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[Kirche von unten]



Ansichten einer versunkenen Stadt

Die Braunschweiger Stadtkirchen 1933 - 1950

von Dietrich Kuessner


31. Kapitel

Das Kriegsende und seine Deutung [1]

 

Das letzte Kriegsjahr 1944/45 [2]

Das Bild von Braunschweig im Frühjahr 1945 lässt sich nicht auf die fürchterliche Trümmerwüste

vom Petritor bis zum Theater und die Massivruinen der traditionsreichen Stadtkirchen mit ihren Turmstümpfen reduzieren. In Braunschweig wohnten noch 138.000 Einwohner. Hunderte Soldaten lagen in Lazaretten, die in den leergeräumten Schulen eingerichtet waren. Die genaue Zahl ist noch nicht ermittelt. An den Rändern der Trümmerfläche, am Bahnhof, am Zuckerbergweg, in der Adolfstraße, im Siegfriedviertel  begann wieder halbwegs menschliches Leben. Die von der Propaganda viel beschworene Volksgemeinschaft als Schützengrabengemeinschaft entpuppte sich mehr als früher als Ausgrenzungsgemeinschaft. Es wurde zum Überleben „organisiert“, d.h. in leerstehenden  Wohnungen und aus verbretterten Geschäften gestohlen und geplündert. Und es wurde mehr als sonst denunziert. Nach dem 15. Oktober 1944 gab es allein 56 Anzeigen, auffallend stark auch die Anzeigen wegen Schwarzhandel und Erschleichen von Bezugscheinen.[3] In diesem Frühjahr boten Kriegsgefangene und Zivilarbeiter den Braunschweigern Holz, das sie sich aus dem Trümmerholz gezogen hatten, zum Feuern gegen Lebensmittel an. Eine Braunschweigerin, die das Angebot gegen eine warme Mahlzeit annahm, wurde denunziert und verhaftet.[4]

In der Nähe der noch produzierenden Industriewerke war eine Lagerlandschaft für die Zivilgefangenen, die Kriegsgefangenen und für die in die Stadt verschleppten Häftlinge aus den Konzentrationslagern Neuengamme und Auschwitz entstanden. Die Lagerinsassen waren in Gemeinschaftsbaracken am Schützenplatz, Ackerstraße, Mascherode, Rühmerberg, Kralenriede, Dieterich Klaggesstadt, Kälberwiese mit ca je 1000 Insassen untergebracht. In der Stadt gab es insgesamt 97 Kriegsgefangenenkommandos. H.U. Ludewig zählt mindestens 11.931 Fremdarbeiter und Gefangene allein bei Büssing, bei der NIEMO, MIAG, den Lutherwerken und Voigtländer. Diese waren keineswegs von der Stadtbevölkerung isoliert. Die bei Büssing arbeitenden KZ Häftlinge wurden zu Fuß vom KZ Außenlager Schillstraße an die Arbeitsstätte geführt. Das waren nicht Wenige, 400 - 500 Häftlinge.[5] Das KZ Außenlager Schillstraße, das im Bereich der Johannisgemeinde lag, bestand aus drei großen Häftlingsbaracken, einer SS Wachmannschaftsbaracke und einer Krankenbaracke. Tatsächlich waren es Todesbaracken, weil Ende 1944 wöchentlich 8 – 10 Häftlinge an Unterernährung oder Krankheiten starben. Die Leichen, die manchmal eine Woche im Lager liegen blieben, wurde mit Lastwagen in das Lager Watenstedt, später von einer Bestattungsfirma ins Braunschweiger Krematorium abtransportiert. Man sucht vergeblich nach irgendwelchen Signalen der Menschlichkeit, die aus den Kirchengemeinden kommen könnten.[6] Es wurden auch einige Leichen aus dem KZ SS Reiterschule an der Salzdahlumerstraße, das in Bereich der Martin Luthergemeinde lag und in das jüdische Frauen eingewiesen waren, im Krematorium abgeliefert.[7] Diese Frauen wurden zur Trümmerräumung nach Luftangriffen eingesetzt. Eckhard Schimpf erlebte sie mitten im Gewühl der Innenstadt: „Schmale Hungergestalten, die meisten ohne Mantel. Eine graue Zopfmusterstrickjacke, andre in viel zu weite Männerjacken mit Kopftüchern. Manche hatten statt der Schuhe Lappen um die bloßen Füße gewickelt. All das mitten in der Schuhstraße, in der die Menschen wie Ameisen hin und her huschten. Jeden musste das aufrütteln, doch fast alle sahen wohl weg. Wie ich später erfuhr, waren es jüdischen Mädchen aus Galizien.“[8]  In den Lagern waren sie den Luftangriffen schutzlos ausgeliefert. Der Anteil der Toten aus den Lagern war ebenso hoch wie der der Braunschweiger Stadtbevölkerung. „Was mich selber aber am meisten erschüttert, das sind nicht die rauchenden steinernen Ruinen, sondern das sind die Menschenruinen mit ihrem verwüsteten Gemüt“, hatte Propst Leistikow in seiner Predigt im Oktober 1944 vor seiner Gemeinde am Zuckerbergweg geäußert.[9]

Kaplan Treuge an der Nikolaikirche erinnerte sich: „Es gab weithin nicht mehr den Lebensraum für menschliche Reaktionen. Jeder lebte mehr oder weniger unter vielerlei Bedrohungen, und es gab keinen Lebensbereich, der nicht einer allgemeinen Verrohung ausgesetzt war. Jedenfalls war es mir persönlich sehr bewusst, dass die Zerstörung der Städte nichts war im Vergleich zur Zerstörung des Menschen.“[10]

 

Die letzten Monate 1945

Keine Glocken der Stadtkirchen würden zu Silvester 1944 das neue Jahr einläuten, bedauerte der Lokalredakteur der Braunschweiger Tageszeitung, denn der Feind habe sie ja zerstört, an Stelle des Geläutes sollte man sich in den Familien still die Hände reichen und alle weiteren Wünsche dem deutschen Endsieg gelten  lassen.[11] Das stimmte nicht ganz, denn die meisten Glocken waren auf Anweisung der Regierung abgenommen worden, und die verbliebenen hätten getrost läuten können, aber dem stand der Luftkrieg im Wege. Aber immerhin  war dem Redakteur das Geläut der Glocken in Erinnerung. Es erschien trostspendend, nun an die früheren Aufgaben der Stadtkirchen zu erinnern.

In einem entwaffnend offenen Leitartikel hatte der leitende Redakteur Max Schefter festgestellt, dass die feindlichen Truppen die deutschen Grenzen bereits überschritten hätten und die Beute aufteilten. England habe den Polen Ostpreußen, Danzig und einen Teil Pommerns versprochen, Millionen würden aus dem Gebiet evakuiert, und Frankreich reflektierte auf das Ruhrgebiet. Daraus würde aber  nichts, denn an den Grenzen würde geschanzt, der Volkssturm als Grenzschutz aufgebaut, und vor allem würden neue Waffen in ein neues kriegsentscheidendes Konzept eingefügt. Daher könne man mit Recht feststellen, „dass aus dem Dunkel dieser Zeit ein helles Licht in die Zukunft strahlt, das Licht einer neuen Zeit, die wir kämpfend erringen und deren Gestalter das im Kampfe bewährte nationalsozialistische Deutschland sein wird. Wir wissen auch, dass 90 Millionen Deutsche mit einem Führer wie Adolf Hitler unüberwindlich sind.“[12] Das Dogma vom Endsieg und die Aussicht auf ein nationalsozialistisches Deutschland sollten trotz verdunkelter Gegenwart für die Braunschweiger am Silvesterabend in unbestrittener Geltung bleiben, also unter dem Fluch vom Endsieg.

Die Gottesdienstgemeinde am Zuckerbergweg erhielt an diesem Silvestertag einen Liederzettel in die Hand, auf dem ein frisch gedichtetes Lied von R.A. Schröder wiedergegeben war: „Es mag sein, dass alles fällt, dass die Burgen dieser Welt um dich her in Trümmer brechen. Halte du den Glauben fest, dass dich Gott nicht fallen lässt, er hält sein Versprechen.“[13] Das Lied war in dem Gedichtband „Ein Lobgesang. Neue Lieder für Haus und Kirche“ abgedruckt, das in zweiter Auflage im Berliner Eckart-Verlag erschienen war. Statt vom Endsieg war hier von den Trümmern die Rede und in den weiteren Strophen hieß es „Es mag sein, dass Trug und List eine Weile Meister ist“, „es mag sein, dass Frevel siegt, wo der Fromme niederliegt.“ Das konnte leicht als Defätismus und Angriff auf die auf Sieg getrimmte Propaganda ausgelegt werden. Aber Leistikow hatte zwischen die zwei Lieder, die auf dem Zettel abgedruckt waren, eingeschoben: „Unsere Gemeinde betet für Volk, Wehrmacht und Führer, für Kirche, Gemeinde und Haus“. Der Führer war, für Zwischenzeilerleser bemerkbar, an die dritte Stelle gerückt, hieß es doch sonst „Führer, Volk und Vaterland“. Wichtiger war für Leistikow der Trost für die Gemeinde: „doch nach jedem Unterliegen wirst du den Gerechten sehn/ lebend aus dem Feuer gehn, neue Kräfte kriegen“, lautet die Fortsetzung vom Unterliegen des Frommen. „Nur wer sich nicht schrecken lässt, darf die Krone tragen“, und in der letzten Strophe: „Fass ein Herz und gib dich drein – streite, du gewinnst den Streit. Deine Zeit und alle Zeit stehn in Gottes Händen“. Der Zusammenhang der Strophen machte der singenden Gemeinde deutlich, dass nicht vom Endsieg der Wehrmacht sondern von dem von zusammenbrechenden Trümmern umgebenen, durch das Feuer gehenden Frommen geredet war.[14]

Draußen dröhnte auch im neuen Jahr der Endsieg. Die Gesinnung zum Endsieg habe, so prahlte Goebbels Ende Februar in der Braunschweiger Tageszeitung, das ganze Volk erfasst, „abgesehen vielleicht von einigen minderwertigen Subjekten, denen wir, wenn sie sich zu erkennen geben, kalt und ohne Gnade den Strick um den Hals legen, diese Gesinnung gibt uns die Kraft, mit allen manchmal sich berghoch auftürmenden Schwierigkeiten immer wieder fertig zu werden.“[15] Goebbels rief ungeniert zur Selbstjustiz auf.

Der Garant des Sieges war nicht das Ergebnis einer nüchternen Analyse der militärischen Lage sondern die Person Hitlers, von dessen hinfälliger psychischer und körperlicher Verfassung die Bevölkerung nichts wusste, der aber in der Zeitung im Januar dreimal in großer Aufmachung in Erscheinung trat. „Der Führer an das deutsche Volk. Parole für 1945: In fanatischer Entschlossenheit – Unerschütterlich im Glauben“[16], „Der  Führer ruft zum Volksopfer. Sammlung von Spinnstoffen, Kleider- und Ausrüstungsgegenständen“[17], und zur 12jährigen Wiederkehr des 30. Januar 1933  „Der Führer an das deutsche Volk. Wir werden auch diese Krise meistern“[18]. Auch die örtliche Kreisleitung der NSDAP feierte diesen Tag mit einer Kundgebung am 28. Januar 1945, auf der der Bereichsleiter Spangemacher verkündete, der Führer sei „der Beauftragte des Weltenschicksals“ und habe den großen Auftrag, die Ordnung in der Welt, die gestört sei, wieder herzustellen. „Wir sterben nur, wenn wir selbst den Glauben verlieren“, nämlich den Glauben an Hitler und den mit ihm verbundenen Sieg.[19]

Es gab auch noch Fotos von Hitler, am 13. März bei einer Besprechung mit Offizieren und am 26.3. mit dem Reichsjugendführer Arthur Axmann und dem 12jährigen Hitlerjungen Alfred Czech. Anlässlich des 25. Jahrestages der Verkündigung des Parteiprogramms titelte die Zeitung: „Am Ende steht der Sieg. Der Führer: an  der Standhaftigkeit der Front und der Heimat wird eine ganze Welt zerschellen“.[20] Ganz unabhängig von dem tatsächlichen klapprigen Zustand Hitlers war Hitler als Führer in Wort und Bild präsent. Seine eingebildete Gegenwart in der Heimat und an der Front verhinderte jeden Gedanken an eine politische Alternative. Hitler gab es und der würde, warum nicht? durch ein Wunder – er war doch gottgesandt -  oder durch „Wunderwaffen“ die Wende schaffen.

Von der Wunderwaffe der V 1, einer Rakete, die die englische Insel erreichte, war schon seit August 1944 in der Braunschweiger Tageszeitung die Rede.[21] „V“ war eine Abkürzung für „Vergeltung“. In den folgenden Monaten hieß es immer wieder: „Hohe Verluste durch V 1“[22], „Neue V 1 Schläge gegen England“[23] und „V 2 von ungeheurer Wirkung“,[24]  und auch im neuen Jahr: „Der V- Beschuss redet eine andere Sprache.“ [25] Der Chefredakteur der BTZ hatte in seiner Silvesterbetrachtung diese Hoffnung angestachelt: „Unsere V- Waffen bedrohen ständig die wichtigsten militärischen und rüstungstechnischen Zentren des Feindes“.[26]

Welchen Eindruck solche Zeitungsberichte und Parteiveranstaltungen auf die psychische Verfassung der Braunschweiger Stadtbevölkerung machten, ist ungewiss, aber sie bewirkten eine Täuschung der Bevölkerung über die politische Lage. Genauer wurden die Zuteilungen auf die vielen Lebensmittelkarten (Brotkarte, Fleischkarte, Milchkarte, Zucker/Marmeladenkarte, Kleiderkarte, Raucherkarte, u.a.m,) beobachtet, und diese waren mager. Es gab 125 gr. Fett die Woche, ¼ l Milch, die Wurst war mit Gemüse gestreckt.[27]

Am 25. Februar 1945 hielt zum letzten Mal ein Sammeltransport in Braunschweig, der einige jüdische Braunschweiger ins Altersghetto Theresienstadt wegfuhr. Dort befanden sich schon einige Braunschweiger, die mit den Transporten am 6. und 24.  Juli 1942, am 16. März 1943 aus Braunschweig abgefahren worden waren, unter ihnen das Ehepaar Guhrauer. Max Guhrauer war jedoch nach dem Transport im März 1943 im Lager an Erschöpfung verstorben. Er war der letzte Vorsteher der jüdischen Gemeinde gewesen.

Aber wie seit 1933 in jedem Kriegszustand gab es auch in diesem Jux und Vergnügen. Die Ufa spielte im Januar 1945 im Konzerthaus am Nachmittag dreimal „Orientexpress“ und in den Scala Lichtspielen ab 9.15 Uhr insgesamt zu fünf Zeiten „die Goldene Fessel“, beide für Jugendliche nicht zugelassen. Jugendfrei waren in den Ufa Lichtspielen in der Friedrich Wilhelmstraße „Annelie“ und in den Palastlichtspielen „Schwarzer Jäger Johann“. Ende Februar spielte das Gaukriegsorchester im Konzerthaus Symphonien von Mozart und Beethoven.[28] Es gab auch Sport. Am Karfreitag, dem 30.3. spielte im Eintrachtstadion um 15.30 die Eintracht gegen den VfB.[29]  Am Ostersonntag wurden beide Teile von Goethes Faust gelesen. Faust: Wolfgang Heßler, Mephisto: Alfred Hansen, Gretchen: Eva Schäfer. „Es rauschte das hohe Lied deutscher Menschlichkeit und Größe mit der aufrüttelnden Schau des freien Volkes auf freiem Grund uns in die Seele. Osterklang umschwebte uns und gestärkt gingen wir von hinnen.“[30]

Aber Braunschweig wurde noch zweimal von großen Fliegerverbänden bombardiert. Am 3. März erlebte die Innenstadt einen sehr schweren Angriff. „Die vorhandenen Schuttberge und Trümmerfelder wurden nochmals von Sprengbomben aufgewühlt und mit Brandbomben besät.  Doch hier gab es kaum noch etwas zu zerstören, und trotzdem entstand neues unendliches Leid in diesen Bezirken für die Menschen, die sic kümmerlich in Kellern eine notdürftige Behausung zurechtgemacht hatten.“[31]

Die öffentlichen Verlustlisten gaben 76 Namen von Toten bekannt. bei diesem Luftangriff wurde das Dach des Domes beschädigt und die Fenster des südlichen Seitenschiffes, wie schon vorher des nördlichen, herausgerissen.[32] Die Bergungsarbeiten zogen sich 14 Tage lang hin.

Am Karsamstag, dem 31. März wurden noch einmal die Randgebiete der Stadt der getroffen. 69 Personen kamen ums Leben. Die Organistin der Katharinenkirche, Hilde Pfeiffer-Dürkop, war in den Schutt des dunklen Turmaufgang geklettert und wollte Brandnester löschen. „Da ich allein nicht der verschiedenen Brandnester Herr werden konnte, eilte ich auf die Fallersleber Straße, wo Kolonnen von Zwangsarbeitern, Zivil- und Kriegsgefangenen die verschüttete Straße freiräumen musste. Ich bat den Aufseher der Zivilpersonen um Hilfe. „Wat, wohnt da wer? Ne? Na, dann lat man brennen!“ – war dreimal die Antwort.“[33] 

Im Gang der Leichenhalle des Hauptfriedhofs standen die Särge der Toten der Luftangriffe übereinander, z.T. 14 Tage lang. Ein durchdringender Leichengeruch erfüllte den Raum.  Dort beerdigte der Propst von Ölper Gremmelt das Kind eines ostpreußischen Flüchtlings.[34] Auf dem Hauptfriedhof stapelten sich Hunderte von unbestatteten Leichen.[35]

 

Ganz furchtbar und vergleichsweise verheerender als Braunschweig wurde am 22. März 1945 Hildesheim getroffen. Bei einem Mittagsangriff wurde die gesamte Altstadt mit Dom und den Kirchen zerstört. Über 1000 Menschen kamen ums Leben. Wie in Braunschweig wurde denunziert und geplündert. Aber in dem Rachewahn übertraf Hildesheim noch Braunschweig. Am 26. März wurden nachts drei sog. Plünderer erschossen und zur Abschreckung auf den Marktplatz gelegt. Am nächsten Tag wurden 30 wahllos herausgesuchte italienische Zivilgefangene jeweils zu dreien an einem auf dem Marktplatz errichteten Galgen aufgehängt und von russischen Gefangenen abgehängt und unter den Galgen gelegt. Die Prozedur dauerte vor der rachewütigen, gaffenden Volksgemeinschaft mehrere Stunden. Die letzten Aufgehängten ließ man zur Abschreckung noch einige Tage hängen. Auf dem Friedhof wurden am 5. und 6. April 1945 über 80 Italiener, Polen, Belgier und Franzosen ohne jede Formalität erschossen. Dort fand man nach dem Krieg ein Massengrab mit 208 Leichen. Markus Roloff nennt als Motiv für diesen Exzess ein Ballung von „Fanatismus, Kadavergehorsam, Brutalisierung und Abstumpfung, Vergeltungswillen, Zeugenbeseitigung und das Phänomen des „Mitnehmenwollens“ von möglichst vielen Gegnern in den eigenen Untergang“.[36] 

 

Das kirchliche Leben [37]

In Braunschweig gab es neben Kino und Sport auch noch Kirche. Trotz der Presseeinschränkungen veröffentlichte die Braunschweiger Tageszeitung am Wochenende Kirchennachrichten mit Ort, Zeit und dem predigenden Pfarrer. In der Stadt amtierten noch elf Pfarrer (Kalberlah, Staats, Henneberger, Schwarze, Lang, Koenig, Leistikow, Schlott, Rohde, außerdem der Pensionär Kirchner, sowie Frielinghaus) Sie verteilten sich auf die sechs unbeschädigten Kirchen (Bugenhagenkirche, Rühme, Michaeliskirche, Martin-Luther-Haus, Altlehndorf und Lehndorf-Siedlung) sowie auf fünf Gemeindesäle (St. Georg, Jakobi, Magni, Pauli und Johannis) und die Sakristei der Brüdernkirche.

Zum Wehrmachtsdienst eingezogen waren: Bosse (St. Georg), Dosse (Bugenhagen), Gennrich (Katharinen), Jürgens (Johannis), Uhrig (Brüdern), Wehrstedt (Martini), v. Wernsdorff (Katharinen), Wicke (Magni).

Am 2. April 1945, Ostermontag, war Konfirmation. Es wurden in der Stadt Braunschweig insgesamt noch 295 Jugendliche konfirmiert. Das waren zwar sehr viel weniger als in den vorhergehenden Jahren (1941: 1.040 Jugendliche; 1943: 798 Jugendliche), aber unter den besonderen Umständen des April 1945 eine erstaunliche Zahl. Sie verteilte sich auf die Kirchengemeinden folgendermaßen: Jakobi: 47 Konfirmanden; Pauli: 45; Johannis: 37;[38] Martin Luther: 33; St. Georg: 23; Lehndorf Siedlung: 22; Petri: 17; Magni: 12;  Alt-Lehndorf: 11; Michaelis und Bugenhagen je 10; Katharinen: 9 Konfirmanden und Brüdern 1 Konfirmand. Die Konfirmanden der Petrigemeinde wurden in der Jakobikirche eingesegnet. 1995 hatten sie Goldene Konfirmation. Woran mögen sie sich erinnert haben? Die Konfirmation der Melveröder Jugendlichen konnte nicht in der schönen romanischen  Kirche stattfinden, „da die Kirche infolge von Bombenschäden und  infolge der Lagerung vieler Möbelstücke aus durch Bomben zerstörten Häusern unbenutzbar sei“, vermerkte Pfarrer Kramer im Konfirmandenregister.

Auch Taufen wurden gelegentlich gewünscht: in der Johannisgemeinde wurden in den ersten vier Monaten 10 Kinder getauft, in der Michaeliskirche fünf. Den Hauptanteil der Amtshandlungen nahmen aber die Beerdigungen ein. Leider gibt es dazu keine Zahlenangaben.[39]

Es waren keineswegs nur die unerschüttert bei ihrer evangelischen Kirche verbleibenden Braunschweiger Gemeindemitglieder, die kirchliche Amtshandlungen wünschten. Die letzte Taufe in der Petrikirche fanden am 1. Oktober 1944 statt. Der Täufling Ingrid hatte eine katholische Mutter und einen gottgläubigen Vater; der Täufling Gerhard keinen Vater, aber eine gottgläubige Mutter. Bei der Taufe am 28. Mai 1944 waren beide Elternteile gottgläubig, 1943 bei 78 Taufgottesdiensten dreimal die Eltern gottgläubig und sechs mal der Vater gottgläubig. Von den Konfirmanden in der Martin Luther Gemeinde am 2.4.1945 war ein Vater gottgläubig, sechs dissidentisch, drei Väter gefallen. Im Jahr 1943 waren in der Martin Luthergemeinde sieben Väter gottgläubig. Auch die Eltern einer 22jährigen Holländerin, die am 14. Dezember 1944 getauft wurde, waren nicht in der Kirche. Leistikow vertraute diese Taufe nicht dem regulären Taufregister an, sondern notierte sie in seinem eigenen Taufverzeichnis. War es eine Zivilgefangene oder durch den Krieg nach Braunschweig verschleppte Frau? Die Eltern wohnten in Holland. Am 8. April 1945 wurde im Martin Luther Haus ein Mädchen getauft, deren Vater SS Sturmbannführer und Kirchenmitglied, die Mutter hingegen gottgläubig war.

Auch für gottgläubig Verstorbene wurde von den Hinterbliebenen immer wieder eine kirchliche Bestattung gewünscht. Was mögen es für Motive gewesen sein, wenn beide Elternteile aus der Kirche ausgetreten waren, sich selber als „gottgläubig“ bezeichneten, - und das konnte zunächst nicht anders verstanden werden, als dass sie stramme Nazis waren - ,  und dann doch ihr Kind in den evangelischen Glauben hineintaufen ließen, und es nun Mitglied einer Kirche angehörte, von der sie sich selber getrennt hatten? Das Verhältnis von Nationalsozialismus und Kirche lässt sich in der kirchlichen Alltagspraxis nicht als reinen Konfrontationskurs beschreiben, wie es nach 1945 vielfach getan worden ist. Beide Bereiche berührten sich seltsam und vielfach.

 

Auffällig sind die kirchlichen Versatzstücke in den letzten Kommentaren der Braunschweiger Tageszeitung. Mitte März überkam den Kommentator die Sehnsucht, „von ganzem Herzen noch einmal „Nun danket alle Gott“ singen zu dürfen.“ „Verschwendet euch, wenn ihr bitten möchtet zum Himmel empor, dass er das Werk unserer Soldaten segne; es ringt und blutet doch jeder auch gegen die übelste Sünde der Gottlosigkeit“. [40] Unter der Überschrift „Stunde der Entscheidung“ malträtierte der ungenannte Verfasser noch einmal das Lutherlied „Ein feste Burg“ und zitierte Luthers „Es muss uns doch gelingen“, auch „wenn die Welt voll Teufel wär“, also auch wenn englische und amerikanische Truppen wenige Kilometer vor Braunschweig stehen, müsste ein Endsieg doch gelingen. „Ist es nicht geradezu ein Bekenntnis  für alle die, die jetzt schaufeln, graben, die Strassen aufreißen,  und mit kalter Entschlossenheit bereit sind, ihr Leben einzusetzen, weil nur so die Heimat zu schützen ist und weil ihnen die stolze Gewissheit Luthers „das Reich muss uns doch bleiben“ heute wieder innerster Besitz ist?“ [41]

 

Die Besetzung

Das Ende des rassereinen, juden- und sozifreien, nationalsozialistischen, militanten Staates und seiner Gesellschaft kam schneller als erwartet. Das vollständige Versagen Hitlers und der ihm ergebenen Generäle wurde im letzten Kriegsjahr 1945 offenbar. Nachdem Hitler seit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch in Prag im März 1939 als Außenpolitiker jede Glaubwürdigkeit bei den westlichen Demokratien vollständig verspielt hatte und als notorisch vertragsbrüchig angesehen wurde, außenpolitisch der Krieg durch Friedensverhandlungen also nicht zu beenden war, so versagte er nun auch als Oberbefehlshaber seiner deutschen Streitkräfte. In einem beispiellosen „Blitzkrieg“ wurde die Hitlerarmee in einigen großen Schlachten in Süddeutschland, im Ruhrkessel, auf den Seelower Höhen zwischen  Oder und Berlin und um Berlin mit vielen Zehntausenden von getöteten Soldaten auf beiden Seiten völlig aufgerieben. In nur dreieinhalb Monaten zwischen Januar und April 1945 war das großdeutsche Hitlerreich militärisch besiegt und besetzt. Militärisch eine deftige Blamage. Anders als im 1. Weltkrieg, als Hindenburg und die politische Rechte sich brüsten konnten, dass „die deutsche Heimat“ vom Feind nicht besetzt worden war und die Lüge von unbesiegten Heer verbreiteten, bestanden die Alliierten auf einer vollständigen Unterwerfung der deutschen Wehrmacht. Hunderttausende deutsche Soldaten wurde in die Siegerländer in Gefangenschaft verbracht. Die Deutschen hatten ihrerseits zwischen 1943 und 1945 allein in Niedersachsen Zehntausende sowjetische Gefangene verhungern lassen.

Als die Alliierten das Braunschweiger Land erreichten, waren die großen Schlachten schon geschlagen. Es gab trotz fanatischer Durchhalteappelle keinen kriegsentscheidenden militärischen Widerstand im Braunschweigischen.[42]

Zwischen dem Abzug der deutschen Soldaten und dem Einmarsch der alliierten Truppen herrschte

für kurze Zeit ein völlig rechtloser Zustand. Eigentlich stand auf Plündern im schlimmsten Fall die Todesstrafe. In diesem kurzen Augenblick der rechtlichen Windstille wurde geplündert und geklaut, was man tragen und wegschleppen konnte. Nicht nur für den eigenen Bedarf, sondern für schlechte Zeiten, die erwartet wurden, zum Umtauschen. Ziel der Plünderungen waren die unbewachten Heeres- und Proviantlager, die sich in Kasernen und Industriegeländen befanden. Der Stöckheimer Pfarrer Kramer vertraute seine Beobachtungen der Kirchenchronik an: „Für die Kl. Stöckheimer bildete das auf dem Gelände der Rüninger Mühle infolge der Brückesprengung verstreute Mehl und Korn ein lohnendes Ziel. Mit schwer beladenen Handwagen kamen sie scharenweise heim, wie der Chronist beobachtet hat. Auch die Zuckerfabrik in Broitzem, die Bekleidungsämter in   Braunschweig , Kasernen und so weiter wirkten wie Magneten. Ganze Stoffballen, große Kisten mit allem möglichen Inhalt wurden nach Hause geschafft, ungehindert, niemand kümmerte sich darum, Polizei war nicht vorhanden. Nach Melverode wurden viele Möbel, Teppiche usw aus der Jugendakademie geschleppt. Auch ausgelagerte Warenlager mit Textilien, Schuhwaren wurden geplündert.“ [43] Der Chefredakteur der Braunschweiger Neusten Nachrichten notierte in seiner privaten Stadtchronik: „Dienstag 10. April 1945. Aus den Lagerhäusern der Militärverwaltung in Gliesmarode/Querum wurden von Soldaten Lebensmittel an die Bevölkerung verteilt. Hunderte von Menschen standen am Mittag, Tausende am Nachmittag in heißer Frühlingssonne, um sich habgierig an der großen Beute zu beteiligen. Viele Soldaten machten einen betrunkenen Eindruck. Ein Güterzug mit Reis wurde geplündert. Daran beteiligten sich auch viele Ausländer, die zuerst den Reis von dem Boden unter dem Wagen auflasen, dann aber selbst mit Hand anlegten und die Säcke aufrissen.“ [44]

 

Die Hitlerregierung suchte und fand ihr Ende. Die Verantwortlichen vergifteten oder erschossen sich. Hitler erst 56 Jahre, Goebbels, 47 Jahre, Ley später, Göring später, 54 Jahre, brachten sich frühzeitig ums Leben und entzogen sich der Verantwortung. Rust erschoss sich. Braunschweiger Soldaten verluden seine Leiche“.[45]

Keine deutsche Regierung hatte je so erbärmlich geendet. Als die Nachricht vom Tod Hitlers im Volksempfänger verbreitet wurde, weinte der 16-Jährige Braunschweiger Günther Gaus.[46] Nicht nur er. Auf eine Zeit nach und ohne Hitler war die Mehrheit der vom Nationalsozialismus vergifteten braunschweiger wie deutschen Bevölkerung nicht vorbereitet. Viele Deutsche, nunmehr am Sinn des Lebens irre geworden, folgten ihren Führern und der von Goebbels hinausposaunten so unmenschlichen wie albernen Devise: „Sieg oder Tod“. Eine bisher insgesamt noch nicht erhobene und beschriebene Selbstmordwelle ging durch das deutsche Reich, teils weil sie sich als überzeugte Nazis eine persönliche und politische Zukunft ohne Hitler und den Nationalsozialismus nicht vorstellen konnten, teils aus Angst vor der Behandlung durch die Sieger, viele Frauen aus Angst vor Vergewaltigungen durch die Siegersoldaten.[47] Norbert F. Pötzl und Klaus Wiegrefe vermuten: „Mindestens Hunderttausend Deutsche brachten sich um“.[48] Christian Goeschel spricht von einer „beispiellosen Selbstmordepidemie“ im Frühjahr 1945 aus.[49] 53 Heeresgeneräle, 14 Luftwaffengeneräle, 11 Admirale, einige Gauleiter nahmen sich gewaltsam das Leben, allein in Berlin fast 4000 Frauen und 3000 Männer[50], sodass Pfarrer Jakobi von der Kaiser-Wilhelm Gedächtniskirche  gegen diese Selbstmordepidemie“ anpredigte. Der katholische Psychologe Erich Menninger-Lerchenthal sprach von einem „organisatorisch groß angelegten Massenselbstmord, wie er in der Geschichte Europas noch nicht da gewesen sei.“ [51]

 

Der Braunschweiger Bürgermeister Hans Joachim Mertens erschoss sich am 11. April im Dienstzimmer, Landrat Friedrich Bergmann öffnete sich in seinem Dienstzimmer die Pulsadern. Da er nicht tot war, ließ Kreisleiter Heilig ihn in der Nähe des Riddagshauser Kreuzteiches erschießen. Der 19jährige Sohn Bergmanns Andreas wurde am selben Tag im Theaterpark erschossen aufgefunden. Der Chef der Braunschweiger Gestapo Mack erschoss sich. 1945 endeten 83 Braunschweiger durch Selbstmord, 11 erschossen sich, 14 nahmen Gift, 43 erhängten sich.[52]

In den Behörden, Häusern und auch in evangelischen Pfarrhäusern und katholischen Kirchengemeinden wurden Akten, Fahnen, Abzeichen  der nationalsozialistischen Herrschaft verbrannt und zerstört.

 

Die Stadt Braunschweig wurde einen ganzen Tag ununterbrochen von schwerer Artillerie beschossen und am 12. April 1945 eingenommen und die Dörfer in Richtung Elbe widerstandslos durchfahren. Die besiegte Herrenrasse bestaunte die hohe technische Überlegenheit der Sieger und ihr Entgegenkommen. Die alliierten Truppen wussten bestens über Braunschweig Bescheid. Zielsicher fuhren sie das Gelände der Luftfahrtforschungsanstalt an, das von Luftangriffen weitgehend verschont geblieben war, um sich einen Überblick über die hochkomplizierten Anlagen, u.a. für die V 1, zu verschaffen. Überrascht über das Ausmaß meldeten sie diese Entdeckung an das amerikanische Hauptquartier in Paris.[53]  

 

Aber war Hitler wirklich tot? Der süddeutsche Dichterpastor Albrecht Goes, mit dem System gut bekannt durch seine Tätigkeit als Seelsorger bei Hinrichtungen, die er in einer viel beachteten Novelle „Die unruhige Nacht“ beschrieben hat und die auch verfilmt wurde, veröffentlichte in den Frankfurter Heften 1947 einen Aufsatz „Hitler ist noch nicht tot“.[54] War die sogenannte Nachkriegszeit auch noch eine Hitlerzeit? Weil es diese Frage gab, ist mit dem April 1945 die Besichtigung jener versunkenen Welt noch nicht zu Ende. Wir müssen uns später noch weiteren Wrackstücken auf dem Geschichtsboden dieser Stadt in einem letzten Kapitel nähern.

Deutschland wurde, wie wenige Jahre vorher der polnische und französische Staat, besetzt und geteilt. Die amerikanischen Truppen zogen also nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 nicht wieder ab, sondern blieben in der Stadt. Sie richteten sich für eine längere Zeit ein, räumten die unzerstörten Villen und Häuser für Offiziere und Mannschaften, die Hausbesitzer zogen aus zu Verwandten oder in ein höher gelegenes Stockwerk des Hauses. Die Militärverwaltung und weitere alliierte Dienststellen, inzwischen englische, weil Braunschweig zur britischen Besatzungszone gehörte, richteten sich im Vieweghaus auf dem Burgplatz und anderen repräsentativen Gebäuden ein .

 

Eine Deutung der Niederlage und Besetzung

Am ersten  Sonntag nach der Besetzung Braunschweigs von amerikanischen Truppen predigte Propst Leistikow im Martin-Lutherhaus am Zuckerbergweg und äußerte sich zur aktuellen Lage. Es war der 1. Sonntag nach Ostern, der kirchenjahresmäßig traditionelle „Sonntag vom Guten Hirten“ mit dem empfohlenen Predigttext aus dem Johannesevangelium Kap. 10,12 ff. „Christus spricht: ‚Ich bin der gute Hirte“. Leistikow umkreiste dieses Jesuswort dreimal. Das gegenwärtige Braunschweig sei hirten- und führungslos, die Bevölkerung wie irrende Schafe. Der gute Hirte sei Jesus am Kreuz, dessen Worte am Kreuz auch 1945 gelten, nämlich zu vergeben, denn sie wissen nicht, was sie tun; und sich trotz tiefer Not wie der Schächer am Kreuz doch dem Paradies nahe zu glauben. Es gelte, sich dem guten Hirten Jesus anzuschließen, sich von ihm Lasten abnehmen zu lassen und neues Vertrauen zu ihm aufzubauen. Mit der Aufforderung „so kommt, bitte, bitte, kommt mit mir zum guten Hirten. Amen“, schloss er die Predigt.

Die Predigt enthielt zahlreiche aktuelle Bezüge und tagespolitische Einschätzungen, obwohl Leistikow  eingangs bemerkte, er habe in den vergangenen Jahren niemals ein Wort über Politik gesagt und werde das auch in Zukunft nicht tun. Er begann mit der Beschreibung der aktuellen  Lage in Braunschweig: „Eben noch saßet ihr verängstigt in euren Kellern, Bunkern und Stollen und dachtet, die schwerste Not wäre dieser Bombenterror. Und nun sitzt ihr wieder verängstigt in euren Häusern und wollt eure paar Habseligkeiten, die euch geblieben sind, schützen und bangt gar um euer Leben“. Er werde „in den nächsten Tagen an den Sarg eines Erschlagenen treten müssen, nicht von Bomben erschlagen, sondern von Menschenhand.“ Leistikow sprach im eingefleischten Alltagsjargon vom „Bombenterror“ und verlor kein Wort über irgendeine Art von „Befreiung vom „Naziterror“, sondern die Situation habe sich für die Bevölkerung im Grunde nicht verändert. Leistikow hatte mit dieser Einleitung die Stimmung in seiner Gemeinde zutreffend beschrieben und fuhr fort: „Wie Menschen ohne Führung alle Scham alle Scheu verlieren können, das habt ihr alle selbst in diesen Tagen mit angesehen“. Meinte Leistikow die massenhaften Plünderungen in den Betrieben und Fabriken, wo die Braunschweiger sich mit Eßwaren, Stoffen, Schuhwerk eindeckten? Darüber sollte sich die Gemeinde nicht entrüsten, denn „sie sind nur Schafe ohne Hirten“. Mit einer „Verkrampfung ohnegleichen“ sei vom Sieg gesprochen worden. „Und nun ist über Nacht die Niederlage da, so furchtbar, wie sie auch der größte Schwarzseher sich nicht hat ausmalen können. Und auf einmal ist sichtbar geworden, dass alles, was geredet worden ist, Phrase war.“ Leistikow war offenbar selber von der Plötzlichkeit der Niederlage überrascht, denn sie sei „über Nacht gekommen“, auch diese Beobachtung gab das Stimmungsbild in der Bevölkerung richtig wieder. Mit einer Niederlage hatten offenbar nur ganz wenige gerechnet. Leistikow nannte die Besetzung Braunschweigs „furchtbar“, bisher unvorstellbar. Aber sie sei unabwendbar und die Gemeinde solle nicht den Haß- und Racheparolen Glauben schenken. „Glaubt denen, die in der entscheidenden Stunde euch nichts als Phrasen gesagt haben, kein Wort mehr. Die Niederlage ist da.“ Das war nicht ganz ungefährlich, denn wer konnte wissen, dass deutsche Truppen nicht noch einmal zurückkehren wie im Januar in die Stadt Aachen, wo sie den Bürgermeister aufgehängt hatten, weil er die Stadt übergeben hatte. Die Schlacht um Berlin war noch im Gange und „der Führer“ am Leben.

Neben diesem tagespolitischen Einstieg, der die Gemeinde aufhorchen ließ, überzeugte Leistikow, wie schon in früheren Predigten, durch eine sehr persönlich gefärbte, unmittelbare Frömmigkeit zur Gestalt Jesu. Er bezog die Worte Jesu am Kreuz als Handlungsanweisungen unmittelbar auf die Predigthörer im April 1945: sie sollten wie Jesus vergeben, wie Jesus an das Paradies mitten im schlimmsten Elend glauben und wie Jesus von ihrer Gottverlassenheit sprechen können. Zu dieser pietistischen Praxis gehörte ein ausgeprägtes Sündenbewusstsein. Leistikow bekannt sich persönlich dazu: „ich darf euch in dieser Stunde auch das alte Evangelium vom guten Hirten sagen, der sein Leben lässt für die Schafe. Und ich selbst will nichts anderes sein, als der erste unter euch in der Zahl derer, die ihm weiterhin folgen werden. Ich weiß wohl, was das heißt; das heißt nämlich, dass ich Abend für Abend nur ein Gebet kenne: "Gott sei mir Sünder gnädig." Ich weiß, wie Leben und Tat, wie Theorie und Praxis, wie Kirche und Haus immer wieder auseinander klaffen und wie ich wieder am Abend nur mit meinem anklagenden Gewissen dastehe, dass ich nicht treu genug gewesen bin, diesem guten Hirten zu folgen... Und das weiß ich genau, so wie dieser gute Hirte Christus mir in diesen ganzen Jahren des Krieges Kraft gegeben hat und Zuversicht und auch innere Freude in allem Leid, und dass er mir jetzt hilft, nicht zusammenzubrechen und verzagt und verzweifelt zu sein, sondern euch auch in dieser Stunde Helfer und Tröster und Seelsorger und Freund und Bruder zu sein, dass ihr das genau so erleben könnt.“ Unter dem Kreuz Jesu erschien Leistikow die Situation als ein „Gericht Gottes“, unter das sich Gemeinde demütigen sollte, sonst „werden wir aus dieser Stunde nicht herauskommen“. Aber wer sich vor Gott demütigt, werde von Gott groß gemacht. Am Ende also ein Sieg des Glaubens, der kein Sklavendasein führen werde, „der wird als Herr und König durch diese Zeit hindurchgehen, mag uns äußerlich an Schmach angetan werden, was da will. In Jesu Reich leben heißt, in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit leben. Und in solchem Leben werden wir eigene Not überwinden und wenn wir mit Christus auf die anderen Menschen zugehen, auch ihnen viele Lasten abnehmen. So kommt, bitte, bitte kommt mit mir zum guten Hirten!   Amen.“

Es ist immer wieder behauptet worden, es habe in der Braunschweiger Landeskirche keinen Pietismus gegeben. Ich halte diese Optik für grundfalsch. Die Glaubensgestalt von Propst Leistikow zum Beispiel ist durch und durch pietistisch.

Und typisch pietistisch ist auch der heute befremdende nationalistische Zug in Leistikows Predigt. Pietismus und Patriotismus haben eine lange gemeinsame Geschichte, besonders in Preußen, und Leistikow kam aus Pommern. Leistikow versah seine Warnung, den Hassparolen nicht zu folgen mit der einschränkenden Bemerkung, was am Nationalsozialismus gut gewesen sei, was dem Aufbau gedient habe, werde bleiben. „Und ich habe euch so oft gesagt: "Seid dankbar!" Das werdet ihr auch nicht vergessen, wie ich das nicht vergesse. Und wir werden das alle erleben, was bleibt und was unverlierbar in diesen Jahren uns geschenkt worden ist.“ Noch waren die Konzentrationslager nicht geöffnet und niedersächsische Bürger ins KZ Bergen-Belsen zur „Besichtigung“ transportiert worden.

Aber auch in den späteren Jahrzehnten hat man gerne zwischen dem Guten und dem Verwerflichen im Nationalsozialismus sortiert, ohne zu bedenken, dass der militante Rassestaat Hitlers von Anfang an bösartig war und nur vergiftete Geschenke verteilt wurden.

Als die größte Sorge der Gegenwart bezeichnete der Propst „die Sorge um unser heißgeliebtes deutsches Volk.“ „Liebe Gemeinde! Wenn wir unser deutsches Volk je geliebt haben, so muss es heute sein. Und ich weiß, dass unsere Kirche jetzt in der Zukunft, gerade auch in diesem Hause, weil es den Namen Martin Luthers trägt, die Stätte sein wird, wo wir uns immer wieder darauf besinnen wollen, dass wir Deutsche sind und Deutsche bleiben wollen, weil Gott der Herr uns als Deutsche in dieser Welt leben lässt. Und wir freuen uns auf all´ das, was unser deutsches Volk groß und stark gemacht hat und wollen diese Kräfte pflegen miteinander. Ja, die Sorge um unser heißgeliebtes deutsches Volk muss die Sorge werden für alle unsere Brüder und Schwestern, die vielleicht anfangen werden, nun auch hier zu irren“. Man muss Leistikow zwar den geringen Abstand zu den Tagesereignissen zu Gute halten, aber die nationale, geradezu trotzige Aufwallung war durchaus typisch für jene Tage, besonders bei denen, die mit dem nationalsozialistischen System zusammengearbeitet hatten. Da diese Erinnerung an die nationale Größe Deutschlands jedoch weniger sentimental sondern in Leistikows christlichem Glauben verankert war, blieb sich der Braunschweiger Propst darin auch später treu und trat gegen die öffentliche Meinung als prominenter Entlastungszeuge

im Schwurgerichtsverfahren gegen den nationalsozialistischen Ministerpräsidenten Klagges auf. Es war zwar missverständlicher Trotz, aber entsprach seiner Glaubensüberzeugung, wenn Leistikow den Wert des Sieges der alliierten Truppen in Frage stellte. „Wer als eigentlicher Sieger aus diesem Kriege hervorgehen wird, das ist heute noch gar nicht ausgemacht. Da können wir vor Wundern stehen eines Tages, aber nur, wenn wir jetzt bereit sind, uns (vor Gott) zu demütigen.“

So mündeten die Analyse und die politischen Aussichten für Leistikow wieder in seinen persönlichen Glauben. Es ist verständlich, dass Hans Leistikow als Propst von Braunschweig nicht zu halten war und noch vor Ende des Jahres aus Gesundheitsgründen seine Gemeinde und die Stadt verließ, und Pfarrer auf dem Dorfe wurde. Schon 1949 jedoch erhielt er die 1. Pfarrstelle an der prominenten Marienkirche in Wolfenbüttel und wurde ein von vielen verehrter und geliebter Pastor.



 



[1] Dieter Lent Kriegsgeschehen und Verluste im Zweiten Weltkrieg BL 1025 ff. „Die gesamten Menschenverluste  in Niedersachsen und im Land Braunschweig sind erstaunlicherweise bislang weder als historisches Problem erkannt noch speziell erforscht“ S.1036 Anm. 6

[2] Karl Traupe Das letzte Kriegsjahr in Braunschweig in:Braunschweig im Bombenkrieg Teil II S. 22-27

[3] Bericht des Oberstaatsanwaltes  am 23.1.1945 in BA R 22/3357 Bl.3357

[4] BTZ 29./30.4.1945 „Ein warnendes Beispiel“

[5] H.U.Ludewig, Das Land Braunschweig im Dritten Reich,  Landesgeschichte S.1.020 ff;  Karl Liedke/Elke Zacharias, Das KZ Außenlager Schillstrraße. Der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen bei der Firma Büssing. Braunschweig 1996 (2. Aufl.)

[6] Pfarrer Walter Staats von der Johannisgemeinde benennt im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahrens eine Frau aus der Friedrichstraße, die bezeugen könnte, „wie ich als Seelsorger von allem unterrichtet, ihr bei ihren Maßnahmen zur Hilfe für KZ Leute des Lagers Schillstraße zur Seite stand“. LAW E 13 Staats an Kirchenregierung 10.3.1949.

[7] Karl Liedke, Das KZ- Außenlager SS Reitschule in Braunschweig 1944-1945, in: Frank Ehrhardt (Hg) Lebenswege unter Zwangsherrschaft Braunschweig 2007 S.133 ff Liedke berichtet folgende Szene von einem dortigen KZ Häftling: „Unter uns war eine junge Frau aus Budapest..Sie hatte eine wunderschöne Koloratursopranstimme. Als wir an einem Tag bei der Enttrümmerung  einer Kirche arbeiteten, sang sie am Altar, mit Billigung des uns bewachenden Soldaten, ‚Ave Maria’ von Gounod. Das hat uns neuen Lebensmut schöpfen lassen.“ Ebd. S. 144 Dort auch weitere „Kontakte mit der deutschen Bevölkerung.“

[8] Eckhard Schimpf Nachts als die Weihnachtsbäume kamen Braunschweig 1997 S. 44

[9] Dietrich Kuessner Braunschweig im Bombenkrieg 116 ff

[10] Kapitel 28 Anm 57

[11] BTZ 31.12.1944

[12] „Das Gesetz der Zeit“ von Max Schefter BTZ 31.12.1944

[13] im EG 378; auffälligerweise nicht im EKG!

[14] Leistikow benutzte die leere Rückseite der Gottesdienstordnung für einen Brief an Herdieckerhoff am 3.1.1945 und so ist uns dieser Liedzettel erhalten geblieben. LAW Stadtverband Braunschweig acc 7/ 94 Nr. 9 

Der Gottesdienst hatte folgende Gliederung: 1. Weil ich noch Stunden auf Erden zähle, will ich lobsingen meinem Gott. Dazu die Strophen von „Lobe den Herren o meiner Seele (EG 303 ....) Gebet. 2. Es mag sein dass alles fällt.

[15] BTZ 1.3.1945

[16] BTZ 2.1.1945

[17] BTZ 6.1.1945

[18] BTZ 31.1.1945

[19] BTZ 29.1.1945

[20] BTZ 26.2.1945

[21] BTZ 15.8.1944 „Halifax bestätigt die Wirksamkeit der V 1. Stündlich werden 700 Häuser zerstört“. Auch BTZ 17.8.1944 „“V 1“ Schwätzer zum Tode verurteilt“.

[22] BTZ 9./10.9.1944

[23] BTZ 6.9.1944

[24] BTZ 9.11.1944

[25] BTZ 10.1.1945

[26] BTZ 31.12.1944

[27] BTZ 6.9.1944

[28] BTZ 24./25.2.1945

[29] BTZ 29./30.3.1945

[30] BTZ 3.4.1945

[31] Prescher  103;

[32] Prescher 103 f, Juenke 154

[33]  Hilde Pfeiffer-Dürkop Feuer in St. Katharinen am 31.3.1945 in: Braunschweig im Bombenkrieg Teil II S. 98

[34]  Braunschweig im Bombenkrieg Teil II S. 101

[35] „Durch die Ansammlung hunderter unbestatteter Leichen“ bis April 1945 herrsche auf dem Friedhof ein großer Notstand, hieß es in einem Bericht des Stadtkirchenausschusses an das Landeskirchenamt vom 20.6.1945 in LAW Stadtkirchenverband Nr. 51 Bl. 163

[36] Hans Teich Hildesheim und seine Antifaschisten  Hildesheim 1979 S. 139 ff; Markus Roloff „Nur Plünderer mußten sterben? Die Massenhinrichtungen der Hildesheimer Gestapo in der Endphase des Zweiten Weltkrieges“ in: Hildesheimer Jahrbuch für Stadt und Stift Hildesheim Bd. 69 1997 S. 183-220;

[37] alle folgenden Angaben und Zahlen sind den Kirchenbüchern entnommen

[38] In der Johannisgemeinde fand am 1.4.1945 die Konfirmation von 21 Konfirmanden des 1. Bezirkes statt und am 2.4.1945 die Konfirmation von 16 Konfirmanden des 2. Bezirkes.

[39] Pastor Schwarze von der Pauligemeinde beerdigte in der Zeit vom 11.2. – 11.3.1944 76 Gemeindemitglieder.

[40] BTZ 15.3.1945

[41] BTZ 10.4.1945

[42] Karl Joachim Krause Braunschweig zwischen Krieg und Frieden. Die Ereignisse vor und nach der Kapitulation der Stadt am 12. April 1945 Braunschweig 1994

[43] Kirchenchronik Kl. Stöckheim ohne Seitenzahl unter 1945

[44] Lein 135

[45] Hannoverscher Kurier Nr. 16 10. August 1945

[46] Gaus 107 „Als ich eine gute Woche später, am 30. April 1945, abends im Radio vom Tod Adolf Hitlers hörte, weinte ich lange.“

[47] Beate Lakotta Tief vergraben, nicht dran rühren in: Stephan Burgdorff/ Klaus Wiegrefe  Der zweite Weltkrieg München 2005 S. 330-338 „Zehntausende nahmen sich während der letzten Kriegswochen das Leben, vor allem, beim Einmarsch der Roten Armee“ S. 330

[48] Norbert F. Pötzl und Klaus Wiegrefe „Die Umkehr des Krieges“ in ebd Anm 42 S. 13

[49] Christian Goeschel Selbstmord im Dritten Reich Berlin 2011 S. 230

[50] ebd 246

[51] ebd S. 254. Goeschel vom April/Mai 1945, „als viele NS- Funktionsträger von der Spitze bis in die untere Riege der Partei, sich das Leben nahmen.“ S. 253

 

[52] Braunschweig in der Statistik Zweite Folge 1950  S. 25

[53] Rolf Ahlers und Gerhard Sauerbeck (Hg) Geschichte des Forschungsstandortes Braunschweig-Völkenrode Braunschweig 2003  S. 42 Das Ende der LFA

[54] Frankfurter Hefte 2. Jahrgang 1947 S. 121 ff



Zum Kapitel 32: Die Folgejahre der Hitlerzeit 1945-1947




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