Das Kriegsende und seine Deutung [1]
Das letzte Kriegsjahr 1944/45 [2]
Das Bild von Braunschweig im Frühjahr 1945 lässt sich nicht
auf die fürchterliche Trümmerwüste
vom Petritor bis zum Theater und die Massivruinen der
traditionsreichen Stadtkirchen mit ihren Turmstümpfen reduzieren. In
Braunschweig wohnten noch 138.000 Einwohner. Hunderte Soldaten lagen in
Lazaretten, die in den leergeräumten Schulen eingerichtet waren. Die genaue
Zahl ist noch nicht ermittelt. An den Rändern der Trümmerfläche, am Bahnhof, am
Zuckerbergweg, in der Adolfstraße, im Siegfriedviertel begann wieder halbwegs
menschliches Leben. Die von der Propaganda viel beschworene Volksgemeinschaft
als Schützengrabengemeinschaft entpuppte sich mehr als früher als
Ausgrenzungsgemeinschaft. Es wurde zum Überleben „organisiert“, d.h. in
leerstehenden Wohnungen und aus verbretterten Geschäften gestohlen und
geplündert. Und es wurde mehr als sonst denunziert. Nach dem 15. Oktober 1944
gab es allein 56 Anzeigen, auffallend stark auch die Anzeigen wegen
Schwarzhandel und Erschleichen von Bezugscheinen.[3]
In diesem Frühjahr boten Kriegsgefangene und Zivilarbeiter den Braunschweigern
Holz, das sie sich aus dem Trümmerholz gezogen hatten, zum Feuern gegen
Lebensmittel an. Eine Braunschweigerin, die das Angebot gegen eine warme
Mahlzeit annahm, wurde denunziert und verhaftet.[4]
In der Nähe der noch produzierenden Industriewerke war eine
Lagerlandschaft für die Zivilgefangenen, die Kriegsgefangenen und für die in
die Stadt verschleppten Häftlinge aus den Konzentrationslagern Neuengamme und
Auschwitz entstanden. Die Lagerinsassen waren in Gemeinschaftsbaracken am
Schützenplatz, Ackerstraße, Mascherode, Rühmerberg, Kralenriede, Dieterich
Klaggesstadt, Kälberwiese mit ca je 1000 Insassen untergebracht. In der Stadt
gab es insgesamt 97 Kriegsgefangenenkommandos. H.U. Ludewig zählt mindestens
11.931 Fremdarbeiter und Gefangene allein bei Büssing, bei der NIEMO, MIAG, den
Lutherwerken und Voigtländer. Diese waren keineswegs von der Stadtbevölkerung
isoliert. Die bei Büssing arbeitenden KZ Häftlinge wurden zu Fuß vom KZ
Außenlager Schillstraße an die Arbeitsstätte geführt. Das waren nicht Wenige,
400 - 500 Häftlinge.[5]
Das KZ Außenlager Schillstraße, das im Bereich der Johannisgemeinde lag,
bestand aus drei großen Häftlingsbaracken, einer SS Wachmannschaftsbaracke und
einer Krankenbaracke. Tatsächlich waren es Todesbaracken, weil Ende 1944
wöchentlich 8 – 10 Häftlinge an Unterernährung oder Krankheiten starben. Die
Leichen, die manchmal eine Woche im Lager liegen blieben, wurde mit Lastwagen
in das Lager Watenstedt, später von einer Bestattungsfirma ins Braunschweiger
Krematorium abtransportiert. Man sucht vergeblich nach irgendwelchen Signalen
der Menschlichkeit, die aus den Kirchengemeinden kommen könnten.[6]
Es wurden auch einige Leichen aus dem KZ SS Reiterschule an der
Salzdahlumerstraße, das in Bereich der Martin Luthergemeinde lag und in das
jüdische Frauen eingewiesen waren, im Krematorium abgeliefert.[7]
Diese Frauen wurden zur Trümmerräumung nach Luftangriffen eingesetzt. Eckhard
Schimpf erlebte sie mitten im Gewühl der Innenstadt: „Schmale Hungergestalten,
die meisten ohne Mantel. Eine graue Zopfmusterstrickjacke, andre in viel zu
weite Männerjacken mit Kopftüchern. Manche hatten statt der Schuhe Lappen um
die bloßen Füße gewickelt. All das mitten in der Schuhstraße, in der die
Menschen wie Ameisen hin und her huschten. Jeden musste das aufrütteln, doch
fast alle sahen wohl weg. Wie ich später erfuhr, waren es jüdischen Mädchen aus
Galizien.“[8]
In den Lagern waren sie den Luftangriffen schutzlos ausgeliefert. Der Anteil
der Toten aus den Lagern war ebenso hoch wie der der Braunschweiger
Stadtbevölkerung. „Was mich selber aber am meisten erschüttert, das sind nicht
die rauchenden steinernen Ruinen, sondern das sind die Menschenruinen mit ihrem
verwüsteten Gemüt“, hatte Propst Leistikow in seiner Predigt im Oktober 1944
vor seiner Gemeinde am Zuckerbergweg geäußert.[9]
Kaplan Treuge an der Nikolaikirche erinnerte sich: „Es gab
weithin nicht mehr den Lebensraum für menschliche Reaktionen. Jeder lebte mehr
oder weniger unter vielerlei Bedrohungen, und es gab keinen Lebensbereich, der
nicht einer allgemeinen Verrohung ausgesetzt war. Jedenfalls war es mir
persönlich sehr bewusst, dass die Zerstörung der Städte nichts war im Vergleich
zur Zerstörung des Menschen.“[10]
Die letzten Monate 1945
Keine Glocken der Stadtkirchen würden zu Silvester 1944 das
neue Jahr einläuten, bedauerte der Lokalredakteur der Braunschweiger
Tageszeitung, denn der Feind habe sie ja zerstört, an Stelle des Geläutes
sollte man sich in den Familien still die Hände reichen und alle weiteren
Wünsche dem deutschen Endsieg gelten lassen.[11]
Das stimmte nicht ganz, denn die meisten Glocken waren auf Anweisung der
Regierung abgenommen worden, und die verbliebenen hätten getrost läuten können,
aber dem stand der Luftkrieg im Wege. Aber immerhin war dem Redakteur das
Geläut der Glocken in Erinnerung. Es erschien trostspendend, nun an die
früheren Aufgaben der Stadtkirchen zu erinnern.
In einem entwaffnend offenen Leitartikel hatte der leitende
Redakteur Max Schefter festgestellt, dass die feindlichen Truppen die deutschen
Grenzen bereits überschritten hätten und die Beute aufteilten. England habe den
Polen Ostpreußen, Danzig und einen Teil Pommerns versprochen, Millionen würden
aus dem Gebiet evakuiert, und Frankreich reflektierte auf das Ruhrgebiet.
Daraus würde aber nichts, denn an den Grenzen würde geschanzt, der Volkssturm
als Grenzschutz aufgebaut, und vor allem würden neue Waffen in ein neues kriegsentscheidendes
Konzept eingefügt. Daher könne man mit Recht feststellen, „dass aus dem Dunkel
dieser Zeit ein helles Licht in die Zukunft strahlt, das Licht einer neuen
Zeit, die wir kämpfend erringen und deren Gestalter das im Kampfe bewährte
nationalsozialistische Deutschland sein wird. Wir wissen auch, dass 90
Millionen Deutsche mit einem Führer wie Adolf Hitler unüberwindlich sind.“[12]
Das Dogma vom Endsieg und die Aussicht auf ein nationalsozialistisches
Deutschland sollten trotz verdunkelter Gegenwart für die Braunschweiger am
Silvesterabend in unbestrittener Geltung bleiben, also unter dem Fluch vom
Endsieg.
Die Gottesdienstgemeinde am Zuckerbergweg erhielt an diesem
Silvestertag einen Liederzettel in die Hand, auf dem ein frisch gedichtetes
Lied von R.A. Schröder wiedergegeben war: „Es mag sein, dass alles fällt, dass
die Burgen dieser Welt um dich her in Trümmer brechen. Halte du den Glauben
fest, dass dich Gott nicht fallen lässt, er hält sein Versprechen.“[13]
Das Lied war in dem Gedichtband „Ein Lobgesang. Neue Lieder für Haus und
Kirche“ abgedruckt, das in zweiter Auflage im Berliner Eckart-Verlag erschienen
war. Statt vom Endsieg war hier von den Trümmern die Rede und in den weiteren
Strophen hieß es „Es mag sein, dass Trug und List eine Weile Meister ist“, „es
mag sein, dass Frevel siegt, wo der Fromme niederliegt.“ Das konnte leicht als
Defätismus und Angriff auf die auf Sieg getrimmte Propaganda ausgelegt werden.
Aber Leistikow hatte zwischen die zwei Lieder, die auf dem Zettel abgedruckt
waren, eingeschoben: „Unsere Gemeinde betet für Volk, Wehrmacht und Führer, für
Kirche, Gemeinde und Haus“. Der Führer war, für Zwischenzeilerleser bemerkbar,
an die dritte Stelle gerückt, hieß es doch sonst „Führer, Volk und Vaterland“.
Wichtiger war für Leistikow der Trost für die Gemeinde: „doch nach jedem
Unterliegen wirst du den Gerechten sehn/ lebend aus dem Feuer gehn, neue Kräfte
kriegen“, lautet die Fortsetzung vom Unterliegen des Frommen. „Nur wer sich
nicht schrecken lässt, darf die Krone tragen“, und in der letzten Strophe:
„Fass ein Herz und gib dich drein – streite, du gewinnst den Streit. Deine Zeit
und alle Zeit stehn in Gottes Händen“. Der Zusammenhang der Strophen machte der
singenden Gemeinde deutlich, dass nicht vom Endsieg der Wehrmacht sondern von
dem von zusammenbrechenden Trümmern umgebenen, durch das Feuer gehenden Frommen
geredet war.[14]
Draußen dröhnte auch im neuen Jahr der Endsieg. Die
Gesinnung zum Endsieg habe, so prahlte Goebbels Ende Februar in der
Braunschweiger Tageszeitung, das ganze Volk erfasst, „abgesehen vielleicht von
einigen minderwertigen Subjekten, denen wir, wenn sie sich zu erkennen geben,
kalt und ohne Gnade den Strick um den Hals legen, diese Gesinnung gibt uns die
Kraft, mit allen manchmal sich berghoch auftürmenden Schwierigkeiten immer
wieder fertig zu werden.“[15]
Goebbels rief ungeniert zur Selbstjustiz auf.
Der Garant des Sieges war nicht das Ergebnis einer
nüchternen Analyse der militärischen Lage sondern die Person Hitlers, von
dessen hinfälliger psychischer und körperlicher Verfassung die Bevölkerung
nichts wusste, der aber in der Zeitung im Januar dreimal in großer Aufmachung
in Erscheinung trat. „Der Führer an das deutsche Volk. Parole für 1945: In
fanatischer Entschlossenheit – Unerschütterlich im Glauben“[16],
„Der Führer ruft zum Volksopfer. Sammlung von Spinnstoffen, Kleider- und
Ausrüstungsgegenständen“[17],
und zur 12jährigen Wiederkehr des 30. Januar 1933 „Der Führer an das deutsche
Volk. Wir werden auch diese Krise meistern“[18].
Auch die örtliche Kreisleitung der NSDAP feierte diesen Tag mit einer
Kundgebung am 28. Januar 1945, auf der der Bereichsleiter Spangemacher
verkündete, der Führer sei „der Beauftragte des Weltenschicksals“ und habe den
großen Auftrag, die Ordnung in der Welt, die gestört sei, wieder herzustellen.
„Wir sterben nur, wenn wir selbst den Glauben verlieren“, nämlich den Glauben
an Hitler und den mit ihm verbundenen Sieg.[19]
Es gab auch noch Fotos von Hitler, am 13. März bei einer
Besprechung mit Offizieren und am 26.3. mit dem Reichsjugendführer Arthur
Axmann und dem 12jährigen Hitlerjungen Alfred Czech. Anlässlich des 25.
Jahrestages der Verkündigung des Parteiprogramms titelte die Zeitung: „Am Ende
steht der Sieg. Der Führer: an der Standhaftigkeit der Front und der Heimat
wird eine ganze Welt zerschellen“.[20]
Ganz unabhängig von dem tatsächlichen klapprigen Zustand Hitlers war Hitler als
Führer in Wort und Bild präsent. Seine eingebildete Gegenwart in der Heimat und
an der Front verhinderte jeden Gedanken an eine politische Alternative. Hitler
gab es und der würde, warum nicht? durch ein Wunder – er war doch gottgesandt
- oder durch „Wunderwaffen“ die Wende schaffen.
Von der Wunderwaffe der V 1, einer Rakete, die die englische
Insel erreichte, war schon seit August 1944 in der Braunschweiger Tageszeitung
die Rede.[21]
„V“ war eine Abkürzung für „Vergeltung“. In den folgenden Monaten hieß es immer
wieder: „Hohe Verluste durch V 1“[22],
„Neue V 1 Schläge gegen England“[23]
und „V 2 von ungeheurer Wirkung“,[24]
und auch im neuen Jahr: „Der V- Beschuss redet eine andere Sprache.“ [25]
Der Chefredakteur der BTZ hatte in seiner Silvesterbetrachtung diese Hoffnung
angestachelt: „Unsere V- Waffen bedrohen ständig die wichtigsten militärischen
und rüstungstechnischen Zentren des Feindes“.[26]
Welchen Eindruck solche Zeitungsberichte und
Parteiveranstaltungen auf die psychische Verfassung der Braunschweiger
Stadtbevölkerung machten, ist ungewiss, aber sie bewirkten eine Täuschung der
Bevölkerung über die politische Lage. Genauer wurden die Zuteilungen auf die
vielen Lebensmittelkarten (Brotkarte, Fleischkarte, Milchkarte,
Zucker/Marmeladenkarte, Kleiderkarte, Raucherkarte, u.a.m,) beobachtet, und
diese waren mager. Es gab 125 gr. Fett die Woche, ¼ l Milch, die Wurst war mit
Gemüse gestreckt.[27]
Am 25. Februar 1945 hielt zum letzten Mal ein
Sammeltransport in Braunschweig, der einige jüdische Braunschweiger ins
Altersghetto Theresienstadt wegfuhr. Dort befanden sich schon einige
Braunschweiger, die mit den Transporten am 6. und 24. Juli 1942, am 16. März
1943 aus Braunschweig abgefahren worden waren, unter ihnen das Ehepaar
Guhrauer. Max Guhrauer war jedoch nach dem Transport im März 1943 im Lager an
Erschöpfung verstorben. Er war der letzte Vorsteher der jüdischen Gemeinde
gewesen.
Aber wie seit 1933 in jedem Kriegszustand gab es auch in
diesem Jux und Vergnügen. Die Ufa spielte im Januar 1945 im Konzerthaus am
Nachmittag dreimal „Orientexpress“ und in den Scala Lichtspielen ab 9.15 Uhr
insgesamt zu fünf Zeiten „die Goldene Fessel“, beide für Jugendliche nicht
zugelassen. Jugendfrei waren in den Ufa Lichtspielen in der Friedrich
Wilhelmstraße „Annelie“ und in den Palastlichtspielen „Schwarzer Jäger Johann“.
Ende Februar spielte das Gaukriegsorchester im Konzerthaus Symphonien von
Mozart und Beethoven.[28]
Es gab auch Sport. Am Karfreitag, dem 30.3. spielte im Eintrachtstadion um
15.30 die Eintracht gegen den VfB.[29]
Am Ostersonntag wurden beide Teile von Goethes Faust gelesen. Faust: Wolfgang
Heßler, Mephisto: Alfred Hansen, Gretchen: Eva Schäfer. „Es rauschte das hohe
Lied deutscher Menschlichkeit und Größe mit der aufrüttelnden Schau des freien
Volkes auf freiem Grund uns in die Seele. Osterklang umschwebte uns und
gestärkt gingen wir von hinnen.“[30]
Die öffentlichen Verlustlisten gaben 76 Namen von Toten
bekannt. bei diesem Luftangriff wurde das Dach des Domes beschädigt und die
Fenster des südlichen Seitenschiffes, wie schon vorher des nördlichen,
herausgerissen.[32]
Die Bergungsarbeiten zogen sich 14 Tage lang hin.
Das kirchliche Leben [37]
In Braunschweig gab es neben Kino und Sport auch noch
Kirche. Trotz der Presseeinschränkungen veröffentlichte die Braunschweiger
Tageszeitung am Wochenende Kirchennachrichten mit Ort, Zeit und dem predigenden
Pfarrer. In der Stadt amtierten noch elf Pfarrer (Kalberlah, Staats,
Henneberger, Schwarze, Lang, Koenig, Leistikow, Schlott, Rohde, außerdem der
Pensionär Kirchner, sowie Frielinghaus) Sie verteilten sich auf die sechs
unbeschädigten Kirchen (Bugenhagenkirche, Rühme, Michaeliskirche,
Martin-Luther-Haus, Altlehndorf und Lehndorf-Siedlung) sowie auf fünf
Gemeindesäle (St. Georg, Jakobi, Magni, Pauli und Johannis) und die Sakristei
der Brüdernkirche.
Zum Wehrmachtsdienst eingezogen waren: Bosse (St. Georg),
Dosse (Bugenhagen), Gennrich (Katharinen), Jürgens (Johannis), Uhrig (Brüdern),
Wehrstedt (Martini), v. Wernsdorff (Katharinen), Wicke (Magni).
Am 2. April 1945, Ostermontag, war Konfirmation. Es wurden
in der Stadt Braunschweig insgesamt noch 295 Jugendliche konfirmiert. Das waren
zwar sehr viel weniger als in den vorhergehenden Jahren (1941: 1.040
Jugendliche; 1943: 798 Jugendliche), aber unter den besonderen Umständen des
April 1945 eine erstaunliche Zahl. Sie verteilte sich auf die Kirchengemeinden
folgendermaßen: Jakobi: 47 Konfirmanden; Pauli: 45; Johannis: 37;[38]
Martin Luther: 33; St. Georg: 23; Lehndorf Siedlung: 22; Petri: 17; Magni: 12;
Alt-Lehndorf: 11; Michaelis und Bugenhagen je 10; Katharinen: 9 Konfirmanden
und Brüdern 1 Konfirmand. Die Konfirmanden der Petrigemeinde wurden in der
Jakobikirche eingesegnet. 1995 hatten sie Goldene Konfirmation. Woran mögen sie
sich erinnert haben? Die Konfirmation der Melveröder Jugendlichen konnte nicht
in der schönen romanischen Kirche stattfinden, „da die Kirche infolge von
Bombenschäden und infolge der Lagerung vieler Möbelstücke aus durch Bomben
zerstörten Häusern unbenutzbar sei“, vermerkte Pfarrer Kramer im
Konfirmandenregister.
Auch Taufen wurden gelegentlich gewünscht: in der
Johannisgemeinde wurden in den ersten vier Monaten 10 Kinder getauft, in der
Michaeliskirche fünf. Den Hauptanteil der Amtshandlungen nahmen aber die
Beerdigungen ein. Leider gibt es dazu keine Zahlenangaben.[39]
Es waren keineswegs nur die unerschüttert bei ihrer
evangelischen Kirche verbleibenden Braunschweiger Gemeindemitglieder, die
kirchliche Amtshandlungen wünschten. Die letzte Taufe in der Petrikirche fanden
am 1. Oktober 1944 statt. Der Täufling Ingrid hatte eine katholische Mutter und
einen gottgläubigen Vater; der Täufling Gerhard keinen Vater, aber eine
gottgläubige Mutter. Bei der Taufe am 28. Mai 1944 waren beide Elternteile
gottgläubig, 1943 bei 78 Taufgottesdiensten dreimal die Eltern gottgläubig und
sechs mal der Vater gottgläubig. Von den Konfirmanden in der Martin Luther
Gemeinde am 2.4.1945 war ein Vater gottgläubig, sechs dissidentisch, drei Väter
gefallen. Im Jahr 1943 waren in der Martin Luthergemeinde sieben Väter
gottgläubig. Auch die Eltern einer 22jährigen Holländerin, die am 14. Dezember
1944 getauft wurde, waren nicht in der Kirche. Leistikow vertraute diese Taufe
nicht dem regulären Taufregister an, sondern notierte sie in seinem eigenen
Taufverzeichnis. War es eine Zivilgefangene oder durch den Krieg nach Braunschweig
verschleppte Frau? Die Eltern wohnten in Holland. Am 8. April 1945 wurde im
Martin Luther Haus ein Mädchen getauft, deren Vater SS Sturmbannführer und
Kirchenmitglied, die Mutter hingegen gottgläubig war.
Auch für gottgläubig Verstorbene wurde von den
Hinterbliebenen immer wieder eine kirchliche Bestattung gewünscht. Was mögen es
für Motive gewesen sein, wenn beide Elternteile aus der Kirche ausgetreten
waren, sich selber als „gottgläubig“ bezeichneten, - und das konnte zunächst
nicht anders verstanden werden, als dass sie stramme Nazis waren - , und dann
doch ihr Kind in den evangelischen Glauben hineintaufen ließen, und es nun
Mitglied einer Kirche angehörte, von der sie sich selber getrennt hatten? Das
Verhältnis von Nationalsozialismus und Kirche lässt sich in der kirchlichen
Alltagspraxis nicht als reinen Konfrontationskurs beschreiben, wie es nach 1945
vielfach getan worden ist. Beide Bereiche berührten sich seltsam und vielfach.
Auffällig sind die kirchlichen Versatzstücke in den letzten
Kommentaren der Braunschweiger Tageszeitung. Mitte März überkam den Kommentator
die Sehnsucht, „von ganzem Herzen noch einmal „Nun danket alle Gott“ singen zu
dürfen.“ „Verschwendet euch, wenn ihr bitten möchtet zum Himmel empor, dass er
das Werk unserer Soldaten segne; es ringt und blutet doch jeder auch gegen die
übelste Sünde der Gottlosigkeit“. [40]
Unter der Überschrift „Stunde der Entscheidung“ malträtierte der ungenannte
Verfasser noch einmal das Lutherlied „Ein feste Burg“ und zitierte Luthers „Es
muss uns doch gelingen“, auch „wenn die Welt voll Teufel wär“, also auch wenn
englische und amerikanische Truppen wenige Kilometer vor Braunschweig stehen,
müsste ein Endsieg doch gelingen. „Ist es nicht geradezu ein Bekenntnis für
alle die, die jetzt schaufeln, graben, die Strassen aufreißen, und mit kalter
Entschlossenheit bereit sind, ihr Leben einzusetzen, weil nur so die Heimat zu
schützen ist und weil ihnen die stolze Gewissheit Luthers „das Reich muss uns
doch bleiben“ heute wieder innerster Besitz ist?“ [41]
Die Besetzung
Das Ende des rassereinen, juden- und sozifreien,
nationalsozialistischen, militanten Staates und seiner Gesellschaft kam
schneller als erwartet. Das vollständige Versagen Hitlers und der ihm ergebenen
Generäle wurde im letzten Kriegsjahr 1945 offenbar. Nachdem Hitler seit dem
völkerrechtswidrigen Einmarsch in Prag im März 1939 als Außenpolitiker jede
Glaubwürdigkeit bei den westlichen Demokratien vollständig verspielt hatte und
als notorisch vertragsbrüchig angesehen wurde, außenpolitisch der Krieg durch
Friedensverhandlungen also nicht zu beenden war, so versagte er nun auch als
Oberbefehlshaber seiner deutschen Streitkräfte. In einem beispiellosen
„Blitzkrieg“ wurde die Hitlerarmee in einigen großen Schlachten in
Süddeutschland, im Ruhrkessel, auf den Seelower Höhen zwischen Oder und Berlin
und um Berlin mit vielen Zehntausenden von getöteten Soldaten auf beiden Seiten
völlig aufgerieben. In nur dreieinhalb Monaten zwischen Januar und April 1945
war das großdeutsche Hitlerreich militärisch besiegt und besetzt. Militärisch
eine deftige Blamage. Anders als im 1. Weltkrieg, als Hindenburg und die
politische Rechte sich brüsten konnten, dass „die deutsche Heimat“ vom Feind
nicht besetzt worden war und die Lüge von unbesiegten Heer verbreiteten,
bestanden die Alliierten auf einer vollständigen Unterwerfung der deutschen
Wehrmacht. Hunderttausende deutsche Soldaten wurde in die Siegerländer in
Gefangenschaft verbracht. Die Deutschen hatten ihrerseits zwischen 1943 und
1945 allein in Niedersachsen Zehntausende sowjetische Gefangene verhungern
lassen.
Als die Alliierten das Braunschweiger Land erreichten, waren
die großen Schlachten schon geschlagen. Es gab trotz fanatischer
Durchhalteappelle keinen kriegsentscheidenden militärischen Widerstand im Braunschweigischen.[42]
Zwischen dem Abzug der deutschen Soldaten und dem Einmarsch
der alliierten Truppen herrschte
für kurze Zeit ein völlig rechtloser Zustand. Eigentlich
stand auf Plündern im schlimmsten Fall die Todesstrafe. In diesem kurzen
Augenblick der rechtlichen Windstille wurde geplündert und geklaut, was man
tragen und wegschleppen konnte. Nicht nur für den eigenen Bedarf, sondern für
schlechte Zeiten, die erwartet wurden, zum Umtauschen. Ziel der Plünderungen
waren die unbewachten Heeres- und Proviantlager, die sich in Kasernen und
Industriegeländen befanden. Der Stöckheimer Pfarrer Kramer vertraute seine
Beobachtungen der Kirchenchronik an: „Für die Kl. Stöckheimer bildete das auf
dem Gelände der Rüninger Mühle infolge der Brückesprengung verstreute Mehl und
Korn ein lohnendes Ziel. Mit schwer beladenen Handwagen kamen sie scharenweise
heim, wie der Chronist beobachtet hat. Auch die Zuckerfabrik in Broitzem, die
Bekleidungsämter in Braunschweig , Kasernen und so weiter wirkten wie
Magneten. Ganze Stoffballen, große Kisten mit allem möglichen Inhalt wurden
nach Hause geschafft, ungehindert, niemand kümmerte sich darum, Polizei war
nicht vorhanden. Nach Melverode wurden viele Möbel, Teppiche usw aus der
Jugendakademie geschleppt. Auch ausgelagerte Warenlager mit Textilien,
Schuhwaren wurden geplündert.“ [43]
Der Chefredakteur der Braunschweiger Neusten Nachrichten notierte in seiner
privaten Stadtchronik: „Dienstag 10. April 1945. Aus den Lagerhäusern der
Militärverwaltung in Gliesmarode/Querum wurden von Soldaten Lebensmittel an die
Bevölkerung verteilt. Hunderte von Menschen standen am Mittag, Tausende am
Nachmittag in heißer Frühlingssonne, um sich habgierig an der großen Beute zu
beteiligen. Viele Soldaten machten einen betrunkenen Eindruck. Ein Güterzug mit
Reis wurde geplündert. Daran beteiligten sich auch viele Ausländer, die zuerst
den Reis von dem Boden unter dem Wagen auflasen, dann aber selbst mit Hand
anlegten und die Säcke aufrissen.“ [44]
Die Hitlerregierung suchte und fand ihr Ende. Die Verantwortlichen
vergifteten oder erschossen sich. Hitler erst 56 Jahre, Goebbels, 47 Jahre, Ley
später, Göring später, 54 Jahre, brachten sich frühzeitig ums Leben und
entzogen sich der Verantwortung. Rust erschoss sich. Braunschweiger Soldaten
verluden seine Leiche“.[45]
Keine deutsche Regierung hatte je so erbärmlich geendet. Als
die Nachricht vom Tod Hitlers im Volksempfänger verbreitet wurde, weinte der
16-Jährige Braunschweiger Günther Gaus.[46]
Nicht nur er. Auf eine Zeit nach und ohne Hitler war die Mehrheit der vom
Nationalsozialismus vergifteten braunschweiger wie deutschen Bevölkerung nicht
vorbereitet. Viele Deutsche, nunmehr am Sinn des Lebens irre geworden, folgten
ihren Führern und der von Goebbels hinausposaunten so unmenschlichen wie
albernen Devise: „Sieg oder Tod“. Eine bisher insgesamt noch nicht erhobene und
beschriebene Selbstmordwelle ging durch das deutsche Reich, teils weil sie sich
als überzeugte Nazis eine persönliche und politische Zukunft ohne Hitler und
den Nationalsozialismus nicht vorstellen konnten, teils aus Angst vor der
Behandlung durch die Sieger, viele Frauen aus Angst vor Vergewaltigungen durch
die Siegersoldaten.[47]
Norbert F. Pötzl und Klaus Wiegrefe vermuten: „Mindestens Hunderttausend
Deutsche brachten sich um“.[48]
Christian Goeschel spricht von einer „beispiellosen Selbstmordepidemie“ im
Frühjahr 1945 aus.[49]
53 Heeresgeneräle, 14 Luftwaffengeneräle, 11 Admirale, einige Gauleiter nahmen
sich gewaltsam das Leben, allein in Berlin fast 4000 Frauen und 3000 Männer[50],
sodass Pfarrer Jakobi von der Kaiser-Wilhelm Gedächtniskirche gegen diese
Selbstmordepidemie“ anpredigte. Der katholische Psychologe Erich
Menninger-Lerchenthal sprach von einem „organisatorisch groß angelegten
Massenselbstmord, wie er in der Geschichte Europas noch nicht da gewesen sei.“ [51]
Der Braunschweiger Bürgermeister Hans Joachim Mertens
erschoss sich am 11. April im Dienstzimmer, Landrat Friedrich Bergmann öffnete
sich in seinem Dienstzimmer die Pulsadern. Da er nicht tot war, ließ
Kreisleiter Heilig ihn in der Nähe des Riddagshauser Kreuzteiches erschießen.
Der 19jährige Sohn Bergmanns Andreas wurde am selben Tag im Theaterpark
erschossen aufgefunden. Der Chef der Braunschweiger Gestapo Mack erschoss sich.
1945 endeten 83 Braunschweiger durch Selbstmord, 11 erschossen sich, 14 nahmen
Gift, 43 erhängten sich.[52]
In den Behörden, Häusern und auch in evangelischen
Pfarrhäusern und katholischen Kirchengemeinden wurden Akten, Fahnen, Abzeichen
der nationalsozialistischen Herrschaft verbrannt und zerstört.
Die Stadt Braunschweig wurde einen ganzen Tag ununterbrochen
von schwerer Artillerie beschossen und am 12. April 1945 eingenommen und die
Dörfer in Richtung Elbe widerstandslos durchfahren. Die besiegte Herrenrasse
bestaunte die hohe technische Überlegenheit der Sieger und ihr Entgegenkommen.
Die alliierten Truppen wussten bestens über Braunschweig Bescheid. Zielsicher
fuhren sie das Gelände der Luftfahrtforschungsanstalt an, das von Luftangriffen
weitgehend verschont geblieben war, um sich einen Überblick über die hochkomplizierten
Anlagen, u.a. für die V 1, zu verschaffen. Überrascht über das Ausmaß meldeten
sie diese Entdeckung an das amerikanische Hauptquartier in Paris.[53]
Aber war Hitler wirklich tot? Der süddeutsche Dichterpastor
Albrecht Goes, mit dem System gut bekannt durch seine Tätigkeit als Seelsorger
bei Hinrichtungen, die er in einer viel beachteten Novelle „Die unruhige Nacht“
beschrieben hat und die auch verfilmt wurde, veröffentlichte in den Frankfurter
Heften 1947 einen Aufsatz „Hitler ist noch nicht tot“.[54]
War die sogenannte Nachkriegszeit auch noch eine Hitlerzeit? Weil es diese
Frage gab, ist mit dem April 1945 die Besichtigung jener versunkenen Welt noch
nicht zu Ende. Wir müssen uns später noch weiteren Wrackstücken auf dem
Geschichtsboden dieser Stadt in einem letzten Kapitel nähern.
Deutschland wurde, wie wenige Jahre vorher der polnische und
französische Staat, besetzt und geteilt. Die amerikanischen Truppen zogen also
nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 nicht wieder ab, sondern blieben in der Stadt.
Sie richteten sich für eine längere Zeit ein, räumten die unzerstörten Villen
und Häuser für Offiziere und Mannschaften, die Hausbesitzer zogen aus zu
Verwandten oder in ein höher gelegenes Stockwerk des Hauses. Die
Militärverwaltung und weitere alliierte Dienststellen, inzwischen englische,
weil Braunschweig zur britischen Besatzungszone gehörte, richteten sich im
Vieweghaus auf dem Burgplatz und anderen repräsentativen Gebäuden ein .
Eine Deutung der Niederlage und Besetzung
Am ersten Sonntag nach der Besetzung Braunschweigs von
amerikanischen Truppen predigte Propst Leistikow im Martin-Lutherhaus am
Zuckerbergweg und äußerte sich zur aktuellen Lage. Es war der 1. Sonntag nach
Ostern, der kirchenjahresmäßig traditionelle „Sonntag vom Guten Hirten“ mit dem
empfohlenen Predigttext aus dem Johannesevangelium Kap. 10,12 ff. „Christus
spricht: ‚Ich bin der gute Hirte“. Leistikow umkreiste dieses Jesuswort
dreimal. Das gegenwärtige Braunschweig sei hirten- und führungslos, die
Bevölkerung wie irrende Schafe. Der gute Hirte sei Jesus am Kreuz, dessen Worte
am Kreuz auch 1945 gelten, nämlich zu vergeben, denn sie wissen nicht, was sie
tun; und sich trotz tiefer Not wie der Schächer am Kreuz doch dem Paradies nahe
zu glauben. Es gelte, sich dem guten Hirten Jesus anzuschließen, sich von ihm
Lasten abnehmen zu lassen und neues Vertrauen zu ihm aufzubauen. Mit der
Aufforderung „so kommt, bitte, bitte, kommt mit mir zum guten Hirten. Amen“,
schloss er die Predigt.
Die Predigt enthielt zahlreiche aktuelle Bezüge und
tagespolitische Einschätzungen, obwohl Leistikow eingangs bemerkte, er habe in
den vergangenen Jahren niemals ein Wort über Politik gesagt und werde das auch
in Zukunft nicht tun. Er begann mit der Beschreibung der aktuellen Lage in
Braunschweig: „Eben noch saßet ihr verängstigt in euren Kellern, Bunkern und
Stollen und dachtet, die schwerste Not wäre dieser Bombenterror. Und nun sitzt
ihr wieder verängstigt in euren Häusern und wollt eure paar Habseligkeiten, die
euch geblieben sind, schützen und bangt gar um euer Leben“. Er werde „in den
nächsten Tagen an den Sarg eines Erschlagenen treten müssen, nicht von Bomben
erschlagen, sondern von Menschenhand.“ Leistikow sprach im eingefleischten
Alltagsjargon vom „Bombenterror“ und verlor kein Wort über irgendeine Art von
„Befreiung vom „Naziterror“, sondern die Situation habe sich für die
Bevölkerung im Grunde nicht verändert. Leistikow hatte mit dieser Einleitung
die Stimmung in seiner Gemeinde zutreffend beschrieben und fuhr fort: „Wie
Menschen ohne Führung alle Scham alle Scheu verlieren können, das habt ihr alle
selbst in diesen Tagen mit angesehen“. Meinte Leistikow die massenhaften
Plünderungen in den Betrieben und Fabriken, wo die Braunschweiger sich mit
Eßwaren, Stoffen, Schuhwerk eindeckten? Darüber sollte sich die Gemeinde nicht
entrüsten, denn „sie sind nur Schafe ohne Hirten“. Mit einer „Verkrampfung
ohnegleichen“ sei vom Sieg gesprochen worden. „Und nun ist über Nacht die
Niederlage da, so furchtbar, wie sie auch der größte Schwarzseher sich nicht hat
ausmalen können. Und auf einmal ist sichtbar geworden, dass alles, was geredet
worden ist, Phrase war.“ Leistikow war offenbar selber von der Plötzlichkeit
der Niederlage überrascht, denn sie sei „über Nacht gekommen“, auch diese
Beobachtung gab das Stimmungsbild in der Bevölkerung richtig wieder. Mit einer
Niederlage hatten offenbar nur ganz wenige gerechnet. Leistikow nannte die
Besetzung Braunschweigs „furchtbar“, bisher unvorstellbar. Aber sie sei
unabwendbar und die Gemeinde solle nicht den Haß- und Racheparolen Glauben
schenken. „Glaubt denen, die in der entscheidenden Stunde euch nichts als
Phrasen gesagt haben, kein Wort mehr. Die Niederlage ist da.“ Das war nicht
ganz ungefährlich, denn wer konnte wissen, dass deutsche Truppen nicht noch
einmal zurückkehren wie im Januar in die Stadt Aachen, wo sie den Bürgermeister
aufgehängt hatten, weil er die Stadt übergeben hatte. Die Schlacht um Berlin
war noch im Gange und „der Führer“ am Leben.
Neben diesem tagespolitischen Einstieg, der die Gemeinde
aufhorchen ließ, überzeugte Leistikow, wie schon in früheren Predigten, durch
eine sehr persönlich gefärbte, unmittelbare Frömmigkeit zur Gestalt Jesu. Er
bezog die Worte Jesu am Kreuz als Handlungsanweisungen unmittelbar auf die
Predigthörer im April 1945: sie sollten wie Jesus vergeben, wie Jesus an das
Paradies mitten im schlimmsten Elend glauben und wie Jesus von ihrer
Gottverlassenheit sprechen können. Zu dieser pietistischen Praxis gehörte ein
ausgeprägtes Sündenbewusstsein. Leistikow bekannt sich persönlich dazu: „ich
darf euch in dieser Stunde auch das alte Evangelium vom guten Hirten sagen, der
sein Leben lässt für die Schafe. Und ich selbst will nichts anderes sein, als
der erste unter euch in der Zahl derer, die ihm weiterhin folgen werden. Ich
weiß wohl, was das heißt; das heißt nämlich, dass ich Abend für Abend nur ein
Gebet kenne: "Gott sei mir Sünder gnädig." Ich weiß, wie Leben und
Tat, wie Theorie und Praxis, wie Kirche und Haus immer wieder auseinander
klaffen und wie ich wieder am Abend nur mit meinem anklagenden Gewissen
dastehe, dass ich nicht treu genug gewesen bin, diesem guten Hirten zu
folgen... Und das weiß ich genau, so wie dieser gute Hirte Christus mir in
diesen ganzen Jahren des Krieges Kraft gegeben hat und Zuversicht und auch innere
Freude in allem Leid, und dass er mir jetzt hilft, nicht zusammenzubrechen und
verzagt und verzweifelt zu sein, sondern euch auch in dieser Stunde Helfer und
Tröster und Seelsorger und Freund und Bruder zu sein, dass ihr das genau so
erleben könnt.“ Unter dem Kreuz Jesu erschien Leistikow die Situation als ein
„Gericht Gottes“, unter das sich Gemeinde demütigen sollte, sonst „werden wir
aus dieser Stunde nicht herauskommen“. Aber wer sich vor Gott demütigt, werde
von Gott groß gemacht. Am Ende also ein Sieg des Glaubens, der kein
Sklavendasein führen werde, „der wird als Herr und König durch diese Zeit
hindurchgehen, mag uns äußerlich an Schmach angetan werden, was da will. In
Jesu Reich leben heißt, in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit leben. Und
in solchem Leben werden wir eigene Not überwinden und wenn wir mit Christus auf
die anderen Menschen zugehen, auch ihnen viele Lasten abnehmen. So kommt,
bitte, bitte kommt mit mir zum guten Hirten! Amen.“
Es ist immer wieder behauptet worden, es habe in der
Braunschweiger Landeskirche keinen Pietismus gegeben. Ich halte diese Optik für
grundfalsch. Die Glaubensgestalt von Propst Leistikow zum Beispiel ist durch
und durch pietistisch.
Und typisch pietistisch ist auch der heute befremdende
nationalistische Zug in Leistikows Predigt. Pietismus und Patriotismus haben
eine lange gemeinsame Geschichte, besonders in Preußen, und Leistikow kam aus
Pommern. Leistikow versah seine Warnung, den Hassparolen nicht zu folgen mit
der einschränkenden Bemerkung, was am Nationalsozialismus gut gewesen sei, was
dem Aufbau gedient habe, werde bleiben. „Und ich habe euch so oft gesagt:
"Seid dankbar!" Das werdet ihr auch nicht vergessen, wie ich das
nicht vergesse. Und wir werden das alle erleben, was bleibt und was unverlierbar
in diesen Jahren uns geschenkt worden ist.“ Noch waren die Konzentrationslager
nicht geöffnet und niedersächsische Bürger ins KZ Bergen-Belsen zur
„Besichtigung“ transportiert worden.
Aber auch in den späteren Jahrzehnten hat man gerne zwischen
dem Guten und dem Verwerflichen im Nationalsozialismus sortiert, ohne zu
bedenken, dass der militante Rassestaat Hitlers von Anfang an bösartig war und
nur vergiftete Geschenke verteilt wurden.
Als die größte Sorge der Gegenwart bezeichnete der Propst
„die Sorge um unser heißgeliebtes deutsches Volk.“ „Liebe Gemeinde! Wenn wir
unser deutsches Volk je geliebt haben, so muss es heute sein. Und ich weiß,
dass unsere Kirche jetzt in der Zukunft, gerade auch in diesem Hause, weil es
den Namen Martin Luthers trägt, die Stätte sein wird, wo wir uns immer wieder
darauf besinnen wollen, dass wir Deutsche sind und Deutsche bleiben wollen,
weil Gott der Herr uns als Deutsche in dieser Welt leben lässt. Und wir freuen
uns auf all´ das, was unser deutsches Volk groß und stark gemacht hat und
wollen diese Kräfte pflegen miteinander. Ja, die Sorge um unser heißgeliebtes
deutsches Volk muss die Sorge werden für alle unsere Brüder und Schwestern, die
vielleicht anfangen werden, nun auch hier zu irren“. Man muss Leistikow zwar
den geringen Abstand zu den Tagesereignissen zu Gute halten, aber die
nationale, geradezu trotzige Aufwallung war durchaus typisch für jene Tage,
besonders bei denen, die mit dem nationalsozialistischen System
zusammengearbeitet hatten. Da diese Erinnerung an die nationale Größe
Deutschlands jedoch weniger sentimental sondern in Leistikows christlichem
Glauben verankert war, blieb sich der Braunschweiger Propst darin auch später
treu und trat gegen die öffentliche Meinung als prominenter Entlastungszeuge
im Schwurgerichtsverfahren gegen den nationalsozialistischen
Ministerpräsidenten Klagges auf. Es war zwar missverständlicher Trotz, aber
entsprach seiner Glaubensüberzeugung, wenn Leistikow den Wert des Sieges der
alliierten Truppen in Frage stellte. „Wer als eigentlicher Sieger aus diesem
Kriege hervorgehen wird, das ist heute noch gar nicht ausgemacht. Da können wir
vor Wundern stehen eines Tages, aber nur, wenn wir jetzt bereit sind, uns (vor
Gott) zu demütigen.“
So mündeten die Analyse und die politischen Aussichten für
Leistikow wieder in seinen persönlichen Glauben. Es ist verständlich, dass Hans
Leistikow als Propst von Braunschweig nicht zu halten war und noch vor Ende des
Jahres aus Gesundheitsgründen seine Gemeinde und die Stadt verließ, und Pfarrer
auf dem Dorfe wurde. Schon 1949 jedoch erhielt er die 1. Pfarrstelle an der
prominenten Marienkirche in Wolfenbüttel und wurde ein von vielen verehrter und
geliebter Pastor.