Tiefpunkt und Zäsur
Der Tiefpunkt 1947 [1]
Das Elend, in das sich die Deutschen durch ihre
Hitlerbegeisterung und Hitlergefolgschaft gestürzt hatten, erreichte allmählich
seinen Tiefpunkt. Vom 1. Oktober 1946 bis zum 1. Februar 1947 ging eine
alliierte Kommission in Braunschweig durch Wohnungen und Firmen und
beschlagnahmten bei Privatpersonen 1.500 Gegenstände und bei Firmen 500
Gegenstände an Hausrat und Mobiliar, die an 221 bedürftige Personen, meist
Ausländer und ehemalige Gefangene verteilt wurden.[2]
Das wurde als Demütigung empfunden. Wer mochte sich an jene Tage erinnern, als
der Hausrat jüdischer Braunschweiger fünf Jahre zuvor versteigert wurde?
Drückender war die Versorgungslage. „Wenn ich von dem Jahre
1946 schreiben musste, dass durch die ungeheure Verknappung der Lebensmittel
verursacht und verschlimmert durch schlimmes Schiebertum, die Sorge an viele
Häuser pochte und der Hilfesuchenden, die in das Pfarrhaus kamen, immer mehr
wurde, so muss ich das erst recht von dem Jahre 1947 sagen. 75 Gramm Fett
wurden für vier Wochen ausgegeben. Nur Gottes Freundlichkeit und Güte hat uns
durch diese Zeiten hindurchgetragen.“[3]
Diese Notiz von Pfarrer Bosse in der Kirchenchronik von St. Georg deutete nur
den Tiefpunkt an, auf dem sich ein großer Teil der Braunschweiger Bevölkerung
1947 befand.
Der Rat der Stadt verabschiedete am 15. Januar 1947 eine
drastische Resolution, die einem Aufschrei gleichkam. [4]
Der Notzustand habe ein unerträgliches Ausmaß angenommen, die Bevölkerung sei
mit tiefster Beunruhigung erfüllt und auch Gutwillige, Mutige und Optimisten an
den Rand der Verzweiflung gebracht. Die Wohnsituation sei
gesundheitsgefährdend. Die Gefahr von ansteckenden Krankheiten und Seuchen
werde immer größer. Wegen der Brotversorgung herrsche tiefe Unruhe. „Die
Ernährungs- und Wirtschaftslage, insbesondere auf dem Gebiet der Bekleidung ist
so, dass ein Teil der Bevölkerung voller Empörung, der andere völlig apathisch
ist.“ „Unterernährte Mütter und Kinder“, „Zusammenbruch der
Kartoffelversorgung“, „viele Haushaltungen ohne Kochgelegenheit“, „Boden für
Unruhe und Aufruhr“. Der von allen Mitgliedern des Rates ( 30 SPD, 10 CDU, 1
FDP, 1 KPD) verabschiedete Antrag schloss mit einer Bitte und einem Hilferuf an
die Alliierten. Dieser Ratsbeschluss ist betont an die Spitze der
Verwaltungsberichte der Stadt in der Nachkriegszeit gestellt und ist ein
hochinteressantes Dokument für die geistige Verfassung der damals
Verantwortlichen. Mit keinem Wort erwähnt der Ratsbeschluss die eigentliche
Ursache für den Tiefpunkt, nämlich die militärische Niederlage der Hitlerarmee
und die Begeisterung und Anhänglichkeit an das nationalsozialistische System in
Braunschweig. Stattdessen wurde direkt die britische Militärverwaltung für die
Notlage verantwortlich gemacht. „Mangelnde Voraussicht und Planlosigkeit von
Stellen, die keiner deutschen parlamentarischen Kontrolle unterstehen, haben
die Versorgungsschwierigkeiten erhöht.“ Von der Militärregierung beschlagnahmte
Wohnungen stünden leer. „Die Beschlagnahme von Häusern für englische Familien
erhöht die Wohnungsnot“. Der Rat verschwendete keinen Gedanken, wieso überhaupt
Engländer in der Stadt Braunschweig waren. Die Antwort konnte er im
Braunschweiger Boten lesen: weil die Deutschen sich nicht allein vom
weltbedrohenden Hitler befreien konnten, weil das Konzentrationslager am
Ostbahnhof nicht von Braunschweigern, sondern von den alliierten Truppen
geöffnet werden musste. Wenn die Resolution mit der Einsicht der Stuttgarter
Erklärung begonnen hätte, dass auch durch Braunschweiger unendlich viel Leid
über die Völker gebracht worden sei, und sie trotzdem die Befreier um Hilfe aus
dem selbstverschuldeten Nachkriegselend bitten, dann hätte die Resolution
vielleicht ein Echo gefunden. So blieb an ihr der Geruch der abgewälzten Schuld
für die Situation, der Übertreibung und der Uneinsichtigkeit hängen, der jedoch
bezeichnend war für die geistige Lage nicht nur in Braunschweig.
Am 1. April 1947 kam es zu Hunger- und Jugendkrawallen vor
dem Rathaus[5]
und am 5. Mai stellte der Rat seine Tätigkeit für sechs Wochen ein, weil er die
politische Verantwortung für die wirtschaftliche Lage in der Stadt nicht mehr
übernehmen wollte. Dieser Notstand wurde durch einen sehr strengen Winter
1946/47 eingeleitet, die Koksversorgung brach zusammen, sogar der Betrieb des
Krematoriums wurde stillgelegt. Die zugeteilte Kalorienmenge sank auf 880
Kalorien - 2.400 war internationale Norm - , sie reichte nicht zum Leben und
nicht zum Sterben. Die Wohnungsnot verschärfte sich, es gab ein Stück
Einheitsseife im Monat. Ansteckende Krankheiten häuften sich. Das von Bosse
beklagte Schiebertum fand auf dem Schwarzmarkt statt. Welche Mengen dort
umgesetzt wurden, wird an den von der Polizei beschlagnahmten Mengen
anschaulich. 1946 wurden 5.457 kg Fleisch, 409 kg Fett, 2.545 kg Zucker 1.010
Kg Fisch, 119 kg Kaffee und 91.6500 Zigaretten beschlagnahmt.[6]
Die beschlagnahmte Menge war nur ein Bruchteil der tatsächlich umgesetzten
Masse. Die Braunschweiger Stadtbevölkerung befand sich auf dem Tiefpunkt der
mageren sieben Jahre, die 1943 eingesetzt hatten. Im Herbst 1947 gab es für
Kinder eine Schulspeisung. Für das Siegfriedviertel wurde sie an der
Georgkirche ausgegeben. „Bei uns wurden 800 Kinder gespeist, die auf Grund von
Untersuchungen in der Schule als bedürftig anerkannt waren. 40 Kinder durfte
außerdem jeder Pfarrer auswählen. Das war schön und schwer zugleich. Wir haben
damals in viel Not hineinsehen müssen und mussten in vielen Fällen die Hilfe
versagen, obwohl sie auch da nötig gewesen wäre,“ notierte Pfarrer Bosse. [7]
Drei Antworten auf die Frage, wie es weitergehen soll
Die Stadtkirchen entwickelten auf die Zukunftsfrage, wie es
nach der Zerstörung weitergehen sollte, drei grundlegend verschiedene
Antworten.
Die erste lautete: Wir bauen alles wieder auf. Das war
auch die Devise von Propst Jürgens. Bei seinem Abschied aus dem Amt wurde
lobend erwähnt, dass unter ihm fast alle Kirchen und Pfarrhäuser wieder
aufgebaut worden seien. „Wiederaufbau“ lautete also das Zauberwort. Mit
einem bewundernswerten Fleiß wurde für diese Aufgabe gesammelt und gespendet,
der Stadtkirchenverband, der nach Wolfgang Juenke damals „im Geld schwamm“,[8]
bewilligte 700.000 RM für erste Maßnahmen, aber alle Ersparnisse schmolzen
durch die Währungsreform 1948 wieder dahin, und trotzdem: „wir bauen alles
wieder auf.“
Siegfried Stange, seit Herbst 1945 an der Katharinenkirche,
schrieb in die Kirchenchronik: „Der Bau steht. Er kann ohne große
Schwierigkeiten und allzu hohe Kosten in seiner früheren Gestalt
wiederhergestellt werden. Die wertvolle alte Fritzsche-Orgel, die einst
Friedemann Bach gespielt hat, war größtenteils ausgebaut und sichergestellt und
kann zu gegebener Zeit wiedereingebaut werde. Die großen Bronze-Kronleuchter
waren nach auswärts ausgelagert und können nach erfolgte Instandsetzung des
Innenraumes wieder aufgehängt werden.“ [9]
Diese Eintragung aus dem Jahr 1946 spiegelt die Stimmung nicht nur des 35
jährigen aufbaufreudigen Pfarrers wider: „wiederhergestellt“,
„wiedereingebaut“, „wieder aufgehängt“: wir bauen alles wieder auf. [10]
Auch von der Andreas-, Martini-, Petri-, Brüdern- und
Magnikirche standen die Außenmauern, Turmstümpfe und größtenteils auch die
Gewölbe.[11]
Die Gottesdienste fanden überwiegend entweder in den Sakristeien oder
Gemeindesälen statt, in Mascherode-Siedlung in einem oberen Raum des
bombastisch-nazistischen Gemeinschaftshauses.
Es ging jahrelang also auch ohne große Kirchen. Aber diese
Erfahrung wurde nicht nutzbar gemacht.
Es wurde im Stadtkirchenamt ein Bauamt eingerichtet, und für
seine Leitung bestimmte Propst Jürgens den ausgemusterten Oberregierungsrat
Dipl Ing. Friedrich Berndt[12]
mit dem Titel eines Stadtkirchenbaurates. Der 42jährige Friedrich Berndt war
zuvor bei der Luftwaffe beschäftigt gewesen und nach dem Krieg arbeitslos
geworden. Berndt äußerte sich im Gemeindesaal von St. Jakobi am 27.10.1948 vor
der Petrigemeinde in einem grundsätzlichen Vortrag über das Thema „Kann die
Petrikirche wieder aufgebaut werden?“ Nach einer ungeschminkten Beschreibung
der Situation („Einsam und verlassen steht die Ruine der Kirche in der Einöde,
die sich um die Petrikirche ausbreitet...Vier Winter sind seither
dahingegangen, Regen, Schnee und Frost setzen das Werk der Zerstörung an
Mauerwerk und Gewölbe fort, während die noch erhaltenen Teile des Dachstuhles
durch Fäulnis angegriffen werden.“) bejahte Berndt die Frage, ob die
Petrikirche es verdiene, wiederaufgebaut zu werden, und zwar durch eine
ausführliche Beschreibung der Baugeschichte und folgerte: „Ein teures Erbe ist
uns anvertraut, an dem Jahrhunderte lang unsere Väter gearbeitet haben. Sollen
alle ihre Opfer, ihr Fleiß und ihre Kunstfertigkeit umsonst gewesen sein? Als
historisches Baudenkmal wie als steinernes Monument der Frömmigkeit unserer
Väter verdient die Petrikirche wiederhergestellt zu werden.“
Berndt baute einen starken moralischen Druck auf. Wer sich
gegen einen Wiederaufbau wende, vergriff sich an dem Erbe der Väter. War es das
Erbe der ganzen Gemeinde? Auch der Flüchtlinge, die an ihre Heimatkirchen
denken werden?
Berndt stellte nicht die Frage: wie wiederaufgebaut werden
sollte. Wieder gotisch? Wieder mit einer so hohen Decke und schlechter Akustik?
Wieder mit spitzen Türmen? „Die endgültige Bekrönung des Turmes dürfte die
letzte größere Arbeit an der wiederaufzubauenden Petrikirche sein“, hatte Berndt
erklärt und damit klargestellt, dass der Turmstumpf nicht so bleiben und
womöglich dort ein luftiges Cafe eingerichtet werden könnte. Berndt fixierte
die Gemeinde geradezu auf die Wiederherstellung des alten Zustandes und
beschwor dazu die Hilfe Gottes. Es wäre auch möglich gewesen, die Gemeinde
anzuregen, den Bau als ein Dokument ihrer geschundenen, erprobten Frömmigkeit
zu entwerfen, sodass es nicht nur ein Bauwerk der Frömmigkeit der Väter,
sondern auch in ihrer äußeren Gestalt der gegenwärtigen Kinder Gottes an Petri
ist.[13]
In einem anderen bilanzierenden Vortrag zwei Jahre später
über den „Wiederaufbau der Braunschweiger Stadtkirchen“ pries Berndt zwar die
Ruine der zerstörten Magnikirche als „ein Bild unverwüstlicher Schönheit und
Erhabenheit“, fordert aber „große Anstrengungen, um die geretteten Bauten in
alter Schönheit wieder erstehen zu lassen“[14],
also wieder gotisch, auch neugotisch, wieder mit Epitaphien, die nicht immer
ein Lob des Schöpfers sondern Eigenlob und Selbstdarstellung des Stifters sind,
also wieder hohe Türme, man sollte wohl nicht merken, was geschehen ist und
keine unpassenden Fragen nach den Ursachen stellen.
Vierzig Jahre später stellte Christian Kohn, damals Pfarrer
an Martini, anlässlich einer Ausstellung fest, die Renovierung von Martini,
1991 vollendet, würde „über den Grad der Zerstörung und ihren jämmerlichen
Zustand nach dem Krieg hinwegtäuschen.“[15]
Erst 1950 konnte die Johannisgemeinde aus ihrem Gemeindesaal
wieder in die Kirche einziehen,
am 23. Dezember 1951 die Pauligemeinde aus dem Anbau in
ihren Kirchenraum. Am Pfingstsonntag 1953 wurde Katharinen neu eingeweiht, am
7. März 1954 zog die St. Georggemeinde im Siegfriedviertel aus den Gemeinderaum
im Untergeschoss in ihre wiederhergestellte Kirche, [16]
Das Wort vom „Wiederaufbau“ verdeckt die elenden Umstände
der ersten fünf Nachkriegsjahre. Es ging alles bis zur vorläufigen
Wiederherstellung sehr sehr langsam. Karl Heinz Löffelsend hat die damalige
Lage in der Kirche und den Pfarrhäusern in der Johannisgemeinde beschrieben.[17]
Im Sommer 1945 war „die zur Ruine gewordene Kirche dem Verfall und der
Witterung preisgegeben“. Die Kirchenfenster standen alle offen, von oben drohte
das Deckengewölbe einzustürzen. Dieser Zustand hielt weit über ein Jahr an.
Durch die notdürftig mit Pappe gedeckten Pfarrhäuser fing es Ende November
1946 wieder an, durchzuregnen. Die Fenster in Kirche und Pfarrhäusern waren
entweder verbrettert oder noch offen. In diesem Jahr wohnten 18 Personen im
Pfarrhaus Staats. Die hohen Giebel der Kirche, die frei standen, drohten
einzustürzen und wurden im nächsten Jahr verkürzt. Erst vier Jahre nach der
Zerstörung konnte das Dachgewölbe der Kirche mit Zement abgedichtet werden.
Vorher fehlte es an Arbeitskräften, Baumaterial und Baugenehmigungen. Im Herbst
1949 wurde ein Dachstuhl errichtet. Diese Wohnzustände galten damals noch als
privilegiert gegenüber den Wohnverhältnissen in den Bunkern, Baracken und
Nissenhütten.
Während in den Stadtkirchen über den Wiederaufbau der
Pfarrkirchen nachgedacht wurde, legte Stadtbaurat Prof. Johannes Göderitz der
Öffentlichkeit 1949 die Pläne der Stadt für den Wiederaufbau vor.[18]
Unter dem letzten Kapitel „Aufbau und Denkmalpflege“ nannte er auch die
Umgebung einiger Stadtkirchen, die infolge geringerer Beschädigungen den Status
von „Traditionsinseln“ erhalten sollten. „Es ist dabei beabsichtigt, in diesen
„Traditionsinseln“ späteren Generationen ein Bild des alten Braunschweigs zu
vermitteln.“[19]
Der Begriff der Traditionsinsel ist überaus bezeichnend für die von der
Stadtverwaltung zugedachte zukünftige Rolle der evangelischen Pfarrkirchen. Sie
hatten ihren Platz in der Vergangenheit, in der Traditionspflege. Für die
Gegenwart, geschweige denn für die Zukunft der Stadt hatten sie offenbar nichts
Wesentliches zu sagen. Es wurde jedenfalls von ihr nicht erwartet. Sie
verkörperten „das alte Braunschweig“, nicht das zukünftige. Sie entsprach dem
Vorkommen von Kirche in der Biografie eines typischen Brauschweigers. Dann und
wann erinnerte man sich traditionell der Kirche, bei einer Taufe oder
Jahrzehnte später bei einer Konfirmation, vielleicht auch noch bei der
Beerdigung. Kirchen waren Traditionsinseln im Leben eines Braunschweigers. Bei
aller Unvergleichlichkeit wurde hier auch eine Kontinuitätslinie sichtbar. Als
Traditionsinseln hatten auch die Nationalsozialisten die Kirchen noch am Leben
gelassen. Die Umsetzung dieser Idee wirkte möglicherweise noch schlimmer. Die
Katharinenkirche, Petri, Brüdern und Andreaskirche wurden im Göderitzschen
Entwurf nicht genannt. Wie sollten sie sich, wenn die Umgebung es nicht mehr
ermöglichte, in das Stadtbild einfügen? Die hier bereits projektierte
autogerechte Stadt mit ihren überdimensionierten Straßenströmen machte dem
Leser klar, dass die klassischen Stadtkirchen weniger Traditionsinseln sondern
als durch den Verkehr abgeschnürte Baukörper ohne einen Zusammenhang
untereinander gedacht waren. Ob es in dem damaligen Stadium je Gespräche
zwischen der Propstei und der Stadtverwaltung gegeben hat, ist unbekannt.
Die Antwort der Brüderngemeinde: erst ein innerer
Aufbau, Max Witte
Die andere Antwort lautete: es kommt auf den inneren Aufbau
der Kirche an. Erst eine andere Gemeinde, dann das dazu passende Gehäuse. Das
war die Antwort der Brüderngemeinde, deren Sakristei ununterbrochen für
Gottesdienste zur Verfügung gestanden hatte. Die Ursache der Zerstörung war
nämlich für sie die Verwüstung des lutherischen Bekenntnisses und die Absage an
das treue Festhalten an der überlieferten Bibel in der nationalsozialistischen
Zeit. In der Sakristei der Brüderngemeinde amtierte seit seiner Rückkehr aus
französischer Kriegsgefangenschaft 1948 Pfarrer Max Witte. [20]
Witte, 39 Jahre alt, suchte die Antwort in einer
Rückwendung zurück in die Reformationszeit. Dabei übernahm er altlutherische
Gottesdienstformen, die auf Braunschweiger „römisch-katholisch“ wirkten, wie
Messgewänder, das Bekreuzigen, Niederknien, die ewige rote Lampe, Beichte,
Stundengebete u.a. Diese Antwort fand positiven Widerhall in der Kirchenleitung
bei Landesbischof Erdmann und dem Oberlandeskirchenrat für Gemeindefragen, Hans
Eduard Seebass, und bei den zum Lutherischen Bruderkreis zusammengeschlossenen
Pfarrern. Sie lag auch im überregionalen Trend der Neugestaltung des
Evangelischen Gesangbuches, das vom Hannoverschen Oberlandeskirchenrat Mahrenholz
1950 unter der massiven Einführung reformatorischer Choräle und rücksichtloser
Beseitigung des Liedgutes aus dem 19. Jahrhundert betrieben wurde. Aber die
Stadtgeistlichkeit zeigte bei der Frage, wann das neue Gesangbuch eingeführt
werden sollte, eine gewisse Behäbigkeit. Das alte Braunschweiger Gesangbuch von
1902 hatte sich in zwei Weltkriegen, in Revolution und widrigen Zeiten während
des Nationalsozialismus bewährt. Warum also ein neues, zumal im Neuen die
beliebten Choräle „Harre meine Seele“ und „Stille Nacht“ fehlen sollten und
nur auf Druck von OLKR Röpke in einen Sonderanhang angefügt waren? Als die
Gemeinden zu Bestellungen aufgefordert wurden, bestellte Katharinen 20
Exemplare, Martini zehn, Michaelis 30, Petri acht, Jakobi 50, Gliesmarode 100[21],
also bei einigen ein deutliches Votum, es zunächst bei dem alten Gesangbuch zu
belassen.
Das Brüdernmodell stieß vor allem auf heftige Ablehnung bei
jenem Teil der Braunschweiger Stadtpfarrerschaft, der sich fast zur Hälfte aus
sog. Ost- oder Flüchtlingspfarrern zusammensetzte. Die Zusammensetzung der
Braunschweiger Stadtpfarrerschaft hatte sich seit 1945 grundlegend verändert.
1945 waren Erich Stange nach Katharinen, Hans Damrow nach
Martin Luther und Heinz Chilla[22]
als Aushilfe in der Stadt eingestellt worden. Es folgten 1946 Ernst Froese[23]
nach Riddagshausen, 1947 Martin Pahl[24]
nach Rühme, 1948 Gotthard Gläser[25]
an die Andreaskirche und 1949 Paul Fink[26]
nach St. Georg und Helmut Wielgoß[27]
ins Studentenpfarramt.
Hans Damrow, Ernst Froese und Studentenpfarrer Helmut
Wielgoß waren aus Ostpreußen geflüchtet, Martin Pahl aus Westpreußen. Gotthard
Gläser und Heinz Chilla aus Pommern, Paul Finck aus Brandenburg. Sie kamen aus
den Kirchen der sog. altpreußischen Union, die ein gemäßigtes und nicht allzu
strenges lutherisches Verständnis vom Abendmahl pflegten. Ihnen allen warf der
junge Vikar und Hilfsprediger Wittes, der 25 jährige Hellmut Lieberg[28],
ein häretisches Abendmahlsverständnis vor, und verweigerte die
Abendmahlsgemeinschaft mit ihnen. Das war aus der Sicht der Ostpfarrer, von
denen die meisten bereits viele Amtsjahre in der Heimat hinter sich hatten, ein
starkes Stück Respektlosigkeit, das, wie sie sich in gut ostpreußischem
Amtsdeutsch ausdrücken mochten, ihnen dieser „Schnodder“ in der Fremde bot. Auch
Propst Jürgens hatte für diese radikal-orthodoxe Auffassung kein Verständnis.
Für den Brüdernkreis jedoch war die Missachtung der strengen
Abendmahlsauffassung mit Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi
die grundlegende Wurzel allen Übels und ihre strenge Beachtung kompromisslos
durchzusetzen.
Erst Umkehr, dann eine Kirche bauen: Johann Heinrich Wicke
Die dritte Antwort gewann architektonische Statur. Die
einzige Kirche, die nicht „wieder“aufgebaut wurde, war die Magnikirche. Dort
hatte Pfarrer Johann Heinrich Wicke schon bald nach der Zerstörung der
Magnikirche seiner Gemeinde als Ursache der Zerstörung ein falsches
liberalistisches Verständnis von Kirche und das enge Verhältnis von Kirche und
Staat in der Herzogzeit, aber auch in der nationalsozialistischen Zeit genannt
und vor allem die Unbußfertigkeit der Kirche nach 1945. Auf keinen Fall also
einen „Wieder“aufbau ohne das Eingeständnis eigner Schuld, und ohne eine
wirkliche Umkehr in allen Gremien der Landeskirche. So war also Martin Niemöller,
einer der Mitverfasser der Stuttgarter Schulderklärung, mehrfach in der
Magnigemeinde zu Vorträgen zu Gast, sowie die Vertreter einer neueren Theologie
wie der Professor für Altes Testament Gerhard v. Rad u.a. Um die Gestaltung
der neu zu errichtenden Magnikirche gab es dann heftige Auseinandersetzungen.
Mit dieser Auffassung geriet Pfarrer Wicke in einen
grundsätzlichen Konflikt mit dem Stadtkirchenbauamt unter der Leitung von Dipl.
Ind. Dr. Friedrich Berndt, der für den Wiederaufbau auch einen Entwurf
vorlegte. Der Entwurf Berndts wurde aber von den drei Gutachtern, zu denen auch
Otto Bartning gehörte, abgelehnt. Das Gutachten schloss mit dem Satz
„Unzerstörtes soll erhalten, Zerstörtes nicht künstlich erneuert werden“.[29]
Auf Anregung der Gutachter beauftragte der selbstbewusste Kirchenvorstand den
Baurat Vogel aus Trier mit der Vorlage eines endgültigen Entwurfes.
Das Verhältnis zu den Dissidenten – Otto Bennemann
Die Zahl derer, die aus den Kirchen ausgetreten waren,
betrug 1939 bei 39.058 Personen 20,6 % der Stadtbevölkerung, sie fiel 1946 auf
16,8 % bei 30.606 Personen und stieg 1950 wieder auf 19,1 % bei 42.666
Braunschweigern. Es gab also keine „Rückkehrbewegung“. Die Austritte während
der nationalsozialistischen Zeit erwiesen sich als stabil. Sie waren also
generell nicht auf Druck der Partei erfolgt, die bei nachlassendem Druck
korrigiert wurden. Die Austritte hatten eine sehr viel längere Vorgeschichte,
die in die Überlegungen, wie man sich in Zukunft Kirche in der Stadt
vorstellte, einfließen mussten. Musste nicht der hohe Anteil von aus der
Kirche ausgetretenen Braunschweigern bedeuten, dass die Kirche auf einen
Alleinvertretungsanspruch für sittliche Werte verzichtete? Gab es nicht längst
eine ethische, beispielhafte Haltung jenseits von kirchlichen Bindungen? Wie
stellte man sich zueinander?
Diese 30.000 Braunschweiger hatten sich entweder vor 1933
als linke Dissidenten oder nach 1933 als „Gottgläubige“ registrieren lassen. Es
war nicht unerheblich, dass in der Nachkriegszeit in führenden SPD Positionen
der Braunschweiger Stadtverwaltung Dissidenten jener Zeit waren, die ein
schroff ablehnendes Verhältnis zur Landeskirche gepflegt hatten. Zu ihnen
gehörte Otto Bennemann, der 1948 Nachfolger von Ernst Böhme im Amt des
Oberbürgermeisters wurde.
Bennemann war Braunschweiger, 1903 in einer Arbeiterfamilie
in der heutigen Hugo Lutherstraße geboren, dort wuchs er in einer
Zweizimmerwohnung mit Eltern und weiteren vier Geschwistern auf. Er wurde
getauft und konfirmiert, trat mit 17 Jahren aus der Kirche aus und wurde wie
seine Eltern Mitglied des Freidenkerverbandes. Kirche war für ihn negativ
besetzt. Sie kam auch nicht als Traditionsinsel in seiner Biografie vor.[30]
Bennemann wurde Mitglied des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes und
hatte sich der Philosophie des Göttinger Leonhard Nelson angeschlossen, der
eine Ethik mit den Wurzeln in der Aufklärung und Immanuel Kant lehrte, mit
einem grundlegend positiven Menschenbild, wonach sich der Mensch aus eigener
geistiger Leistung zu Selbständigkeit und Toleranz erziehen könnte und diese in
der täglichen Verantwortung zu bewähren habe.[31]
In der Kriegsgefangenschaft hatte Bennemann das Miteinander von Sozialisten und
Christen kennen gelernt, und er öffnete sich besonders seit der Debatte im
niedersächsischen Landtag um die sog. christliche Grundschule 1954 für die
Interessen und Äußerungen der evangelischen Kirche. Die niedersächsischen
evangelischen Landeskirchen hatten sich anders als die katholische mit
Forderungen sehr zurückgehalten.
Die Propstei agierte damals unabgesprochen, aber in der
Praxis mit einer Doppelspitze: Neben Propst Otto Jürgens zog von der
Katharinenkirche als die andere Spitze der wendige und diplomatische Pfarrer
Siegfried Stange manche Fäden. Stange war unter den Jungen und Neuen der
führende theologische Kopf in der Stadtpfarrerschaft und hatte die
Katharinenkirche zielstrebig zu einem kirchlichen Zentrum ausgebaut, bereits
1949 ein Gemeinde- und Pfarrhaus an der Fallersleberstraße errichtet. Stange
war als Flüchtlingspfarrer von Pommern weit weg von den Grabenkämpfen zwischen
Sozialdemokraten und evangelischer Kirche, wie sie in den 20er Jahren in
Braunschweig gang und gäbe waren, die Bennemann jedoch hautnah miterlebt und
sein Kirchenbild geprägt hatte. Bennemann lernte in Gestalt von Stange die
Kirche von einer einladenden, geistvollen, toleranten, der Moderne zugewandten
Seite her kennen. „Das Verhältnis Otto Bennemanns zur evangelischen Kirche
hatte sich in der Mitte der 50er Jahre deutlich normalisiert“, stellte der
Biograf Grabenhorst fest. [32]
Der Kirche wurde der Raum einer Traditionsinsel zugestanden,
wie er sich bis heute im Stadtbild darstellt und von Richard Moderhak in der
Stadtgeschichte 1980 auch dokumentiert ist.[33]
Die Zäsur: das Jahr 1950
Es gab zwischen 1947 und 1950 viele Zäsuren: im Sommer 1948
die Einführung der DM, die Währungszäsur, 1949 die erste Bundestagswahl, erste
parlamentarische Bewegung des besetzten Westdeutschland, den Bundesparteitag
der CDU in Goslar, und den Beginn des Koreakrieges mit der furchtbaren Hoffnung
auf eine „Wieder“bewaffnung junger Deutscher und dem Krach im Kabinett Adenauer
mit dem Rücktritt von Innenminister Heinemann. Es geht in dieser Arbeit um
eine Zäsur in der Geschichte der Stadtkirchen. Es gab 1950 drei Einschnitte:
das Ende der Entnazifizierung für die Stadtpfarrer, der Höhepunkt der
Marienspur in der Dogmatisierung der leiblichen Himmelfahrt Marias und das
Bachjahr, drei ganz unterschiedliche Aspekte, mit denen ich die Darstellung
beschließe.
Ende der Entnazifizierung und der Beginn des Klaggesprozesses
Im Jahr 1950 wurde jenes Gesetz wirksam, nach dem alle von
der Entnazifizierungskommission als Mitläufer eingestuften Pfarrer und
kirchlichen Mitarbeiter als „entlastet“ galten. Sie wurden automatisch von der
Kategorie IV (Mitläufer) nach Kategorie V (entlastet) überführt. Damit war die
mehrjährige quälende und deprimierende Zeit der Stigmatisierung als Mitläufer
beendet. War sie auch ausgelöscht? Waren sie je Mitläufer gewesen? „Entlastet“
sollte ja heißen, dass die Verwobenheit und Verbundenheit mit Person und Werk
Hitlers beendet waren. Hatte überhaupt eine stattgefunden?
Überraschend kam die Frage nach dem Verhältnis zwischen
Kirche und Nationalsozialismus während des Prozesse gegen den ehemaligen
Ministerpräsident Dietrich Klagges öffentlich zur Sprache. Der Prozess in
Braunschweig dauerte vom 10. Januar bis zum 5. April 1950 und endete für den
Angeklagten mit lebenslänglicher Zuchthausstrafe wegen Verbrechen gegen die
Menschlichkeit.[34]
Es stand nicht die gesamte verbrecherische nationalsozialistische Zeit zur
Verhandlung, sondern die Verbrechen des Jahres 1933, insbesondere die Vorgänge
in der AOK, im Volksfreundehaus sowie die Riesebergmorde, also z.B. nicht die
Brandstiftung, Verwüstung und Raub in der Pogromnacht 1938, der Abtransport von
Braunschweiger Juden, die Einrichtung von Judenhäusern, das Schicksal von
Heinrich Jasper 1944. Belastendes Material war vor der Besetzung vernichtet
worden, Klagges stritt hartnäckig alles ab und die nazisympathisierende
Verteidigung nutzte alle Formen einer rechtsstaatlichen Verhandlungsform aus,
die Klagges zu Dienstzeiten verschmäht hatte. Klagges bewegte sich ím
Schwurgerichtssaal zeitweise unter zahlreichen Sympathisanten, vor denen er
Propagandareden hielt. War Hitler tot?
Die 318 Zeugen waren fast ausschließlich Zeugen der Anklage
und berichteten von den Schreckenstaten des Jahres 1933. Spätestens seit diesem
Frühjahr 1950 konnte jeder Braunschweiger Bescheid wissen, was tatsächlich
passiert war. Zu den Belastungszeugen gehörte auch der Gr. Stöckheimer Pfarrer
Georg Seebaß, der von den terroristischen Umständen bei der sog.
„Überholungsaktion“ in seinem Dorf berichtete. Unter den Entlastungszeugen, die
Klagges benannt hatte, und der auch am 32. Verhandlungstag, dem 13. März, vor
Gericht erschien, war der frühere Braunschweiger Propst Hans Leistikow,
inzwischen Pfarrer an der Marienkirche in Wolfenbüttel. Er sollte sich zur
Person des Angeklagten äußern. Leistikow berichtete, dass er Klagges am
Volkstrauertag 1933 kennen gelernt hatte. Klagges habe ihn wenige Tage später
angerufen und eingeladen. „Ich entsinne mich heute noch mit Freude dieser
Unterredung und mit eben solcher Freude an Klagges’ Satz, die Synthese
zwischen Christentum und Deutschtum braucht nicht gesucht zu werden, sie hat
von Anfang an bestanden.“ Auf die Frage, ob er Klagges die Verbrechen zutraute,
die ihm zur Last gelegt werden, erwiderte Leistikow: „Auf Grund seiner
christlichen Einstellung halte ich es für ausgeschlossen, dass er zu Gewalttaten
neigte.“ [35]
Die Staatsanwaltschaft verzichtete darauf, den früheren Braunschweiger Propst
nach der Rolle von Klagges beim Umbau des Domes zu befragen, nach seinem
Eintreten für Beye und die Deutschen Christen, nach der Inhaftierung von
kirchlichen Mitarbeiterinnen und Pfarrern. Sie ließ diesen Entlastungszeugen
gehen und spottete bei ihrem Schlussplädoyer, ein guter Christ sei Klagges auch
nicht gewesen, selbst wenn er mit einem Kirchenrat diskutierte. Die christliche
Lehre der Humanität sei Klagges ein fremder Begriff gewesen.[36]
Was war passiert? Der Zeuge Leistikow war bei dem geblieben, was er am 1.
Advent 1940 allen Kirchenvorstehern und kirchlichen Mitarbeitern in der
Magnikirche erzählt hatte, wo er auch jenes Zitat aus einem Geschichtsbuch von
Klagges erwähnt hatte. Es war die klassische Position der kirchlichen Mitte,
der die große Mehrheit der evangelischen Pfarrerschaft in Deutschland und auch
in der Stadt Braunschweig zugestimmt hatte. Leistikow war nicht so unanständig
gewesen, diese Position nach 1945 als „Widerstand“ ausgegeben. Das war
kirchenpolitisch entlarvend, hatte aber keine Folgen für Leistikow an seiner
neuen, hervorgehobenen Pfarrstelle an der Wolfenbüttler Hauptkirche.
Die Zeugenaussage löste in linken Kreisen helle Empörung
aus. „Treten Sie ab, Herr Kirchenrat Leistikow!“ kommentierte die
Braunschweiger Presse dreispaltig die Zeugenaussage.[37]
Als Pfarrer der Martin Luther Gemeinde habe Leistikow unter seinem Talar auch
die SA Uniform getragen und mit der SA Schützengräben ausgehoben. Man müsse von
der Kirche auch politische Verantwortung erwarten. Die habe Leistikow
versäumt. „Wer für Klagges eintritt und Klagges heute noch „mit Freuden“
zitiert, der hat aus dem Schicksal des deutschen Volkes nichts gelernt und
will das grausige Spiel von neuem beginnen.“ Der Kommentar zitierte als
beispielhafte Äußerung einige Sätze aus der Erklärung des Bruderrates zum
politischen Weg unseres Volkes. „Wir haben die christliche Freiheit
verraten..Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur
absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen“.
Die Zeugenaussage Leistikows musste umgehend
zurechtgerückt werden. Dazu war jedoch kein Mitglied der Kirchenregierung oder
des Kollegiums des Landeskirchenamtes bereit. Sie hatten ja alle seinerzeit
diese Position der Mitte eingenommen. Nicht so der Herausgeber des Volksblattes
Reinhard Herdieckerhoff, der Leistikow aus dieser Zeit genau kannte und auch
schätzte. Er veröffentlichte einen Kommentar, der Leistikow nicht bloßstellte,
aber sich energisch gegen Klagges wandte und für eine harte Bestrafung eintrat.
Die Kirche könne nur wünschen, dass die Verbrechen gesühnt werden. [38]
Mit dieser Erklärung gab sich die Braunschweiger Presse
zufrieden und berichtete unter der Überschrift „Die Kirche distanziert sich von
Klagges,“ die ganze Bevölkerung Braunschweigs stimme der Erklärung zu, dass die
Verbrechen gesühnt werden müßten.[39]
Das Mariendogma Dezember 1950 [40]
Das Umfeld der neuen Propsteikirche
Ägidien hatte sich geweitet. 1949 fand erstmals in Ägidien eine Priesterweihe
statt. Der Fronleichnamszug 1949 führte erstmals von dem Grundstück der
Nikolaigemeinde durch die weithin trümmerleergeräumten Straßen der Innenstadt
zur Ägidienkirche. 5000 Besucher nahmen an dieser Aussetzung des
Allerheiligsten teil, die auch den Charakter einer liturgischen Demo hatte.
Propst Stuke vermerkte eine „zunehmende Zahl von Konversionen, die mehr als
früher aus geachteten evangelischen Kreisen kommen“.[41]
In diesem Jahr erschien die erste Ausgabe eines katholischen Mitteilungsblattes
für die Braunschweiger Kirchengemeinden. Schon seit 1945 war eine katholische
Hochschulgemeinde gegründet worden, und es wurde genugtuend beobachtet, dass
zwei Dekane und ein Rektor (Egbert Harbert und v. Bruchhausen, Paul Koeßler,)
katholischer Konfession waren.[42]
Das war eine Form von Kirchenpolitik, die in die Traumrichtung
„christ-katholisches Braunschweig“ tendieren mochte, was der evangelischen
Propstei eher fremd war.
Zu einer Störung des sich anbahnenden,
gegenseitigen respektierenden Umgangs kam es Ende 1950.
Die Marienfrömmigkeit hatte im letzten
Jahrhundert immer mehr zugenommen. Am 8.12.1854 hatte Pius IX. das Dogma von
der unbefleckten Empfängnis Marias verkündet, Pius XI. hatte im Dezember 1931
das Fest der Mutterschaft der allerseligsten Jungfrau Maria angekündigt und
1932 eingeführt. Damit sollte das vorbildliche Familienleben gewürdigt werden.
Im Dezember 1933 wurde Sobirous Bernadette heilig gesprochen, der in Lourdes
Maria erschienen war. Das Heilige Jahr 1933 war zugleich als ein Jahr der Maria
begangen worden. Pius XII galt als ein Verehrer der Erscheinungen Marias im
portugiesischen Fatima, die 1932 von Pius XI die kirchliche Bestätigung
(„Approbation) erhalten hatte.1940 weihte Bischof Machens das Bistum der Maria,
die in den folgenden Jahren wiederholt wurde. Am 8. Dezember 1942 weihte Papst
Pius XII. die ganze Menschheit dem Unbefleckten Herzen Marias. (Kapitel 28)
Die Marienverehrung bot dem Gläubigen
einen gedanklichen und religiösen Zufluchtsort, der in schwerer Zeit besonders
gerne angerufen, verehrt und aufgesucht wurde. Sie bot ihm auch ein hilfreiches
Vergessen und Verschließen von und vor dem Elend der Zeit. Da die Frömmigkeit
an einem unverwüstlichen Ort nistet, ist sie unausrottbar und vor Kritik
sicher. Daher waren die letzten Kriegsjahre Zeiten einer sich vertiefender
Marienfrömmigkeit gewesen.
Die Krisensituation in der Welt hatte sich
gegenüber 1944/45 noch gesteigert. Mit dem Atombombenabwurf August 1945 war die
Welt in das „atomare Zeitalter“ eingetreten. Die Siegermächte richteten nach
ihrem Sieg über den Nationalsozialismus ihr übergroßes Waffenarsenal
gegeneinander. Nach dem Irrsinn des 2. Weltkrieges mit seinen 50 Millionen
Toten drohte ein dritter. Die Grenze zwischen Ost und West ging durch Europa
und das ehemalige Deutschland. 1946 fragte Pius XII die Bischöfe in aller Welt,
was sie von einem Dogma über die Himmelfahrt Marias hielten. „Fast“ alle
antworteten zustimmend. Unbekannt sind die Bischöfe der Nein-Stimmen. 1950
wurde in Korea aus dem Kalten Krieg ein heißer. In dieser furchtbaren
Konstellation, in der Mitteleuropa im Ernstfall unterzugehen drohte, rief Papst
Pius XII im Dezember 1950 das Fest der leiblichen Himmelfahrt Marias aus. Das
war ein Akt aus allerhöchster Verunsicherung über die Weltlage.
Theologisch und frömmigkeitsgeschichtlich
bedeutete das Dogma von der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel nichts
Neues. Zu den vielen Attributen Marias gehört nämlich seit Jahrhunderten das
der Himmelskönigin und der in den Himmel aufgenommenen Gottesmutter. Die
Himmelfahrt war Bestandteil des Rosenkranzgebetes. Dieser Glaube entsprach
daher einer weitverbreiteten Marienfrömmigkeit, begangen als Maiandacht, im
Oktober als Rosenkranzmonat und an fünf hohen Marienfesten.[43]
Es gab sogar im Sommer ein seit langem
viel gefeiertes Fest der Himmelfahrt Marias. Liturgisch bot das Dogma keine
neuen Erkenntnisse. Darauf verwiesen beschwichtigend die deutschen Bischöfe.[44]
Das Neue war, dass der alte Glaube durch die Dogmatisierung eine besondere,
letzte Gewissheit bekam. Sie war eine „einzigartige Auszeichnung“. „Der Eingang
in die Osterherrlichkeit Christi wird ihr jetzt schon geschenkt.“ „Sie sollte
nicht die Verwesung schauen, sondern Auferstehung und Himmelsglorie mit ihm
genießen als Mutter, als Gnadenerfüllte über alle Engel und Heilige“. Maria war
also diesmal nicht die Schenkende, Bewahrende, sondern der Stellvertreter
Christi zeichnete sie aus, was Pius XII dann am Allerheiligentag 1950 mit der
vatikanischen außerordentlichen Prachtentfaltung feierlich ex cathedra
verkündete und der Gottesmutter mitteilte: „Die unbefleckte, immerwährende,
jungfräuliche Gottesmutter Maria ist, nachdem sie ihren irdischen Lebenslauf
vollendet hatte, mit Leib und Seele zur himmlischen Herrlichkeit aufgenommen
worden.“[45]
Es war das erste Mal, dass ein Papst von
der ihm von der katholischen Kirche zugesprochenen Vollmacht der Unfehlbarkeit
in Dogmenfragen Gebrauch machte.
Geradezu rührend war der Versuch des
Bistumsblattes, dem für protestantisch gehaltenen Braunschweig das Dogma
schmackhaft zu machen. Schon der regionale Literaturheilige Wilhelm Raabe habe
nämlich dem Dogma Glauben geschenkt und eine Literaturlegende hinzugefügt. Die
glitzernden Fäden des Altweibersommers stammten von dem Kleid der nach oben
entschwebenden Maria. [46]
Es war auffällig, dass sich die Lutherische
Bischofskonferenz schon fünf Tage später zu diesem innerkirchlichen
katholischen Vorgang äußerte und eine Stellungnahme durch den bayrischen
Bischof Meiser in einem Festgottesdienst in Erinnerung an den Reformationstag
verlesen ließ.[47]
Er nannte das Dogma „verhängnisvoll“ und „schmerzlich“. Die Legende von der
Himmelfahrt Marias sei erst im 5. nachchristlichen Jahrhundert entstanden, habe
keinen Grund in der Bibel und sei im Blick auf das interkonfessionelle Verhältnis
schmerzlich. „Durch den Kampf wider die gottfeindlichen Mächte, der in dieser
dem Ende zueilenden Zeit in letzter Schärfe entbrannt ist, waren die
christlichen Kirchen in einer Weise einander zugewandt, dass ihre Glieder das
Gefühl der Fremdheit und der polemischen Erstarrung gegeneinander verloren und
aufeinander zu hören und voneinander zu lernen bereit wurden. Voraussetzung
dieser Annäherung war die Anerkenntnis, dass das Zeugnis der Apostel die
Grundlage der kirchlichen Lehre sein müsste.“ Diese Grundlage sei verlassen.
Die Stellungnahme ging von einem durch die militärische Konfrontation der
Siegermächte in einem atomaren Zeitalter herbeigeführten Gefühl vom „Ende der
Zeit“ aus, in dem sich die Kirchen näher kämen; außerdem von der Einbildung
einer Gemeinsamkeit im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Diese hatte es nie
und wenn dann nur in Einzelfällen gegeben. Wenn mit „gottfeindlichen Mächten“
der Bolschewismus gemeint sein sollte, so hatte es bis 1950 auch dagegen keine
gemeinsame Front gegeben, auch nicht in der damaligen Ostzone. Eine Annäherung
im Sinne von besserem Kennenlernen hatte es erst durch die Anwendung der
historisch-kritischen Methode bei der Auslegung der neutestamentlichen Texte
gegeben und durch das 2. Vatikanische Konzil. Während aus der Sicht der
katholischen Volksfrömmigkeit das Dogma keine Zäsur darstelle, sondern einen
Höhepunkt, war für die lutherischen Bischöfe das Dogma eine Zäsur im
Aufeinanderzugehen der beiden Kirchen. Nunmehr verabschiedeten sich die
lutherischen Bischöfe öffentlich von interkonfessionellen Hoffnungen. Sie
wurden erst wieder entfacht, als Papst Johannes XXIII evangelische Beobachter
zum 2. Vatikanischen Konzil einlud.
Bischof Machens veranstaltete am
Bernwardstag, dem 19. November 1950, ein Pontifikalamt als Dankfeier für die
Dogmatisierung der Himmelfahrt Marias. Die katholischen Bischöfe ließen die
Erklärung der lutherischen Bischofe nicht auf sich sitzen, sondern erwiderten:
„Der Papst dogmatisiert keine Legenden“, und bekräftigten ihren festen Platz in
der volkstümlichen Marienfrömmigkeit mit dem Gebet des Papstes: „Und wir, die
wir dich als unsre Mutter anrufen, wir machen dich, wie einst Johannes, zur
Führerin, Kraft und Trösterin unseres irdischen Lebens“.[48]
Ein besonderes Echo in den Braunschweiger Gemeinden konnte
ich nicht feststellen. Die Regionalpresse berichtete lediglich von
Dogmatisierungsfeiern in Kanada, Südamerika, Israel und Spanien.[49]
Dort bedeutete die Dogmatisierung einen neuen Frömmigkeitsschub, auch in
Richtung eines marianischen Fundamentalismus.[50]
Das Echo bei den katholischen Intellektuellen in Westdeutschland war eher
kühl. Ein kontroverstheologischer Dialog über Maria begann erst ein Jahrzehn
nach dem 2. Vatikanischen Konzil.[51]
Ein schönes Zeugnis für lebendige Marienfrömmigkeit stellen
die acht Glasfenster im Seitenschiff der St. Laurentiuskirche heute dar, die
Motive der Lauretanischen Litanei aufnehmen, die Maria besingt als „Königin der
Engel“, „goldenes Haus“, „Arche des Bundes“, „Morgenstern“, „Turm Davids“,
„mystische Rose“, „Spiegel der Gerechtigkeit“, „Sitz der Weisheit“.
Das Bachjahr 1950
Zur Zeit, als das Schwurgericht über Klagges’ Untaten
verhandelte, beging die Stadt Braunschweig bis zum Jahresende „das Bachjahr
1950“. Die kirchlich noch ungeteilte evangelische Kirche in der Bundesrepublik
und in der Ostzone, wie man damals sagte, feierte ausgiebig anlässlich seines
200. Todestages das Gedenken an das musikalische Werk von J.S. Bach. Auch die
Stadt Braunschweig gab Bach die Ehre. Chor und Orchester des Staatstheaters
führten in der Jakobikirche am 2. und 3. April die Matthäuspassion auf. Der
Barockmusik eher ungewohnte Konzertchor des Staatstheaters stemmte die
musikalischen Ansprüche, die das doppelchörige Werk stellt, nicht allein und
holte sich zur Unterstützung den Domchor. Ellinor v.d.Heyde-Dohrn lästerte, das
Orchester habe keine große Begeisterung zu dieser Aufführung gehabt.[52]
Willi Sonnen führte in der Paulikirche mit seinem Oratorienchor die
Johannespassion auf.[53]
Das Bachjahr war am 21. Januar im Dom feierlich eröffnet worden. Landesbischof
Erdmann hielt eine Ansprache[54]
und der Domchor sang die Bachmotetten „Jesu meine Freude“ und „Singet dem Herrn
ein neues Lied.“ [55]
Der Journalist der den kirchlichen Ereignissen nicht gerade nahe stehenden
Braunschweiger Presse war fasziniert. Er notierte: „Schlicht und schmucklos bot
sich der Dom dar, als er am Sonntagabend seine Pforten öffnete, um die Besucher
einzulassen, die gekommen waren, an der „Feierlichen Eröffnung des Bachjahres“
teilzunehmen. Dennoch bekam die Stunde ein festliches Gepräge. Nicht durch
äußeren Zierrat, sondern durch die Anteilnahme einer nach Hunderten zählenden
Besuchermenge. Dicht gedrängt saßen die Menschen an den Stuhl- und Bankreihen,
lehnten an den Pfeilern oder standen in den Gängen, frei aufgerichtet und doch
in sich versunken. Diese Bachfeier war nicht die Angelegenheit besonders
interessierter Musikfreunde oder Kirchgänger. Sie schien im schönsten Sinne
Anliegen aller Menschen aus den verschiedensten Kreisen unserer Stadt zu sein,
die sich einen Sinn für das Große, Schöne, Gute und Echte bewahrt haben, die
bereit waren, das aufzunehmen, was ihnen gesungen und gesagt werden sollte und
trotz der Kälte anderthalb Stunden ausharrten.“ [56]
Bach vereinte Kirchentreue und Kirchenfremde.
Das Bachjahr war für Dr. Ellinor v.d. Heyde-Dohrn ein
Höhepunkt einer schon 1946
begonnenen Chor- und Probenarbeit. Sie schreibt davon in
ihren Erinnerungen: „Gleich nach Kriegsende wurde ich an den Dom St. Blasii
berufen. Da der Dom während der Nazizeit der Kirche entzogen und zum Staatsdom
erklärt worden war, fand ich dort in jeder Hinsicht tabula rasa vor und musste
von vorn anfangen. Da bedeutete es ein Glücksfall, dass die „Sing- und
Spielgemeinde St. Petri“ unter dem neuen Namen Domchor mir dorthin folgte und
die Domorgel noch notdürftig zum Klingen bringen war. Diese schweren
Nachkriegsjahre sind die schönste Zeit meiner kirchenmusikalischen Tätigkeit
gewesen! Keine äußere Unbill in dem fensterlosen Gotteshause konnte die
Menschen abhalten, zum Mitmusizieren und Hören herbeizuströmen. Was bedeutete
es da, dass es meine ganze Kraft verschlang, die äußeren Schwierigkeiten zu
überwinden und den Ausgehungerten immer wieder Stoff herbeizuschaffen, an dem
sich die Begeisterung entzünden konnte.“ [57]
v.d.Heyde-Dohrn hatte mit der ihr eigenen Energie unter
unsäglichen äußeren Bedingungen einen Kreis musikbegeisterter junger Leute um
sich gesammelt und mit eiserner Probendisziplin einen Domchor geschaffen, der
für das nächste Jahrzehnt nicht nur am Dom, sondern für die Stadt musikalische
Höhepunkte bildete. Die Probenumstände waren verheerend.[58]
Es gab keine Noten und Frau Hartwieg, deren Mann, Oberlandesgerichtsrat und
vorzüglicher Violinist, schon seit langem mit Ellinor Dohrn musiziert hatte,
schrieb Tag und Nacht Noten für den Chor und das Orchester ab. Geprobt wurde in
der kalten Zeit im Heizungskeller des Domes.
Schon 1946 hatte sie im Dom die Matthäuspassion von Heinrich
Schütz aufgeführt, die sie bereits acht Jahre zuvor in der Petrikirche
musiziert hatte und erhielt wieder wie damals enthusiastische Kritiken. Im
nächsten Jahr sang der Domchor die fünfstimmige Distlersche Choralpassion.
„Unser größtes Erlebnis der Nachkriegszeit war ohne Zweifel die Aufführung der
Choralpassion (a capella) von Hugo Distler am Karfreitag 1947 im Dom. Ich hatte
dieses Werk bewusst gewählt. Eine der Bachschen Passionen hätte in ihrer
ästhetischen Schönheit, aber auch mit ihrem enormen äußeren Aufwand unserer
damaligen Armut und Kargheit nicht entsprochen. Dieses strenge, herbe, z.T. hoch
dramatische, z.T. meditative Werk in zeitgenössischer Sprache hat den Chor und
die Gemeinde unheimlich gepackt und erschüttert, -- es war wirklich eine
„Sternstunde“ für uns alle, noch heute bei Vielen unvergessen.“[59]
Von der Aufführung im Jahr 1949 schrieb der Rezensent der Braunschweiger
Zeitung, der Domchor vermittele der gläubigen Gemeinde „eine Stunde religiösen
Versenkens“, aber lasse den Hörer „künstlerisches Neuland schauen – eine
Tatsache, die angesichts des im Herkömmlichen erstarrten Konzertwesens
besonders anerkannt und nachdrücklich gewürdigt werden muss.“[60]
In diesem Jahr 1949 erklangen am Dienstag nach Pfingsten in der Riddagshäuser
Klosterkirche die Bachkantaten Nr.45 „Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist“
und Nr. 79 „Gott der Herr ist Sonne und Schild“.
Im Bachjahr 1950 musizierte v.d. Heyde-Dohrn vierzehntägig
abwechselnd Orgelkonzerte und Chormusik, darunter sieben Bachkantaten[61]
und ab Oktober Sätze aus der h-moll Messe. Jedes Konzert, auch die
Orgelkonzerte wurden im Feuilleton der Lokalpresse ausführlich und sachkundig
gewürdigt. Das war ein herausragender Dienst für die Verkündigung und die Kunst
in der Nachkriegeszeit. Höhepunkt des Bachjahres war die in Braunschweig seit
Generationen nicht gehörte h- moll Messe Bachs am Totensonntag, dem 28.
November. Es „darf seiner (des Domchors) Wiedergabe der Messe am Totensonntag
das Lob des Außerordentlichen zuerkannt werden. Es sei Dr. Ellinor v.d. Heyde
Dohrn zu danken, „dass die Wiedergabe der Messe auf der Grundlage gültiger
Werkdeutung erfolgte...Der wieder vom Baugerüst befreite Dom sah eine große
andächtige Hörergemeinde. Ihr wurde ein Erlebnis vermittelt, das Gottesdienst
und Kunstereignis zugleich war“.[62]
Mit ihren Aufführungen erreichte Dr. v.d. Heyde-Dohrn auch die
kirchendistanzierten Braunschweiger. „Einkehr und Sammlung“ war ein Beitrag der
Braunschweiger Presse vom 2.11.1950 überschrieben, der die Stimmung auffing:
„Immer wieder üben die Abendmusiken im Dom eine besondere, tiefe Wirkung aus,
die auch demjenigen, dem unmittelbares religiöses Empfinden vielleicht schon
fremd geworden ist, Augenblicke der Einkehr und Sammlung – letzten Endes der
Sinn aller Religion – zu schenken vermögen. Es beginnt eigentlich schon
draußen, vor dem Gotteshaus, wenn man, das Gewühl der Strassen hinter sich
lassend, in die Abgeschlossenheit des Burgplatzes kommt. Es setzt sich fort in
der hohen Feierlichkeit der Kirche, deren Bogen und Gewölbe im Halbdunkel wie
ins Unendliche zu verfließen scheinen. Und es findet seine Krönung im Geiste
und Klange der Musik Johann Sebastian Bachs, in der das Letzte und Gültige
ausgesagt wird.“
Aber das Bachjahr bedeutete keineswegs eine einseitige
Ausrichtung auf die Barockzeit. Der Domchor beteiligte sich an der von der
Stadt veranstalteten Konzertreihe „Festliche Tage neuer Kammermusik“ und
eröffnete die Reihe am 14. November 1950 im Dom mit Werken von Hindemith,
Driessler, Distler, Johann Nepomuk David und Ernst Pepping für Chor, Orgel und
Violincello und Chorwerken.
Die Besichtigung der versunkenen Stadt ist beendet. Wir
tauchen auf. Wo sind wir?
Wo waren wir?
Auf welchem historischen Boden arbeitet die Landeskirche
heute?
[1]
Friedhelm Boll Hungerstreiks und Jugendunruhen
1947/48 in: Schicht-Protest-Revolution in Braunschweig 1292 bis 1947/48
Braunschweiger Werkstücke 89 Braunschweig 1995 S.197 ff ; Susanne Fresdorf
Wirtschaftliche und soziale Not in der Nachkriegszeit“ in ihrem Aufsatz
„Vereinzelt sind wir nichts, nur vereint sind wir stark“ in Blick zurück nach
vorn Die Geschichte der Gewerkschaft Öffentliche Transporte Braunschweig 2002
S. 69 ff
[2]
Verwaltungsbericht für die Stadt Braunschweig 1946/47 S. 134
[3]
Pfarrarchiv Kirchengemeinde St. Georg Kirchenchronik St. Georg
[4]
Verwaltungsberichte für die Stadt Braunschweig 1946/47 Braunschweig 1948 S. 5-7
[5]
dazu die Analyse von Friedhelm Boll „Hungerstreik und Jugendunruhen 1947/48“
[7]
Pfarrer Bosse in der Kirchenchronik St. Georg
o.S. unter 1947
[8]
Wolfgang Juenke „Die Gründungssituation des Stadtkirchenbauamtes“ in: 50 Jahre
Stadtkirchenbauamt Braunschweig 1996 S. 6.
[9]
Pfasrrarchiv St. Katharinen handschrifliche Kirchenchronik Katharinen S. 4 f
[10]
die amtliche Schadensstatistik lautete: total zerstört: Magnikirche, schwer
beschädigt: St. Ulrici, Andreas, Petri,. Katharinen, Georg,. Johannis,
Paulikirche. Weniger schwer beschädigt: Dom, Klosterkirche Riddagshausen,
Jakobi, Martin Luther. Leicht beschädigt: Michaelis, Kreuzkirche Lehndorf,
Dorfkirche Querum, Garnisonkirche. Unbeschädigt: Mascherode und Rühme, Wichernkirche
und die Hauptfriedhofskapelle. bei Juenke 5
[11]
Dazu umfassend Wolfgang Jünke „Zerstörte Kunst aus Braunschweigs Gotteshäusern
– Innenstadtkirchen und Kapellen vor und nach 1944“ Braunschweig 1994
[12]
Berndt (1903-1983) Oberregierungsrat, ab 1946 Stadtkirchenbaurat, 1952
Oberlandeskirchenrat BBL 54 f; auch Ergänzungsband BStl 20
[13]
Manuskript des Vortrags im Pfarrarchiv St. Petri Nr. 464. Pfarrer Wilfried
Theilemann berichtet, dass auch der Plan bestanden habe, die Petrikirche
abzureißen und am Amalienplatz eine neue Kirche zu errichten. Daher habe sich
der Wiederaufbau zeitlich so verzögert (mündliche Mitteilung W. Theilemann).
[14]
Manuskript des Vortrages von ca 1950 im Pfarrarchiv St. Petri Nr. 465
[15] Bomben auf St. Martini 14./15. Oktober Augenzeugen
berichten o.D.
[16]
Am Martinstag November 1956 zog die
Martinigemeinde aus dem Gemeinderaum im Pfarrhaus wieder in ihre Kirche. In
diesem Monat erschien im Braunschweiger Volksblatt ein Artikel unter der
Überschrift „Wir müssen uns unter die Schuld des Volkes stellen.“ Das deutsche
Volk habe sich mit seiner Schuld nicht auseinandersgesetzt, sie verdrängt und
im Gegenteil aufgerechnet. Das würde sich rächen.
Am Reformationstag 1959 zog die Petrigemeinde aus dem
Jakobigemeindesaal in die Petrikirche. In seiner Festpredigt ging Propst Otto
Jürgens auf die „vielleicht hier und da auftauchende Frage, warum wurde diese
Kirche wieder aufgebaut?“ ein, und gab folgende Antwort: „Es war eine Pflicht,
das von den Vätern überkommene Erbe zu wahren; die Petrigemeinde brauchte
wieder eine eigene Stätte für ihren Gottesdienst; für die Stadt war eine
weitere Stätte der Anbetung nötig
SONNTAG 15.11.1959
[18]
Kommunalpolitische Schriften der Stadt Braunschweig Heft 4 Johannes Göderitz
Braunschweig Zerstörung und Aufbau Braunschweig 1949
[20]
Max Witte (1909-1955) Pfarrer in Wahle (1938-1942), 1942-1955 in Ulrici
[21]
Dietrich Kuessner Das Braunschweigische Gesangbuch Wolfenbüttel 2007 S. 149,
[22]
Heinz Chilla (1914-1971) ab 1945 Vertretungen in der Stadt, 1954- 1971
Querum.
[23]
Ernst Froese (1899-1992) Gemeinden im früheren Ostpreußen Pröbbernau, Stenken,
Peterswalde), 1946-1969 in Riddagshausen, 1969 emeritiert
[24]
Martin Pahl (1909-1990) Pfarrer in Mrotschen, 1947 in Rühme bis 1974; 1974
emeritiert.
[25]
Gotthard Gläser (1902 - 1978) 1931-1939 in Langheinersdorf, 1945-1947
Bredstedt, 1948-1968 in St. Andreaskirche, 1968 emeritiert.
[26]
Paul Finck (1899-1968) 1932-1945 Trebitsch/Neumark, 1949-1951 in St. Georg,
1951-1968 Dankeskirche.
[27]
Helmut Wielgoß (1912-1999) Pfarramt in Treuburg/Ostpr., 1947-1949 Schlewecke;
1949-1957 Studentenpfarramt, 1957 – Salzgitter-Lebenstedt (Martin
Lutherkirche).
[28]
Hellmut Lieberg (1926-1972) 1951-52 Hilfsprediger in Ulrici, 1955-1960
Saalsdorf, 1960-1972 Ulrici
[29]
LAW OA Magni 31 Gutachten vom 19.6.1954
[30]
nach Carsten Grabenhorst Otto Bennemann Braunschweig 1991.
[33]
Richard Moderhak „Abriss der Braunschweiger Stadtgeschichte“ in: Brunswiek 1031
Braunschweig 1981 Braunschweig 1981 S. 50 f
[34]
Werner Sohn Nachkriegsprozesse 133 ff
[35]
alle Zitate nach BP 14.3.1950
[38]
„Zum Klaggesprozeß“ in Braunschweigisches Volksblatt 26.3.1950
„.. Unter den wenigen Zeugen,
die für Klagges eingetreten sind, befand sich auch ein Pfarrer der Landeskirche,
der deswegen in der Presse heftig angegriffen wurde. Es ist selbstverständlich,
dass jeder Zeuge, also auch ein Pfarrer vor Gericht die Pflicht und daher auch
das Recht hat, so auszusagen, wie er es für richtig hält. Das Gericht muss
natürlich dieselbe Freiheit haben in Bezug auf die Wertung der positiven oder
negativen Zeugenaussagen. Wir möchten nur folgendes zu dem ganzen Prozess
sagen:
Wer die Zeugenaussagen in der Presse verfolgt hat, muss
auch heute noch erschrecken über den Umfang der Quälereien, die damals an z.T.
völlig unschuldigen Menschen verübt worden sind.. Die Kirche kann nur wünschen,
dass die Verbrechen gesühnt werden.
Eine besonders schwere Schuld
hat die damalige Staatsführung zweifellos auch dadurch auf sich genommen, dass sie
die Wahrheit unterdrückt hat. Hätte man sie damals schon unverhüllt erfahren,
so würde das dazu beigetragen haben, den Nationalsozialismus rechtzeitig so zu
sehen, wie er sich später entpuppt hat.
Als Christen sehen wir
ferner eine schwere Schuld darin, dass einige Nationalsozialisten, darunter
auch Klagges mitgeholfen haben, unser Volk solange in bezug auf das „positive
Christentum“ der Partei zu täuschen. Es ist später nur allzu deutlich
hervorgetreten, wie dieser Programmpunkt vom „positiven Christentum“ gemeint
war. Es wäre für den Nationalsozialismus und für die ganze christliche Welt
besser gewesen, wenn von Anfang an auch in diesem Punkt die Wahrheit gesagt
worden wäre. Hinter den Proklamationen eines Deutschen Christentums konnte sich
nur allzu lange die brutale Antichristlichkeit verbergen“.
Herdieckerhoff versuchte, Leistikow als Zeugen glimpflich
davonkommen zu lassen. Er distanzierte sich zwar von den Verbrechen Klagges’
und fordert eine harte Bestrafung, aber er verschwieg die Erwähnung von Propst
Rauls im Prozess und relativierte den von Anfang an untragbaren Charakter des §
24 des ns. Parteiprogramm vom „positiven Christentum.“ Es gibt mehrere
Braunschweiger Pfarrer, die gerade wegen dieses Paragrafen den
Nationalsozialismus schon 1931 abgelehnt haben. Von einer Täuschung, wie
Herdieckerhoff meinte, kann also keine Rede sein.
[40]
Handbuch der Kirchengeschichte Herder 1985 Bd VII Marienverehrung und
Mariologie 320 ff; Handbuch der Marienkunde (Hg Wolfgang Beinert und Heinrich
Petri) Bd 1 Theologische Grundlegung Regensburg 1996 und Bd 2 Gestaltetes
Zeugnis Regensburg 1996 (2. Aufl.)
[41]
BAH Kirchenchronik Ägidien o.S.
[42]
Paul Koesler war 1947-1950 Prorektor und 1950-1952 Rektor der TU, Friedrich v.
Bruchhausen 1944-1947 Dekan der naturwissenschaftlicher Fakultät, Egbert
Harbert 1946-1947 Dekan der Fakultät für Bauwesen. Stuke sprach irrtümlich von
drei Rektoren, die katholisch seien.
[43]
Die vorkonziliaren Marienfeste sind: 2..Februar Mariä Lichtmess, 25. März
Heimsuchung Marias, 15. August Marias Himmelfahrt; 8.September Maria Geburt,
8. Dezember Fest der Unbefleckten Empfängnis. Der 2. Februar und der 25. März
sind nach dem 2. Vatikanischen Konzil zu Herrenfesten verändert worden.
[44]
Hirtenbrief der deutschen Bischöfe zur Dogmatisierung der himmelfahrt Mariens
Katholisches Kirchenblatt 29.10.1950. Die Bischöfe erinnern, „dass in unserer
Kirche seit mehr als einem Jahrtausend das uralte Fest Mariae Himmelfahrt neben
dem Eingang der gnadenerfüllten Seele der Gottesmutter in das ewige selige
Leben Gottes und die Aufnahme ihres verklärten Leibes in des Himmels
Herrlichkeit von unseren Kanzeln verkündigt, in der hl. Liturgie gefeiert und
von uns allen freudig bejaht ist.“
[45]
Katholisches Kirchenblatt 12.11.1950
[46]
Katholisches Kirchenblatt 29.10.1950
[47]
Kirchliches Jahrbuch 1950 S. 59 ff
[48]
Katholisches Kirchenblatt 19.11.1950
[50]
Handbuch der Marienkunde Bd 2 S. 102 ff Gründe für den marianischen
Fundamentalismus
[51]
z.B. Klaus Riesenhuber „Maria im theologischen Verständnis von Karl Barth und
Karl Rahner“ Freiburg 1973. „In ökumenischer Hinsicht konnten nämlich nicht nur
eine Reihe von Missverständnissen katholischer Mariologie ausgeräumt. sondern
mit Rahner positiv auch eine Deutung der Gestalt Marias grundgelegt werden, die
in ihrer biblischen Fundierung wie in ihrem expliziten systematischen Inhalt
protestantischen Ansätzen des Verständnisses Marias weithin entspricht und von
einer protestantischer Grundposition aus wie etwa der Barths, nachvollziehbar
und prinzipiell anerkennbar sein dürfte. So ließe sich erhoffen, daß sich die
christlichen Kirchen, falls es zu einem mehr oder minder offiziellen
ökumenischen Dialog kommen sollte, auf eine marianische Kurzformel in der Art
der von Rahner entwickelten einigen können .“ S. 117 f. Siehe auch Handbuch der
Marienkunde I, Themen und Probleme eines möglichen ökumenischen Gesprächs über
Maria S. 415 ff
[52]
Gotthardt Schmidtke in der BZ 4.4.1950 verwies auf die Schwierigkeit, wenn der
Konzertchor von Kurt Teichmann, der Domchor von v.d.Heyde-Dohrn und die
Staatskapelle von Albert Bittner auf die Aufführung vorbereitet wird. „Die
Chöre klangen oft in der Art der Traditionsaufführungen des 19. Jahrhunderts.“
[53]
Gotthardt Schmidte in BZ 28.3.1950 „das grandiose Werk nur in Umrissen
angedeutet“.
[54]
Ansprache des Bischofs im BV 5.2.1950
[55]
BZ 23.1.1950 von Gotthard Schmidtke
[57]
Selbstverfasster Lebenslauf 7.2.1964 im Nachlass bei Elisabeth Reiss
[58]
„Auf unser erster Konzert kann ich mich merkwürdigerweise gar nicht besinnen;
wir haben uns zunächst bestimmt auf das gottesdienstliche Singen beschränkt;
der Kampf mit der Materie war im übrigern zu schwer. Unsere Proben hielten wir
im Dom-Heizungskeller ab. Wir waren eine große Schar begeisterter Sänger; ich
stand gerade noch mit einem halben Fuß oben auf der Treppe, wir sangen, bis uns
buchstäblich die Luft ausging.... Eine der tragenden Säulen war im Chor Pfarrer
Hans Damrow vom Martin Luther Haus in Braunschweig. Die Getreueste der
Getreuen, die von der Vor- bis zur Nachkriegszeit mir immer zur Seite gestanden
hat: Frau Susanne Hartwieg. Ohne ihre Hilfe hätte ich die äußeren Probleme gar
nicht bewältigen können. Wir mussten doch vor jeder Chorveranstaltung den
ganzen Dom umräumen; die entsetzlich schweren Stühle schleppen, für alle Vorarbeiten
sorgen (Plakate- und Programm-Druck), auf Heller und Pfennig abrechnen usw.
Mehr noch. Wir haben bergeweise Noten mit der Hand abgeschrieben, weil wir sie
damals nicht kaufen konnten oder gar keine Mittel dafür bekamen. Nächteland hat
Frau Hartwieg, später auch mein Mann, an der Kopierung und Einrichtung von
Orchesterstimmen gesessen. Die h-moll Messe wäre mit diesen kleinen Orchester
nicht zum Klingen zu bringen gewesen, wenn nicht jeder Bogenstrich, jedes
Atemholen bei den Bläsern der Artikulation des Chores entsprechend
eingezeichnet gewesen wäre.“ Brief Dr. Ellinor v.d. Heyde-Dohrn 18.3.1979 an
den Verfasser
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Es wurden folgende Bachkantaten aufgeführt: am 25. Februar mit Käthe
Hecke-Isensee und Carl Momberg die Kantaten.„Herr Christ, wahr Mensch und Gott“
und „Liebster Jesu“, am 25. März die Solokantaten „Ich will den Kreuzstab gerne
tragen“ mit Otto Müller, Lübeck, Baß und „Sehet wir gehen hinauf nach
Jerusalem“ mit der Altistin Hannelore Gohr, auf. Am 7.5. die Kantate „Sei Lob
und ehr dem höchsten Gut“ und „Bleibe bei uns, denn es will Abend werden“, am
2.9. die Solokantate „Mein Herze schwimmt in Blut“.
[62]
BZ 28.11.1950 Schmidtke: auf der Grundlage gültiger Werkdeutung
„außerordentlich“.