predigt in zwei schlichte Teile: Gott mit uns und wir mit Gott. Im ersten Teil
untermauerte Jürgens die neue Reichsgründung als ein Werk Gottes. Jürgens
erweiterte die Erklärung Luthers vom 1. Artikel („Ich glaube, dass mich Gott
geschaffen hat“) zu einem Glauben, dass Gott auch das deutsche Volk geschaffen
habe. In jedem Menschen lebe daher ein „Urgefühl, das uns unmittelbar an den
Schöpfer unseres Volkstums bindet“. Den zweiten Teil „Wir mit Gott“ erläuterte
Jürgens mit dem Text des Glockenspiels der Potsdamer Garnisonkirche „üb immer
Treu und Redlichkeit und weiche keinen Fingerbreit von Gottes Wegen ab“,
nämlich von den Zehn Geboten.
Die Predigt wiederholte den Irrglauben von Gottes
unmittelbarer Offenbarung auf dem Kriegsschauplatz und löste den Glauben an
Gott in ein biederes bürgerliches Ethos von Treue und Redlichkeit auf, ein
schlichtes liberalistisches Erbe. Dass Gott in den furchtbaren Terrorwochen des
Februar und März „sichtbar“ geworden sei, konnten die Betroffenen nur als
blanken Zynismus deuten, aber sie waren kaum unter den Braunschweigern auf dem
Schlossplatz zu finden.
Es war allerdings aus der Predigt nicht herauszulesen, ob
Jürgens mit dem nationalsozialistischen oder dem nationalkonservativen Teil
der Berliner Koalitionsregierung sympathisierte. Er erwähnte den Reichskanzler
Hitler mit keinem Wort. Das ist bei dem unmittelbar einsetzenden Personenkult
um Hitler auffällig. Er vermied auch einen Hinweis auf die Braunschweiger
Landesregierung, die eine derartige Koalitionsregierung bereits seit drei
Jahren vorexerzierte und sozusagen diesem „Tag von Potsdam“ vorgearbeitet
hatte. Schließlich konnte die starke Betonung des christlichen Ethos als
Hindernis zur und Mahnung vor einer weiteren Entfaltung des Naziterrors
begriffen werden. Trotzdem bedeutete der Feldgottesdienst die Zusicherung eines
Kirchenbestandes im Rahmen eines militanten Staates.[102]
Mit einer kräftigen Bußpredigt über den öffentlichen
mörderischen Charakter der Braunschweiger nationalsozialistischen Regierung
hätte Jürgens Farbe bekennen, Buße und Evangelium verkündigen können. Aber die
sympathisierende Haltung von Otto Jürgens wurde von vielen Kollegen geteilt.
„Die Predigt ist von einem alten Soldaten, für Soldaten,
der Stunde angemessen,“ meinte knapp die BTZ und hatte den Predigtabschnitt mit
dem Choraltext „Wir treten zum Beten“ überschrieben.[103]
Der Choral wurde nach der Predigt gespielt. Dabei weckte der Bericht der BNN
bei diesem Lied alte Weltkriegserinnerungen, denn nun „nahmen wie oft draußen
im Felde, wenn sie am Grabe eines Kameraden standen oder wenn sie in Andacht
neue seelische Kräfte gewannen, die Feldgrauen den Helm ab zum Gebet. Das Lied
klang auf „Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten“. Die Sonne überstrahlte
den Platz , als werde dieses Gebet zu einer neuen Lebensbejahung für unser
deutsches Volk. Die Glocken der Stadtkirchen, die in das Domgeläut einsetzte,
segneten die Weihestunde.“[104]
Es gab einen Pfarrer in der Landeskirche, nicht in der
Stadt Braunschweig sondern im entfernten Herrhausen, der am vorhergehenden
Sonntag, dem Volkstrauertag, die Lüge vom unbesiegten Heer von der Kanzel beim
Namen nannte und zitierte: „Mit Mann und Ross und Wagen/ hat sie der Herr
geschlagen“. Pfarrer Keck wurde von der SA umgehend auf den Marktplatz
geschleift und ins Gefängnis geworden.[105]
Der Staatsterror spielte sich in aller Öffentlichkeit und
unter den Augen der gesamten Bürgerschaft ab.
Als ob sie den Text des Potsdamer Glockenspiels vom Treu und
Redlichkeit-Üben nicht verstanden hätten, stürmte die SS am Nachmittag dieses
Festtages in die jüdischen Geschäfte, die wie alle die Farben schwarz-weiß-rot
geflaggt hatten, und rissen ihnen die Fahnen herunter und schleppten sie in
ihre Folterzentrale, früher Volksfreundehaus. Sturmführer Meyer tönte, es könne
nicht geduldet werden, dass die Fahne, die jedem Deutschen heilig sei,
jüdisch-internationale eingestellte Menschen deckten. Eine große Menge
Braunschweiger soll dabei gewesen sein.[106]
Die Stadt Braunschweig befand sich in einem unerklärten
Kriegszustand. Zu dieser Zeit wurde nicht nur an der Front Terror gemacht,
sondern in der Frontetappe gebetet und auch ausgiebig gefeiert. Am Tag des
Reichstagsbrandes, dem 28. Februar, war Fastnacht und das karnevalistisch
geprägte Gesellschaftsleben ging ungetrübt weiter. Im Kinopalast lief ein
Drogenstück mit Hans Albers „ Der weiße Dämon“, das Theater am Bohlweg sei „von
Kopf bis Fuß auf Fasching eingestellt“ meldete die Landeszeitung[107],
Cläre Waldorf gastierte im Hofjäger und Karl Ludwig Diehl amüsierte in den
Lichtspielen sein Publikum in einem Rührstück aus dem Hause Habsburg „Das
Geheimnis um Johann Orth“. Das war die Etappe der Heimatfront. Wie
Schlachtenlärm und Frömmigkeit zusammenpassen, konnten sich die Braunschweiger
im Kino Saalbau ansehen, wo der Film „Der Choral von Leuthen“ lief. Wie
Friedrich d. Gr seine ermüdeten und hoffnungslosen Soldaten mit dem Ruf „Kerle,
wollt ihr ewig leben?“ wieder „hochreißt“, „ertönt von außen weit her der alte
Choral „Nun danket alle Gott“. Der historische Choral von Leuthen. Schwillt und
schwillt und das ganze Heer singt bis zum brausenden Sturm alle Strophen,
während der unsterbliche König die Front abschreitet.“ So lockte die
Parteizeitung die Braunschweiger ins Kinostück, das für sie so eindringlich die
Gegenwart interpretierte. Damals und auch 1933 habe ein einzelner Mann die Lage
gerettet und aus einer Niederlage einen herrlichen Sieg gemacht.[108]
Einen weiteren Hinweis auf die Militanz des neuen Staates
lieferte die Vereidigung von 120 Rekruten auf dem Burgplatz drei Wochen später.
Wieder predigte Garnisonpfarrer Otto Jürgens, nachdem die Kapelle „Großer Gott,
wir loben dich“ gespielt hatte. Soldat sein heiße fürs Vaterland leben und
sterben können. „Lebt euch ein in Pflicht, Treue und Wahrhaftigkeit, in Mut, in
Männlichkeit und Wehrhaftigkeit und in eine Treue, die euch das Höchste und
Beste zu geben vermag.“[109]
Es wurde Zeit, Frömmigkeit und „Wehrhaftigkeit“, wohl realistischer:
Aufrüstungspolitik zusammenzudenken und zusammenzuglauben.
Keiner hatte das deutlicher gespürt als die englische Regierung,
die die Hitlerregierung in Kriegslaune vermutete. Bei der Unterhausdebatte über
die Lage in Deutschland, erklärte Housten Chamberlain, es bestünde keine
Hoffnung auf Abrüstung. Er müsse ein Deutschland sehen, dass nicht nur gelernt
habe zu leben, sondern auch andere leben zu lassen, nicht nur innerhalb
Deutschland sondern auch außerhalb“. Die Braunschweiger konnten diese
Einschätzung in ihrer Regionalpresse unter der Überschrift „Kriegsgefahr“
nachlesen und sich mit anderen über diese „Greuelpropaganda“ empören.[110]
Bekanntlich reagierte die deutsche Bevölkerung auf diese realistische
Einschätzung ausländischer Regierungen mit einem Boykott jüdischer Geschäfte am
1. April 1933 im ganzen Reich und auch in Braunschweig.
Es ist das irritierende Nebeneinander der gegensätzlichen
Welten, die diese Monate prägen.
In der Stadt herrschte eine verstörende Gleichzeitigkeit
von öffentlichem Morden, Vergnügen und Frömmigkeit. Es war im Grunde die
Gleichzeitigkeit, die jede Front auszeichnet, die Gleichzeitigkeit von elitärem
Casinogehabe, Etappe mit Gulaschkanone, Armeepuff und Feldprediger sowie
kämpfender Front.[111]
Die Pfarrerschaft richtete sich in der Etappe ein. Im Mai
beantragten die Braunschweiger Pfarrer ihren Beitritt in die NSDAP: Paul Barg
(Andreas), Walter Benndorf (Martinikirche), Adolf Brandmeyer, Sozialpfarrer,
Ernst Brutzer (Magnikirche), Otto Jürgens (Johannis), Gerhard Kalberlah
(Jakobi), Johannes König (Michaelis), Wilhelm Rauls (Magni), Heinrich Runte
(von der Partei abgelehnt), Karl Adolf v. Schwartz (Adjunkt), Rudolf Schwarze
(Pauli), Walter Staats (Sozialpfarrer), Alfred Wagner (Brüdern).[112]
Johannes Schlott (Katharinen) war schon seit 1.2.1932 Parteigenosse (Pg)
geworden und unterschrieb seine Andachten auch mit dem Kürzel Pg.
Durch die Offenheit der Verbrechen, auch in den folgenden
Monaten, gelang es Klagges und Hitler, große Teile der Bevölkerung und auch der
Kirche zu schweigenden und auf die Dauer zu zustimmenden Zeugen zu machen. Sie
zogen so die Bevölkerung in ihre Alltäglichkeit werdenden Verbrechen mit
hinein.
Ein anderer Teil flüchtete aus dem Kriegsgebiet entweder in
die Anonymität einer anderen Großstadt oder ins Ausland wie die
Sozialdemokraten u.a. Otto Grotewohl, Hans Sievers (nach Dänemark), Gustav
Steinbrecher, Paul Juhnke (nach Luxemburg), Hans Reinowski. [113]
Bis 1935 verließen 65.000 Deutsche, darunter Wissenschaftler, Künstler,
Sozialdemokraten, Juden das Deutsche Reich.[114]
Auch aus der Stadt Braunschweig setzte ab 1933 und den
folgenden Jahren eine Massenflucht von jüdischen Braunschweiger Ärzten,
Kaufleuten und Juristen ein, die mit ihren Familien und begabten Kindern im
Ausland eine neue Bleibe suchten. Die Jüngeren waren in Braunschweig geboren,
gebürtige Braunschweiger. Ihnen wurde ein Verbleiben unmöglich gemacht. Manche Väter
waren inhaftiert worden[115]
und nur mit der Auflage entlassen, dass sie endgültig Braunschweig verlassen
würden. Sie flohen aus dem Kriegsgebiet in Staaten, wo sie, wie sie hofften, im
Frieden arbeiten und ein neues Leben beginnen konnten. Braunschweig sollte nach
dem Willen der herrschenden Partei unter Zustimmung der Bevölkerung von Anfang
an „judenrein“ sein. Arroganz, Hass, Dummheit und Neid waren die wesentlichen
Triebfedern der Vertreibung.
Aus der Stadt Braunschweig emigrierten 1933 folgende Einwohner:
in das britische Mandatsgebiet Palästina emigrierten der
Kaufmann Otto Lang mit seiner 25jährigen Frau aus der Schuhstr.21/22; der
Kohlenhändler Meir Lachs aus der Wendenmaschstr. 15 mit Frau und vier Töchtern,
der Kaufmann Isidor Kohn, der im Meinhardshof 3 einen Kurzwarengroßhandel
führte, mit seinen zwei elfjährigen Zwillingssöhnen, der Kaufmann Robert Köhler
mit Frau und dem dreijährigen Sohn, die 24 jährige Regina Ginsberg, die
Verkäuferin und Kassiererin im Kaufhaus A. Frank war; der 37jährige Zahnarzt
Richard Rothschild vom Bohlweg 15,der im Juli eine Woche in Untersuchungshaft
genommen worden war, zusammen mit seiner Frau. [116]
Nach England emigrierte Rechtsanwalt Julius Frank und seine
23 jährige Frau.
Das Ehepaar Simon und Albine Taubenfeld waren am 31. März
1933 auf dem Hutfiltern von Braunschweiger SA-Männern überfallen und
misshandelt und den April über in Untersuchungshaft genommen worden. Sie
führten ein Metallwarengeschäft in der Weberstraße und flüchteten nach ihrer
Entlassung mit ihrem 12 jährigen Sohn noch im Mai 1933 nach Paris. Nach
Frankreich emigrierte außerdem die 25 jährige Schneiderin Esther Bogusch
zusammen mit ihrer Schwester Sara sowie der Rechtsanwalt Ulrich Moser und Frau
bereits im April 1933, der Sozius des Rechtsanwaltspraxis von früherem
Ministerpräsidenten Heinrich Jasper war.
Im April und im Juli 1933 wurde der 48jährige praktische
Arzt Dr. med. Bruno Rosenhain vom Wilhelmitorwall im Rennelberg inhaftiert. Er
emigrierte im Oktober 1933 mit seiner Frau und drei Kindern, 9 und 7 und 5
Jahre alt in die USA, ebenso wie der 34 jährige Dr. med. Arthur Schönlack.
In die USA emigrierten der 32 jährige Bernhard Rauchmann und
die 23jährige Cousine Sonja Rauchmann und ihr 21 jähriger Bruder.
Es blieb unbekannt, wohin der Pferdehändler Jacob Rauchmann
mit seiner Frau und zwei Töchtern verzogen. Die Familie Rauchmann führt in der
Kuhstr. 15 und 28 einen Pferdehandel.[117]
Richard Schmandt führte ein elegantes Geschäft für
Damenkonfektion Ecke Kohlmarkt 8/Friedrich Wilhelmstr. 1. Er emigrierte mit
Frau und zwei Töchtern 12 und 14 Jahre alt nach Argentinien.[118]
Andere wichen in deutsche Großstäde aus:
nach Hamburg die 66 jährige Johanna Bernstein, nach Hannover
der 34 jährige Alfred Littauer,
nach Dortmund Finanzgerichtspräsident a.D. Willy Hornstein
mit Frau, Sohn und Tochter,
nach Berlin Oberlandesgerichtsrat a.D. Felix Kopfstein mit
Frau und drei Kindern
sowie Kurt Samuel Nussbaum, der von dort nach Argentinien
emigrierte. Die deutschen Hauptstädte waren für die meisten nur eine Zwischenstation.
Es emigrierten insgesamt 65 Braunschweiger aus allen
Schichten und Altersgruppen aus ihrer Heimatstadt. Es bedeutete für
Braunschweig einen Verlust an Begabung, Berufung, auch an gewachsenen
persönlichen Verbindungen. Der Verlust der Heimat stand am Anfang der „Kriegs-
und Regierungsführung“ Hitlers und sollte mit einem massenhaften Heimatverlust
für die verbliebene „reindeutsche“, arische Volksgemeinschaft enden.
Ein anderer Teil der Braunschweiger beging Selbstmord. Die
Selbstmordrate war im Jahr 1933 so hoch wie nie. 85 Braunschweiger, 50 Männer,
25 Frauen nahmen sich das Leben, doppelt so viele wie 1928. [119]