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[Kirche von unten]



Ansichten einer versunkenen Stadt

Die Braunschweiger Stadtkirchen 1933 - 1950

von Dietrich Kuessner


5. Kapitel

Die Juli- „Wahl“ 1933 [1]

 

Der Mordsommer

Der Juli 1933 war in der Stadt Braunschweig ein Mordsommer. Bei den ständigen Razzien in den Arbeitervierteln kam es im Eichtal am 29. Juni nachts zu einer versehentlichen Schießerei zwischen zwei SS- Trupps, wobei der 29 jährige SS Mann Gerhard Landmann tödlich getroffen wurde. Der Leiter des Landespolizeiamtes, Friedrich Jeckeln, auch Mitglied der SS, zog die Untersuchung an sich, schaltete die Kriminalpolizei aus und lastete den tödlichen Unfall einem angeblich kommunistischen Mordkommando an. In den folgenden Tagen wurden bis zu 200 Braunschweiger verhaftet und in die bestehenden wilden Konzentrationslager in der Allgemeinen Ortskrankenkasse und im Volksfreundehaus verbracht und gefoltert. Im Braunschweiger Dom wurde am Dienstag, dem 4. Juli ein riesiges Staatsbegräbnis mit Sarg, Fahnen, Bach und einer Hetzpredigt von Schlott veranstaltet.

„Ein Schuss fiel in der Nacht. Er traf mitten in dein Herz, Kamerad von der SS. Er hat ein Feuer angezündet, das lohet bei Tag und bei Nacht. Du bist im Kampfe gefallen und wurdest herausgerissen aus deinem Dienst für Gott und Volk und Vaterland. Wir werden weiterkämpfen für unser großes Ziel. Nehmen sie uns das Leben, das Reich muss uns doch bleiben, und Gottes Augen schauen  auf unser Haus Tag und Nacht.“[2]  Das war als deutsch-christliche Heiligsprechung eines SS Mannes gedacht.

Der lange Trauerzug wurde von der Stadtpfarrerschaft im Talar angeführt, erinnerte sich Magnipfarrer Wilhelm Rauls.[3] Der propagandistische Aufwand der Trauerfeierlichkeiten, die sich auf dem Hauptfriedhof noch hinzogen, signalisierte das schlechte Gewissen der Parteiführung. In der Magnikirche wurde eine Erinnerungstafel für Landmann angebracht, da die Eltern in der dortigen Gemeinde wohnten. Die Ausbombardierung der Kirche zerstörte gnädig diesen Schandfleck. An demselben Dienstag abend wurden neun in der AOK Gefangene willkürlich ausgesucht, zusammen mit einem Studenten zum Pappelhof bei Königslutter verbracht, dort furchtbar zugerichtet, erschossen und auf dem Friedhof  in Rieseberg heimlich begraben. Diese Mordaktion sprach sich herum. Der Präsident des Oberlandesgerichtes, der die entsetzlichen Zustände in der AOK besichtigte, erreichte die Einrichtung eines Schnellgerichtes, das seit der letzten Juliwoche insgesamt ca 250 Personen zu verhältnismäßig  kürzeren Gefängnisstrafen aburteilte, nur um sie aus dem KZ AOK herauszuholen.[4] Domprediger v. Schwartz beschwerte sich beim Reichsstatthalter Loeper über die Vorgänge in Rieseberg und in der AOK.[5] Den Magnipfarrer Rauls bat eine Frau um die Beerdigung eines in der AOK Getöteten mit der Bitte, nichts davon nach außen dringen zu lassen.[6]

 

Für oder gegen Bodelschwingh als Reichsbischof

Auch die kirchenpolitische Lage wurde dramatisch. Die Landeskirchen hatten den Leiter der Betheler Anstalten Pfarrer Friedrich v. Bodelschwingh als neuen Reichsbischof gewählt. Zum Pfingstfest hatte Bodelschwingh ein Grußwort an die Gemeinden formuliert, das von den Kanzeln verlesen werden sollte. Aber am Pfingstsonntag erschien eine Nachricht in der Regionalpresse, der vor einer Verlesung warnte. „Eine Warnung der Deutschen Christen“ war die Nachricht überschrieben. Die Deutschen Christen nominierten nämlich für den Posten einen eigenen Kandidaten, den Wehrkreispfarrer Ludwig Müller.[7] Er hatte Hitler schon vor Jahren kennen gelernt und galt als sein Vertrauensmann. Hitler hatte ihn Ende April zu seinem Bevollmächtigten ernannt. Er besserte allerdings Hitlers eingestandene Unkenntnis von der evangelischen Kirche nicht auf [8] und verhinderte nicht Hitlers späteren erheblichen kirchenpolitischen Fehlentscheidungen.

Auch die Pfarrerschaft der Stadt Braunschweig nahm für oder gegen Bodelschwingh Stellung. Magnipfarrer Rauls hatte eine Glückwunschadresse an v. Bodelschwingh abgesandt, die auch noch von anderen Pfarrern unterzeichnet war.[9] In der Magnikirche informierte Pfr. Lagershausen über die Person Bodelschwinghs und Pfr. Goetze sprach „Warum treten wir mit gutem Gewissen für v. Bodelschwingh ein?“ Schlott hingegen erklärt ein Eintreten für v. Bodelschwingh für unvereinbar mit der D.C. Mitgliedschaft.

Da die NSDAP heftig für einen Reichsbischof Müller und gegen Bodelschwingh agitierte, telegrafierten einige Pfarrer an den Reichskanzler: „Unserer Verantwortung für unseren Dienst an unserm deutschen Volk und unserer evangelischen Kirche bewusst, bitten wir unterzeichneten  evangelischen Pfarrer der Stadt Braunschweig den Herrn Reichskanzler dringend, anzuordnen, dass der Einsatz des politischen Parteiapparates im Streit um den Reichsbischof unterbleibt, und der Rundfunk nicht einseitig zu Stimmungswerbung zur Verfügung gestellt wird.

Bücking, Freise, Frielinghaus, Goetze, Kirchner, Kühnhold, Lagershausen, D. v. Schwartz, lic v. Schwartz, Dosse, Wendeburg Seebaß, Benndorf, Leistikow.“[10]  Die Deutschen Christen reagierten wütend und schickten nach einer Versammlung am 8. Juni ein „Ablehnungstelegramm“ an v. Bodelschwingh.[11]  v. Bodelschwingh bringe keinen neuen Geist in die Reichskirche, ein gemeinsames Arbeiten der Deutschen Christen mit ihm sei unmöglich, er stünde nicht genügend im Kontakt mit dem neuen Staat. Der liberale Petripfarrer Freise öffnete dagegen den Sonntagsgruß, das Blatt für die Braunschweiger Kirchengemeinden, weit für eine Zustimmung zu Bodelschwingh. Er veröffentlichte eine „Kundgebung des neuen Reichsbischofs“ zum Pfingstfest[12] und eine Woche später trotz des wütenden Protestes der Deutschen Christen ein Porträt mit Bild, sowie ein zustimmendes Echo auf den Dienstantritt des Reichsbischofs und dessen Wort zum Pfingstfest.[13]

Die preußische Regierung aber griff entgegen den Zusagen Hitlers für die Freiheit der Kirche in die inneren Angelegenheiten und setzte am 24. Juni August Jäger als Kirchenkommissar für die preußischen Landeskirchen ein, der mit rigorosen Personalentscheidungen für erhebliche Unruhe sorgte. Müller hatte die leitenden Ämter in der preußischen Landeskirche an sich gerissen. Daraufhin trat v. Bodelschwingh von seinem Amt zurück. Freise hingegen veröffentlichte ungerührt auch noch am 2. Juli einen Vorschlag Bodelschwinghs für die „Seelsorge im Arbeitsdienst“[14] und am 9. Juli ein Wort Bodelschwinghs „an alle, die unsre Kirche lieben“.[15] Aber die Wogen sollten noch höher schlagen.

 

Wahl oder Bekenntnis zu Hitler? [16]

In diese unruhigen Zeiten platzte die Ankündigung einer Wahl noch im Juli. Es war natürlich keine Wahl, was wir heute so darunter verstehen, mit „Wahlkämpfen“, „Kandidatenwahl“ und Pressekampagnen zwischen den zu wählenden Parteien. Es war eine Wahl, wie Hitler sie verstand. Also keine Wahl. Denn Wahlen gehörten in den Bereich der Demokratie, und die hatte Hitler bereits gründlich abgeschafft. Es musste als ein aparter Einfall Hitlers vorkommen, mitten im Ausbau seines militanten, autoritären Personenregimes eine Art von Wahlen in allen Landeskirchen der deutschen evangelischen Kirchen abhalten zu lassen. In der Stadt Braunschweig war noch in schmerzhafter Erinnerung, wie gewählte Mitglieder des Braunschweiger Landtages zur Aufgabe ihres Mandates vor Zusammentritt zur ersten Sitzung gezwungen und erpresst worden waren. Sollte derlei nun auch dem Zusammentritt des ersten Landeskirchentages vorangehen?

 

Der Hintergrund für das Zustandekommen der Kirchenwahl war folgender: die Kirchenleitungen der deutschen evangelischen Kirchen hatten sich am 11. Juli 1933 auf einen völligen Umbau der DEK, nämlich als einer zentralistischen Reichskirche geeinigt und dafür einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet. Diese Verfassung sah erstmals für alle Landeskirchen einen „Reichsbischof“ (Artikel 5)  und eine „Deutsche Evangelische Nationalsynode“ mit 60 Abgeordneten (Artikel 8) vor. Das war etwas völlig Neues, von den Deutschen Christen vehement gefördert unter dem Slogan: ein Volk – ein Reich – ein Führer – eine Kirche. Spötter ergänzten: ein Theater. Die Verfassung war mit den Namen sämtlicher unterzeichnender Bischöfe im Landeskirchliches Amtsblatt veröffentlicht worden.[17]  Die Schaffung einer Reichskirche beherrschte die Schlagzeilen der deutschen Presse und auch der Braunschweiger Regionalpresse. „Die geeinte deutsche evangelische Kirche“[18].

Der Zentralisierung von Staat und Gesellschaft sollte die Zentralisierung der evangelischen Kirche entsprechen. Wie sich das Verhältnis der Reichssynode zum Reichsbischof in einer dem Führerprinzip folgenden Reichskirche gestalten sollte, blieb offen. Die Landessynoden der 28 Landeskirchen, die nach Artikel 2 bestehen bleiben sollten und also eine föderale Struktur nach wie vor garantierten (und das Reichskirchenprinzip damit in Frage stellten), sollten insgesamt 40 Mitglieder in die Nationalsynode entsenden. Sie hätten diese auch delegieren können, aber es sollten neue, deutsch-christliche eingefärbte Delegierte sein. Dazu mussten vorab die Landessynoden neu gewählt werden. Ein Zeitpunkt der Wahl war noch am 11. Juli, dem Tag der Beschlussfassung der Bischöfe und Kirchenleitungen, offen geblieben, wenn auch von Hitler ein „baldiger“ Termin schon am 30. Juni vorgesehen war.[19] Schon am 12. Juli erklärte Hitler vor den versammelten Gauleitern nebenbei, dass am 23. Juli allgemeine Kirchenwahlen stattfinden würden. Die Bischöfe hatten davon keine Ahnung. Die Braunschweiger Staatszeitung und die Braunschweiger Landeszeitung veröffentlichten jedoch das Datum in ihrer Ausgabe am 14. Juli, das von der Nachrichtenstelle der NSDAP verbreitet worden war. Zu diesem Tag wurden die Kirchenleitungen erneut nach Berlin gerufen und sollten ein Reichsgesetz beschließen, wonach die Kirchenwahl nach Hitlers Wunsch am 23. Juli erfolgen sollte. Da die Beschlussfassung an die Vorlage der Verfassung im Kabinett am 14. Juli gebunden war, außerdem an die Aufforderung zum Rückzug der Kirchenkommissare in den preußischen Landeskirchen, blieb den Kirchenleitungen (damals schon „Kirchenführern“) nichts anderes übrig, als diesem viel zu frühen, den Gesetzen ihrer Landeskirche widersprechenden Datum zuzustimmen. Im übrigen bestand zu dieser Eile überhaupt kein Anlass, aber Hitler wollte keine Wahl, er wollte die Kirchen überrumpeln. Es sollte mal wieder „blitzartig“ passieren.

 

Keine Wahl

In der Braunschweiger Landeskirche sollten mit den Landessynodalen auch die Kirchenvorstände neu gewählt werden. Das war nicht termingerecht. Die letzten Kirchenvorstandswahlen hatten in der Braunschweigischen Landeskirche 1929 für sechs Jahre stattgefunden. Die nächsten Wahlen waren erst 1935 fällig. Als Wahltermin hatte das Reichsgesetz jedoch einen Termin bis Ende August bestimmt, so dass es praktischer erschien, beide Wahlen zusammenzulegen.

 Die Braunschweiger Staatszeitung rückte den Eindruck einer Wahl nach demokratischem Muster umgehend durch folgende Meldung zurecht: „Deutscher evangelischer Christ! Das Wählen hat im Führerstaat des Deutschen Reiches seinen Sinn verloren. Wenn dich dennoch der Führer selbst zur Kirchenwahl aufruft, so verlangt er von dir eine innere Entscheidung. Du hast zwei Wege vor dir. Du kannst auch weiterhin Evangelium und Volkstum ohne Zusammenhang nebeneinander oder gegeneinander bestehen lassen. Du wirst aber diesen selbstmörderischen Weg nicht wählen. Du wirst der großen Frage Gottes an dich die Antwort geben, die die Einheit von Evangelium und Volkstum auf alle Zeit besiegelt. Der Versuch, den Parteienhader aufleben zu lassen, ist ein Verbrechen vor der Geschichte. Du wirst diesen Versuch rücksichtslos niederschlagen. Steh auf, du Volk der Reformation. Achte Unterschiede, die sein mögen, gering. Sprich ein gewaltiges Ja und bekenne: Ich will ein einiges, deutsches und evangelisches Volk sein.“[20]

Dieser Aufruf bestätigte, dass am 23. Juli gar nicht gewählt werden, sondern ein Bekenntnis der evangelischen Kirche zur Regierung Hitler und zum Dritten Reich und zu den Deutschen Christen erfolgen sollte. Die Wahlmöglichkeit zweier unterschiedlicher Richtungen war rein rhetorisch.

 

Doch zwei Gruppen zur „Wahl“

Zwischen welchen beiden Gruppen „gewählt“ werden sollte, blieb den Braunschweigern verborgen. Die eine Gruppe waren die bekannten Deutschen Christen. Die hatten sich erst vor 14 Tagen im Hofjäger und im Konzerthaus in großen Versammlungen präsentiert, ein enger Mitarbeiter Hossenfelders, Pfarrer Heydenreich, und Schlott hatten gesprochen. Der Führer wisse sehr wohl, was er an der Kirche habe, hatte Heydenreich geschwärmt, und Schlott zog wie schon früher die unsägliche Parallele zwischen Martin Luther und Adolf Hitler. Die Kirche werde langsam aber sicher vom Nationalsozialismus erobert, hatte er prophezeit und nicht geahnt, wie nahe die Chance war.[21] 

Auf der Liste der Deutschen Christen kandidierten für den Landeskirchentag aus der Stadt Braunschweig die Stadtpfarrer Johannes Schlott (Katharinen), Ernst Brutzer (Magni), Alfred Wagner (Brüdern) und als Ersatzmänner Otto Jürgens (Johannes) und Gerhard Kalberlah (Jakobi), sowie die Gemeindemitglieder Staatsrat Kurt Bertram, Landgerichtsdirektor Kurt Gerhard, der Präsident der Handelskammer Vahldieck, Gärtner Walter Lüttgen, Tischlermeister Karl Jürgens und Studienrat Günter Schütte, auf der Ersatzliste Forstrat Kurt Eißfeldt, Augenarzt Dr. Reinhard Hoffmann, Geschäftsführer Otto Spennhoff.

 

Es ist erstaunlich, dass sich unter diesen erpresserischen Bedingungen überhaupt noch eine Alternative zu den Deutschen Christen in allen Landeskirchen und auch in der Braunschweigischen zur Verfügung stellte, weil sie von vorneherein in den Verdacht kommen musste, nicht ganz so eng und loyal, also nicht „bedingungslos“ zum Kanzler und seiner Partei zu stehen.

Sie formierte sich zentral von Berlin aus, nannte sich zunächst „Evangelische Kirche“, was ihr verboten wurde, und dann „Evangelium und Kirche“. Sie betonte zwar ihr positives Verhältnis zum nationalsozialistischen Staat und seinem Kanzler, lehnte aber eine enge Bindung ab. Sie betonte als Grundlage das Bekenntnis und die Bibel statt Blut und Rasse.

 

Auch in der Braunschweigischen Landeskirche kam eine Liste  „Evangelium und Kirche“ (Liste I) zustande.  Auf dieser Alternativliste „Evangelium und Kirche“ kandidierten aus der Stadt Braunschweig die Pfarrer lic Fritz Dosse (Innere Mission), Johannes Leistikow (Martin Luther), Georg Seebaß (Rautheim), und als Ersatzmänner Domprediger Karl v. Schwartz (Dom), Hans Eduard Seebaß, Marienstift. Auf der Liste der Gemeindemitglieder aus der Stadt Braunschweig kandidierten für diese Liste Evangelium und Kirche  Oberregierungsrat Dr. Bode,  Kupferschmied Koch, Lehrer Hartger, Oberarzt Dr. Vermeil, Justizobersekretär Baars, Buchhändler Maus. Und als Ersatzleute: Diakon Huge, Landarbeiter Albert Müller, Reichsbahnwerkmeister Heuer, Domkantor Wilms, Instrumentenmacher Lüders, Kaufmann Hans Gerschler, Buchhändler Bodenstab, Schuhmachermeister Timpe, Dr. Karl Müller,  Maler Malzahn, Buchdrucker Pfister.[22]

Es war sehr beachtlich, dass sich in einer derart kurzen Zeit Gemeindemitglieder für diese persönlich und beruflich nicht gerade attraktive Kandidatur zur Verfügung stellten. Von dieser Möglichkeit hatte es im Aufruf der Partei geheißen: „Du wirst diesen Versuch rücksichtslos niederschlagen.“

 

Der Wahltermin war so knapp bemessen, dass die kirchliche Regionalpresse für die Berichterstattung ausfiel und auf Sonderausgaben verzichtete. Die Gemeindemitglieder waren völlig auf die Bekanntmachungen der Regionalpresse angewiesen. Die Landeszeitung, die Staatszeitung, die Neusten Nachrichten und der Braunschweiger Allgemeine Anzeiger berichteten eine Woche lang fast täglich von der bevorstehenden Kirchenwahl. Die Parteizeitung BTZ hingegen war auffälligerweise zurückhaltend. Die Redakteure konnten offenbar mit diesem Thema wenig anfangen.

Hitler hatte die Gauleiter aufgefordert, die NSDAP Ortsgruppen für die Wahl zu mobilisieren. An allen Geschäftsstellen der NSDAP Ortsgruppen in Braunschweig hingen Plakate, die über die fälligen Wahllokale unterrichteten.

Aber es herrschte offenbar bei Hitler und der Partei Unsicherheit, ob und wie sich die Landeskirchen beteiligen würden. Hitler war die evangelische Kirche völlig fremd. Daher wurde eine Pressemeldung verbreitet, wonach Hitler selber zur Wahl aufgerufen habe. Das war überhaupt nicht seine Sache und konnte als Einmischung verstanden werden; damals schien es eher als Ehre empfunden worden zu sein. Die Braunschweiger konnten also in allen Zeitungen lesen: „Deutscher evangelischer Christ! Am Sonntag dem 23. Juli sollst du Männer deines Vertrauens zur Führung deiner Kirche wählen. Der Führer selbst hat dich zur Wahl gerufen. Er erwartet von dir, dass du die Stimme abgibst! Anspruch auf deine Stimme haben nur Volksgenossen, die sich vorbehaltlos zum Dritten Reich bekennen.“[23]

Die Meldung, dass Bischof Bernewitz Wahlleiter sei, der nun über den Wahlmodus in der Braunschweiger Landeskirche informierte, war mit der seltsamen parteiischen Bemerkung versehen, es sei Pflicht eines jeden, der im Sinne des Volkskanzlers Adolf Hitler denke, die Liste der Deutschen Christen zu wählen. „Wer anders handelt, hemmt den Aufbau der Deutschen Ev. Kirche im Dritten Reich.“[24]  Am 20. Juli erklärte Schlott: „Jeder Nationalsozialist wählt die Liste „Deutsche Christen“. Wer anders wählt, wählt gegen Hitler, wählt die Reaktion.“[25]

Die BTZ und die Braunschweiger Staatszeitung veröffentlichten am 21.7. einen ganzseitigen Aufruf des Gauleiter Stellvertreters Schmalz an die „Evangelischen Nationalsozialisten“ mit der Aufforderung, dass sich jeder Nationalsozialist „sofort“ in die kirchlichen Wählerlisten einzutragen hätte. „Jeder Nationalsozialist hat am Sonntag seiner Wahlpflicht zu genügen und wählt nur (dick unterstrichen) die Listen der Glaubensbewegung Deutsche Christen.“ Dazu der verfängliche Nachsatz: „Nationalsozialisten kandidieren nur auf diesen  Listen“. Das war eine Drohung, dass Parteigenossen auf der Liste „Evangelium und Kirche“ nichts zu suchen hätten und sich sofort wieder streichen lassen sollten.[26]

Die Sorge von DC Gauleiter Schlott galt der Wahlbeteiligung, die in der Landeskirche traditionell niedrig war. Zu deren Hebung verfiel er auf folgende Idee: auch ein aus der Kirche ausgetretener Parteigenosse könnte an der Wahl teilnehmen, wenn er nur vorher mit seiner Austrittsbescheinigung des zuständigen Amtsgerichtes noch fix beim Pastor den Wiedereintritt erklären und sich dann im Kirchenbuchamt im Rathaus in die Wählerliste eintragen ließe.[27]

Da die nunmehr zur „Wahl“ abkommandierten, jedoch völlig kirchenfremden Parteigenossen nicht wussten, zu welcher Kirchengemeinde sie gehörten und wo sich ihr Wahllokal befand, wurden in zahlreichen Geschäfte Plakate aufgehängt, die über die jeweiligen Kirchengemeindebezirke informierten. Die Litfasssäulen waren beklebt.[28] In dieser Woche war das Thema Kirchenwahl in der Stadt Braunschweig präsent.

Die Parteipropaganda traf auf einen aufnahmewilligen Boden. Am Sonntag dem 16. Juli war ohne Ahnung von einer Wahl im Wochenblatt „Sonntagsgruß“ eine Andacht von Stadtkirchenrat Runte unter der Überschrift „Gott und Vaterland“ erschienen. „Wir gehen einer großen Zukunft entgegen. Deutschland ein wahres Gottesvolk und ein Weltvolk“. An die Stelle der Parole „Mit Gott für Kaiser und Reich“ heiße es nun „Gott und Vaterland“. Gottesliebe und Vaterlandsliebe stünden nicht gegeneinander. Und dann nahm Runte die Redensart aus der nationalsozialistischen Propaganda auf, dass Gott dem Vaterland Führer geschenkt habe – Runte vermied die Einzahl und sprach von mehreren Führern - , „die es aus Ohnmacht und Zerrissenheit geführt“ hätten. Diese Kräfte gälte es zu läutern und zu veredeln. „Dann gehe hin und befruchte die Welt“.

 

Neben Schlott profilierte sich als Deutscher Christ auch der 31jährige Ulricipfarrer Alfred Wagner, der wie Schlott schon 1932 in die NSDAP eingetreten war. Wagner, der sich auf DC Veranstaltungen als Redner bereits einen Namen gemacht hatte, veröffentlichte am 21.7. in der BTZ einen Artikel unter der Überschrift „Kampf um die Kirche“.  „Der Kampf um die Kirche ist auf der ganzen Linie entbrannt“, begann der Artikel und stellte damit heraus, dass die Juliwahl eine Richtungsentscheidung bringen sollte. Der Unterschied zwischen den Deutschen Christen und anderen Gruppen bestünde  lediglich darin, „dass wir als `Deutsche Christen` ein bedingungsloses Ja zum neuen Staat sagen, und dass die meisten von uns Kämpfer für diesen Staat gewesen sind.“  Die Behauptung, Volkskirche zu sein, sei bei den leeren Kirchen völlig unglaubwürdig. Mit der Glaubensbewegung Deutsche Christen dagegen sollten „in unserer evangelischen Kirche alle unsere evangelischen Volksgenossen wieder eine Heimat finden.“ Wagner formulierte drei Grundzüge, die in allen deutsch-christlichen Reden in unterschiedlicher Variation wiederkehrten: die maßlose Kritik an den kirchlichen Zuständen in der Weimarer Zeit, obwohl sie den Pfarrern immerhin die Stabilisierung und Erhöhung ihrer Gehälter gebracht hatte, die kritiklose Identifizierung mit Hitler und seiner Partei und die Absicht einer volksmissionarischen christlichen Durchdringung des ganzen deutschen Volkes. Wagner wiederholte diese Grundsätze in einem vierspaltigen Artikel in der Landeszeitung am Wahltag unter der Überschrift „Verweltlichung der Kirche?“[29]

 

Das Reichsinnenministerium hatte wiederholt versprochen, die Wahl von jeder parteipolitischen Einmischung freizuhalten, und „freie Wahlen“ zugesichert. Aber das gehörte zur verlogenen Doppelstrategie Hitlers. Parteiamtlich war ja festgestellt worden, dass es überhaupt keine Wahlen sein sollten, sondern eine Deklamation für Hitler, und von „frei“ durfte eigentlich überhaupt keine Rede sein, denn das war ein Begriff des schwer verpönten Liberalismus.

Die Bevölkerung blieb über die beiden Listen bis zwei Tage vor der Wahl im Unklaren. Erst am Freitag vor der Wahl wurden die Namen aller Kandidaten in den Regionalzeitungen veröffentlicht. Die BTZ veröffentlichte nur die Namen der Deutschen Christen.

 

Statt Wahl Verabredung über die Zusammensetzung der Kirchenvorstände

Es gab die gesetzliche Möglichkeit, eine Wahl auch zu umgehen, nämlich nur so viele Kandidaten wie nötig aufzustellen. Von dieser Möglichkeit machten die Kirchenvorstände der Stadtkirchen Gebrauch und umgingen eine Wahl. In allen Stadtkirchen Braunschweigs einigte man sich, den Deutschen Christen Zweidrittel der Sitze im Kirchenvorstand zuzubilligen. Die Namen der in den Stadtkirchengemeinden bereits  „gewählten“, richtiger: bestimmten Kirchenvorsteher veröffentlichte die Braunschweigische Landeszeitung bereits am Sonnabend vor der Wahl, ein journalistischer Hinweis, sich das Wählen zu sparen.[30]

 

Nicht in allen Kirchenvorständen ging die Verabredung glatt. Den Paulipfarrern Lagershausen,  Goetze und Schwarze gelang es nicht, eine solche Einheitsliste aufzustellen, weil Schwarze auf einer 80 prozentigen Zusammensetzung des neuen Kirchenvorstandes zugunsten der Deutschen Christen bestand. Auch ein erneuter Versuch, doch noch eine Einheitsliste zustande zu bekommen, scheiterte in der Sitzung des Kirchenvorstandes am 18. Juli 1933 an derselben Forderung. Die NSDAP Ortsgruppe hatte eine Liste mit Namen vorgelegt und ihre Anerkennung ohne Änderung verlangt. An die Mitglieder des Kirchenvorstandes schrieben daher die Pfarrer Lagershausen und Goetze, außerdem die Kirchenvorstandsmitglieder Generalstaatsanwalt i.R. Holland und Dr. Bode: „Wir lehnen im voraus die Verantwortung für alle Folgen ab, die sich aus der Politisierung des kirchlichen Gemeindelebens ergeben könnten.“ Sie verzichteten aber auch darauf, eine eigene Liste aufzustellen, „um nicht die in unserem Kreise entstandene Meinungsverschiedenheit sich in der Gemeinde unheilvoll auswirken zu lassen.“ So gab es für die Wahl zum Kirchengemeinderat nur eine Liste mit den deutsch-christlichen Kandidaten und eine Wahl entfiel.

 

In der Nacht vor dem Wahltag hatte Hitler eine Rundfunkrede gehalten und darin eindeutig für die Deutschen Christen votiert. Unter dem Eindruck dieser Rede zog der Domprediger Karl v. Schwartz die Liste I Evangelium und Kirche für den Landeskirchentag zurück. Aber die Nachricht kam zu spät, und so wurde also doch für den Landeskirchentag gewählt.

„Auf zur Reichskirche der Deutschen Christen“, titelte die BTZ am Wahlsonntag und zitierte den Bevollmächtigten Hitlers, Wehrkreispfarrer Müller: „Die SA war immer auf dem Weg zur Kirche“. Das sollte die letzten Säumigen noch mobilisieren.[31]

 

Eine couragierte Nummer des Sonntagsgrusses gab Petripfarrer Freise am Wahltag heraus. Er liess keinen einzigen Deutschen Christen zu Wort kommen. Das war schon unüblich. Für die Seite eins hatte der Senior der Pauligemeinde, Pfarrer Lagershausen, einen auffälligen Artikel unter der Überschrift „Vom Führerberuf“ verfasst. Mit keinem Wort erwähnte er Hitler etwa als Leitfigur des neuen Führertums, sondern warnte vor dem Machtrausch der Führer zweiten und dritten Grades, die der Gefahr ausgesetzt seien, „berauscht von den neuen Gedanken und ihrer Machtstellung sich zu unnötigen Eingriffen und Gewaltakten hinreißen zu lassen, die der besten Sache nicht zum Vorteil gereichen“.[32]  Es sei ein vergebliches Bemühen, dem Volk die Religion erhalten zu wollen, wenn man meine, für sich selbst ohne Religion fertig zu werden. „Jeder, dem eine Führerstellung gegeben ist, hüte sich vor dem Rausch der Macht. Nichts stößt den Menschen mehr vor den Kopf und hemmt das Gedeihen des besten Werkes, als wenn man dafür auf seine Machtstellung pocht und den Herrn spielt.“ Das konnte der informierte Leser als Kritik an den unmenschlichen Zuständen in der AOK und an der Mordaktion in Rieseberg durch untere Parteistellen verstehen.

In einem „Wort zu den Kirchenwahlen“ zitierte Freise aus einem Aufruf aus der Feder von lic Dosse, dem Spitzenkandidat der Liste I, und der die Führertreue auch der Kandidaten der Liste I, „Evangelium und Kirche“ hervorhob. „Wir stehen dankbar und entschlossen hinter Hindenburg und Hitler als den Führern unseres Staates.“ Aber „wir haben mit schmerzlichen Bedauern erlebt, wie man in den letzten Monaten mit politischen Methoden rücksichtslos die Macht in der Kirche erobern wollte.“[33] Geradezu als eine Provokation mussten Schlott und seine Deutschen Christen einen Aufruf nationalsozialistischer westfälischer Pfarrer empfinden, die sich jedoch von der Reichsleitung der Deutschen Christen abgrenzten, und die Freise genüsslich veröffentlichte.  Diese Ablehnung war eingangs gespickt mit Zustimmungserklärungen für Hitler.[34] Außerdem hatte Freise eine Reihe von Hitlerzitaten abgedruckt, in denen der Kanzler vom Reichsbischof Müller abgerückt sei. Auch der Rundfunk sei für die Kirchenwahlen  niemandem zur Verfügung zu stellen“.[35] In der Wahlnacht war es dann Hitler selber, der über den Rundfunk massiv zugunsten der Deutschen Christen votierte. Diese von Freise verantwortete Ausgabe des Sonntagsgrusses war ein Glanzstück gegen die deutsch-christliche Propaganda der Regionalpresse.

 

Wahlbeteiligung und Wahlergebnis

Leider sind uns die Predigten am Wahlsonntag nicht überliefert, mit einer Ausnahme, die Predigt von Domprediger v. Schwartz im Dom, der selber auf der Liste „Evangelium und Kirche“ kandidierte, aber kurz vor der Predigt die Liste I Evangelium und Kirche beim Bischof telephonisch zurückgezogen hatte. Die Predigt war von einer aufreizenden, nüchternen Betrachtung über das Wesen der Kirche am Bild vom Weinstock.[36] Aber v. Schwartz leitete wie immer aktuell ein und zitierte aus einer Gebetssammlung: „Herr, lass mich unruhig sein über die Not deiner Kirche, dass sie Menschenwerk ist“. „Bedeutet es nicht eine schwere Not, wenn wir sehen müssen, wie verwirrt die Fronten anlässlich der Kirchenwahl sind? Da stehen auf beiden Seiten Menschen, die im Tiefsten des Glaubens ganz eins sind, stehen widereinander, nicht aus Laune, nicht aus Lust am Kampfe , sondern weil sie sich im Innersten dazu verpflichtet fühlen. Und nun reißt die Dämonie des Kampfes hinein in ein Handeln, das ganz deutlich den Stempel „Menschenwerk“ trägt, d.h. Sünde – hier und dort“.

Damit waren Propaganda, Führerruf, Mobilisierungsaufrufe vom Evangelium her als „menschlich“ heruntergestuft worden und v. Schwartz fügte hinzu als „Sünde“. Je hoffnungsloser die Verwirrung in dem Menschenwerk „Kirche“ erscheine, um so nötiger sei eine biblische Wegweisung. Damit leitete v. Schwartz zum Predigttext Joh. 15 „Christus spricht: Ich bin der Weinstock ihr seid die Reben“ über.

 

Nach den Gottesdiensten strömten die Gottesdienstbesucher zur Stimmabgabe und es war wirklich kein Vergleich zu früher. Insgesamt drängten sich bis um 18.00 Uhr ca 34.000 Gemeindemitglieder in die kirchlichen Wahllokale, rund 2000 in Jakobi, knapp unter 3.000 in Andreas, über 4.000 in Katharinen, etwas über 5.000 in Johannis, und etwas über 6.000 in Pauli.[37]

Von der Beteiligung in der Michaeliskirche schrieb der Gemeindepfarrer Koenig folgenden Bericht im Gemeindebrief:

„Die Kirchenwahlen haben eine ungeahnt rege Beteiligung gefunden. Schon um 9 Uhr waren die ersten Wähler erschienen. Nach einer später eingegangenen Verfügung sollte die Wahl erst um 11 Uhr beginnen, sie hätte sonst während des Gottesdienstes unterbrochen werden müssen. Auch der Gottesdienst war gut besucht, nach Schluss desselben wurde die Wahlhandlung durch den Wahlvorsteher, Herrn Provisor Stephan, eröffnet. In langer Reihe standen die Wählenden bis zur Straße hinaus. Es war von vorneherein eine Teilung in I. und II. Bezirk vorgesehen. Als am Nachmittag die Schlange der Wahllustigen bis auf den Kirchplatz reichte und Regen drohte, wurde die Kirche geöffnet und die Wahlhandlung für den II. Bezirk in die Sakristei verlegt. In fast undurchdringlicher Mauer umlagerten die Wählenden die Sakristeitür.  Für einen 85 jährigen Herrn, der schon über seine Kräfte gewartet hatte, musste eine Gasse durch die Menschenmauer gebrochen werden. Schließlich wurde die säuberlich geheftete Wahlliste auseinandergeteilt und noch eine zweite Wahlstelle in einem andern Teil der Kirche eingerichtet, zu der auch alsbald ein solcher Andrang einsetzte, dass der Wahlgang außerordentlich erschwert wurde. Die Ungeduld der Wählenden war ja verständlich, wenn man bedenkt, dass viele schon stundenlang gewartet hatten.

In ähnlicher Weise war im Konfirmandensaal verfahren, sodass an vielen Stellen zu gleicher Zeit die Stimmabgaben erfolgten. Ermöglicht wurde die Arbeitsteilung nur dadurch, dass eine große Zahl von Herren aus der Gemeinde sich sowohl zum eigentlichen Wahldienst wie zum Ordnungsdienst zur Verfügung gestellt hatten.

Rührend war die Liebe zur Kirche, die durch den Eifer der Wahlteilnahme bekundet wurde. Einige ältere Damen, die zu Anfang noch vor verschlossene Tür kamen, unternahmen trotz ihres Alters und ihres gebrechlichen Zustandes den Weg zum zweiten Mal. Am Sonntag früh bekam ich durch die Eilpost noch Vollmachten von außerhalb  von Gemeindegliedern, deren Stimme nicht fehlen sollte. So wurde die Wahl ein schönes Bekenntnis zur Kirche, ein Beweis, dass die Liebe zur evangelischen  Kirche noch nicht erloschen, vielmehr wieder im Wachsen ist. Auch an den vorhergehenden Tagen erfolgten so viele Wiedereintritte in die Kirche, oft mit einem herzlichen Bekenntnis zum Glauben, dass diese Tage, die voller Unruhe waren, uns allen, die wir unsere Kirche lieben, neue Freudigkeit gegeben haben. Möge dieser zum Ausdruck gekommene kirchliche Sinn in unserer Gemeinde sich nun auch bewähren in treuem Besuch der Gottesdienste, in einem regen Gemeindeleben, in freudiger Teilnahme aller lebendigen Glieder der Gemeinde an den Aufgaben, die unserer evangelischen Kirche in unserem Volk in unserer großen Gegenwart gestellt sind!“[38]

Der Bericht spiegelte die Hoffnungen von Pg, DC und Michaelispfarrer Koenig auf Besserung des Gemeindelebens wider.

 

 

Die genaue Wahlbeteiligung und das Ergebnis der Stimmenauszählung waren folgende: [39]

 

 

Ergebnisse bei der Wahl zum Landeskirchentag in der Stadt Bs

Gemeinde

Liste 1

Liste 2

 

 Evangelium und Kirche

 Deutsche Christen

Andreas

393

13,60%

2.490

86,40%

Jacobi

212

10,50%

1.807

89,50%

Johannis

1.118

22,00%

3.965

78,00%

Katharinen

581

13,90%

3.611

86,10%

Magni

558

20,30%

2.192

79,70%

Martini

382

15,60%

2.063

84,40%

Michaelis

312

12,60%

2.166

87,40%

Pauli

1.058

16,90%

5.213

83,10%

Petri

379

28,30%

959

71.7 %

Ulrici

185

12,90%

1.248

87,10%

Dom

90

37,70%

149

62,30%

Zusammen

5.268

16,90%

25.863

83,10%

Landeskirche

21.142

17,94

96.702

82,06

 

Die Wahlbeteiligung war auf den ersten Blick frappierend. Sie war in der Stadt Braunschweig etwa dreimal so hoch wie im Jahr 1929. Damals hatten 11.970 Gemeindemitglieder an der Wahl teilgenommen,[40] dieses Mal waren es 34.131 Gemeindemitglieder.

Die die Wahl organisierenden Pfarrer waren vom Ansturm überrascht und überwältigt.

In der städtischen Presse wurde dieses Ergebnis gebührend hervorgehoben. Die Höhe war ein Ergebnis des ungeheuren Propagandaaufwandes, der von außen gesteuert war. Noch nie waren so viele evangelische Braunschweiger zu einem kirchlichen Wahlgang mobilisiert worden. Es blieb allerdings unklar, ob sie einem Ruf der evangelischen Kirche oder ihres Führers Hitler gefolgt waren. Insofern lässt sich von der Höhe der Wahlbeteiligung nicht auf eine intensivere Kirchlichkeit schließen.

Da die Anzahl der Wahlberechtigten unbekannt ist, lässt sich der prozentuale Anteil nur schätzen. Er wird etwa zwischen 25% und 30 % betragen haben. Das bedeutet allerdings auch, dass ca 70 Prozent der evangelischen Gemeindemitglieder sich dem dringenden Ruf des Führers, an der Wahl teilzunehmen, entzogen haben. Das konnte die auf Totalität und „Restlosigkeit“ eingeschworene örtliche Parteiführung nicht zufrieden stellen. Eine Massenmobilisierung war demnach der NSDAP zu diesem Anlass nicht gelungen.  

Ein weiteres Ergebnis war, dass in Stadt und Land Braunschweig die Stimmung ganz deutlich für die Deutschen Christen vorherrschte . Man wollte einen Wechsel in der Landeskirche und offenbar auch in den Kirchengemeinden. Der hohe Landeskirchendurchschnitt von 82 % für die Deutschen Christen wurde in der Stadt Braunschweig, wie die Tabelle zeigt, noch von den Kirchengemeinden Jakobi (89,5 5), Michaelis (87,4 5), Ulrici (87,1 %), Andreas (86,4 %), Katharinen (86,1 %), Martini (84,4 %) und Pauli (83,1 %) übertroffen.

Die herausragenden Ergebnisse in den Kirchengemeinden Jakobi und Michaelis können mit ihren hohen Arbeiteranteilen zusammenhängen, denn seit dem 1. Mai war allgemein eine wachsende Zustimmung von Arbeiterschichten zur NSDAP zu beobachten.

 

Typisch erscheint mir der Kommentar des Michaelispfarrers zum dortigen Wahlergebnis. „Damit ist deutlich zum Ausdruck gebracht, dass das Kirchenvolk in seiner weit überwiegenden Mehrheit eine Erneuerung und Entwicklung unserer Kirche im Sinne der Glaubensbewegung will, der auch beide Pfarrer unserer Gemeinde angehören. Wir wollen nach wie vor das reine, lautere, teuere Evangelium verkünden, und auf dem einen Grunde, der gelegt ist, die Kirche als die Gemeinschaft der Glaubenden erbauen. Aber wir wollen auch ein volles, unbedingtes Ja sagen zum nationalsozialistischen
Staat, dem Staat der Arbeitenden aller Stände, dem Dritten Reich, das uns von Gott durch seine Werkzeuge, die er sich erwählt hat, geschenkt ist. In dem unter dem Volkskanzler Adolf Hitler geeinten deutschen Volke soll und will die Kirche die ewigen Kräfte lebendig erhalten, die unser geprüftes, durch Unglück geläutertes, im Kampf um seinen Bestand und seine Einheit gestähltes Volk, wie wir zu Gott hoffen, einer neuen herrlichen Zukunft entgegengehen sollen.“[41]

 

Der Bericht gibt die Sicht eines deutsch-christlichen Pastors wieder, der den erheblichen Einfluss der NSDAP Ortsgruppe auf die Höhe der Wahlbeteiligung nicht benennt. Trotzdem halte ich es für einseitig und unzutreffend, die „Wahl“ ausschließlich unter dem Gesichtspunkt einer parteipolitischen Einflussnahme zu beurteilen. Es war unbestreitbar, dass die Beteiligung wesentlich höher war und merkwürdigerweise die Pfarrer von dem Andrang so überrascht waren, weil die Eintragungen in die Wählerlisten bereits eine hohe Wahlbeteiligung dokumentierten. Es blieb der positive Eindruck: „unsere Kirchengemeinde wird wieder gebraucht“. Die dadurch erweckte Hoffnung eines besseren Gottesdienstbesuches und regeren Gemeindelebens war offenbar von Anfang an von leisen Zweifeln durchsetzt, aber es überwog eine erste allgemeine Begeisterung. Ich halte es für ungerecht, diesen Idealismus klein zu reden.

Auch in Pauli und Martini mit ihrem eher großbürgerlichen Bevölkerungszuschnitt war die Zustimmung überdurchschnittlich, denn durch die bürgerliche Mitte war Hitler der Durchbruch zur Mehrheit in der Bevölkerung gelungen.

Aus dem Rahmen der Braunschweiger Stadtkirchen fiel das Ergebnis in der Domgemeinde. Wenn auch die geringe Gemeindemitgliederzahl der Domgemeinde das prozentuale Ergebnis schönt, so ist der niedrigste Anteil an deutsch-christlichen Stimmen bemerkenswert. Das hing gewiss mit der Person des Dompredigers zusammen, der sich für die Liste I „Evangelium und Kirche“ stark gemacht hatte.

 

Allerdings war eine Mehrheit für die Deutschen Christen kein Naturgesetz. Es gab auch Dörfer und Städte, in denen die Deutschen Christen keine Mehrheit erobern konnten, wie z. B. in der Martin Luthergemeinde in Holzminden und in Vorsfelde, wie in den Dörfern Volkersheim und Üfingen.

 

Man kann diese Unwahl nicht an den Maßstäben einer heutigen politischen Wahl messen. Es wäre verständlich gewesen, dass nach der unerhörten Propaganda jene Wähler, die nicht die Deutschen Christen wählen wollten, zu Hause geblieben wären. Es ist ein Zeichen von Festigkeit und Widerwillen, dass in der Stadt Braunschweig über 5.000 Gemeindemitglieder sich bewusst den Deutschen Christen entzogen und damit nach deren Lesart Hitler die unbedingte Loyalität verweigerten. Noch größer wird die Anzahl der Verweigerer, wenn man die 70 % Nichtwähler hinzuzählen würde.

 

Die Bedeutung der „Kirchenwahl“

Es ist bemerkenswert, dass das Braunschweigische Volksblatt lediglich ein vorläufiges Wahlergebnis für die gesamte Landeskirche ohne Spezifizierung und Kommentar und der Sonntagsgruß überhaupt keine Wahlergebnisse, schon gar nicht der einzelnen Braunschweiger Kirchengemeinden veröffentlichte.[42] Das Wahlergebnis verursachte keine Empörung, eher Desinteresse. Es gab offenbar auch keine Nachfragen aus den Kirchengemeinden.

Der Katharinenpfarrer Martin Bücking stellte denn auch bündig fest: „Es war keine Wahl im herkömmlichen Sinn, vielmehr eine Art Kundgebung“,[43] aber die Wahl hätte Interesse für die Kirche und den Eindruck geweckt: „Es gibt noch Kirche und es muss Kirche geben“.  Bücking hob den Gegensatz zur Weimarer Zeit hervor, in der jahrzehnte lang „Mächte der Unterwelt“ am Werke gewesen wären. „Denen ist jetzt ihr Handwerk gelegt“. Die Beseitigung von Sozialdemokratie und Kommunisten aus der Braunschweiger Öffentlichkeit wurde ständig hervorgehoben. Bücking gehörte zu den älteren Pfarrern, die 1934 aus dem Amt schieden. Der Virus des Antikommunismus verband gerade die Älteren fest mit dem Nationalsozialismus.

Pfarrer Koenig resümierte eine dreifache Bedeutung der Kirchenwahl: das Volk habe Interesse an der Kirche, Religion sei keine Privatsache mehr, sondern Religion und Kirche würden „in ihrer strukturellen Bedeutung für das Gesamtleben des Volkes wieder erkannt“. „Die Wähler empfanden die Teilnahme an der Wahl als ein Bekenntnis“, für die Besonderheit kirchenpolitischer Gruppierung fehle weithin das lebendige Verständnis. Und drittens bedeute der überwältigende Wahlerfolg der „Deutschen Christen“, dass eine Kirche erstrebt werde, „die den Staat Adolf Hitlers  restlos bejahe und in vorbehaltloser Anerkennung seiner Sendung  mit ihm Schulter an Schulter arbeite an der Erneuerung unseres deutschen Volkes“.[44] 

Koenigs Resume spiegelt den momentanen Eindruck, dass das in der Stadt Braunschweig oft erlittene Winkeldasein der Kirche im öffentlichen Leben nun ein Ende haben werde und dass für die Gruppe „Evangelium und Kirche“ kein Verständnis vorhanden sei. Das ist bei dem geringen Prozentsatz in der Michaeliskirche von 12,6 %, das nur noch von der Jakobigemeinde unterboten wurde, begreiflich.

Es schimmert auch ein kirchenreformerischer Schwung durch, der in der Öffentlichkeit sichtbar werden soll, weil eben die Kirche sich für die „Seele des Volkes“ und deren Gesundung und Festigung zuständig fühlte. Die „restlose“ und „vorbehaltlose“ Anerkennung des „Staates Adolf Hitlers“ signalisierte bereits zu diesem Zeitpunkt den Beginn der Mystifizierung der Gestalt Hitlers, die offenbar mit dem Staatswesen vollständig identifiziert wurde, und eine erschüttende Erblindung angesichts der Öffentlichkeit der Verbrechen eben dieses Staates und seines Apparates im Gebäude der Allgemeinen Ortskrankenkasse in der Fallersleberstraße und im Volksfreundehaus.

 

Die Folgen der „Wahl“

Die Wahl erzielte die seit Monaten von Schlott gewünschte Wirkung. Noch am Freitag in der Woche nach der Wahl trat der Landeskirchentag am 28.7. in seiner neuen, rein braunen Besetzung zusammen, denn die gewählten sechs Mitglieder von „Evangelium und Kirche“ hatten noch am Wahltag beim Landesbischof resigniert ihre Mandate aufgegeben.[45] Der Landeskirchentag kam auch nicht wie üblich in einem kirchlichen Raum, meist im Magnigemeindesaal, zusammen, sondern im Gebäude des Landtages.

Noch vor Eintritt in die Tagesordnung gab der Bischof bekannt, dass er und seine beiden theologischen Oberkirchenräte Meyer und Heydenreich zum 1. Oktober zurücktreten und bis dahin einen Resturlaub antreten würden. Der Landeskirchentag wählte den 36 jährigen Braunschweiger Kurt Bertram, der die Liste der Deutschen Christen angeführt hatte, zum Präsidenten des Landeskirchentages. Bertram war seit 1925 Mitglied der NSDAP, 1933 Landtagspräsident und seither Vizepräsident der Braunschweigischen Staatsbank. Bertram galt als Vertrauensmann von Ministerpräsident  Klagges, war bis 1945 Mitglied der Kirchenregierung und hatte einen sehr großen, indes unauffälligen Einfluss auf die Geschicke der Landeskirche.[46] Katharinenpfarrer Schlott und der Dorfpfarrer Wilhelm Beye, ein Früherw eckter der ns. Bewegung, wurden zu kommissarischen Oberkirchenräten gewählt. Bischof Bernewitz hatte den Landeskirchentag traditionell mit einem Gottesdienst im Dom eröffnet, in dem er nun seine Abschiedspredigt hielt und die rasante, terroristische Entwicklung seit dem Regierungswechsel in Berlin und Braunschweig rechtfertigte; das war ein bitterer Abschied für alle, die den Landesbischof wegen seiner enormen Aufbauleistung aus einer verfahrenen Situation seit 1923 schätzen gelernt hatten.  Der Dom war wie schon in den Wochen davor zur Stätte der Rechtfertigung nationalsozialistischer Verbrechen geworden. Hier lagen die Wurzeln und die innere Folgerichtigkeit seiner späteren Entwidmung als gottesdienstlicher Stätte.

 

Die Juliwahl bot den Pfarrern die Gelegenheit, die Kirchenvorstände neu zu besetzen und zu verjüngen und den sehr alten Mitgliedern die Möglichkeit, in Ehren auszuscheiden. Dabei machte es sich bemerkbar, dass die Pfarrerschaft der Stadt selber einen Generationswechsel erlebt hatte und sich nun jüngere Mitarbeiter suchte. So stellte Johannispfarrer Jürgens die kritische Frage, ob in der Vergangenheit nicht doch eine Überalterung der Arbeit stattgefunden habe.[47]

 

Veränderungen in den Kirchenvorständen

In den Kirchenvorständen gab es folgende Veränderungen:

Der Jakobikirchenvorstand wurde zur Hälfte erneuert.  Neun Männer gehörten noch dem alten Kirchenvorstand an, die andere Hälfte, davon sechs Frauen, waren nicht wieder aufgestellt worden. Drei der Frauen hatten inzwischen den Wohnort gewechselt. Zwei Männer schieden aus Altersgründen aus. Immerhin bestand der neue Jakobikirchenvorstand im Gegensatz zum vorhergehenden nur noch aus Männern. Das war auch ein modischer Zug der nationalsozialistischen Zeit.[48] 

In der Johanniskirche wurden elf Mitglieder des amtierenden Kirchenvorstandes nicht wieder aufgestellt. Der Wahlvorschlag war nicht einvernehmlich zustande gekommen, sondern entsprach dem Wahlvorschlag der DC. Nur vier Mitglieder des alten Kirchenvorstandes saßen 14 neuen „männlichen“ Mitgliedern gegenüber. Die drei Frauen, die dem Kirchenvorstand angehört hatten waren nicht berücksichtigt worden.[49]

Katharinenpfarrer Bücking bedauerte öffentlich das Ausscheiden zahlreicher älterer Kirchenvorsteher, die das 70. Lebensjahr teilweise schon weit überschritten hatten.[50] Er hoffe, dass die bisherigen Provisoren Hans Engelhardt und August Nienstedt, sowie Heinrich Steggewentz sich weiterhin wie bisher auch ohne Sitz im Kirchenvorstand um die Gemeindepflege, Gemeindehaus, Schwesternhaus und Kinderkrippe kümmern würden.  

Michaelispfarrer Koenig gab bekannt, dass der Kirchenvorstand zu 80 Prozent aus „Bekennern zur Kirche des Dritten Reiches“ bestehe. Der Kirchenvorstand hatte in seiner letzten Sitzung einen Vorschlag der Deutschen Christen gebilligt. Koenig dankte den bisherigen Mitgliedern „für alle der Gemeinde in treuer Pflichterfüllung durch Rat und Tat geleisteten Dienste.“[51]

In der Paulikirchengemeinde war der Wechsel drastisch. Es wurden vom vorhergehenden Kirchenvorstand nur Emil Grosse, Ferdinand Rieche und Hermann Streif erneut aufgestellt, andere kirchliche hochangesehene Mitglieder wie Generalstaatsanwalt i.R. Holland und der frühere Parlamentsstenograf Bode waren nicht berücksichtigt worden.

Für Pastor Lagershausen war die neue Besetzung des Paulikirchenvorstandes eine schwere Kränkung, da die meisten seiner bewährten Mitarbeiter im Kirchenvorstand an die Luft gesetzt worden waren. Als Lagerhausen am 29. Oktober 1933 seine Abschiedspredigt hielt, bekannte er zwar offen seine Sympathie für die neue nationale Erhebung im Gegensatz zur Zeit der Weimarer Republik, aber unüberhörbar warnte er vor der Gefahr, dass  „die Kirche allmählich als eine Unterabteilung des Staates betrachtet“ würde, „die von ihm oder von der gerade herrschenden Partei aus politische Direktiven für ihr Predigen und Handeln zu empfangen habe.“[52] Das konnten die Beteiligten als einen unüberhörbaren Hinweis auf das Zustandeskommen der Liste der Deutschen Christen und der Zusammensetzung des neuen Kirchenvorstandes verstehen. Und die Bemerkung von der „gerade“ herrschenden Partei war eine Ohrfeige für das strotzende Selbstbewusstsein der NSDAP im Oktober 1933. Lagershausen fügte eine weitere, ebenfalls klare Warnung an. Er hielt die aufkommende neue germanische Religion „von Männern wie Rosenberg, Wirth, Reventlow, Bergmann, Frau Ludendorff“ für eine weitere Gefahr. „Lasst euch nicht verführen durch die Schlagworte „deutsch, deutsche Religion, deutsche Kirche!“. Eine scharfe Scheidung zwischen germanischem  Heldentum und deutschen Christentum wäre unvermeidlich. Die Abwehr, ja der Kampf gegen diese Gefahr wäre die besondere Aufgabe der „deutschen Christen“. Der später gedruckte Predigttext ließ offen, ob Lagershausen damit die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ meinte  oder alle deutschen Christen, also alle Gemeindemitglieder der zuhörenden Pauligemeinde. Die unter der Kanzel sitzenden neuen Kirchenvorstandsmitglieder mussten diese Predigtpassage als Affront gegen ihre Parteiideologie verstehen, denn wenn auch Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ kein parteiamtliches Buch war, so gehörte es doch zur ersten Garnitur der nationalsozialistischen Literatur.

 

Dort wo die Zusammensetzung unter dem Maßstab der künftigen kirchlichen Entwicklung in der Kirchengemeinde vorgenommen wurde, blieb die  Zusammensetzung der Kirchenvorstände vom Sommer 1933  bis zum Kriege stabil. Wo parteipolitische Gesichtspunkte vorherrschten, fielen die Kirchenvorstände auseinander. Für beide Möglichkeiten gab es in der Stadt Braunschweig Beispiele.

Einvernehmlich und personell unverändert arbeitete der neue Brüdernkirchenvorstand bis in die Kriegszeit hinein.

Der Kirchenvorstand von Johannis verkleinerte sich zusehends. Drei Kirchenvorstandsmitglieder wechselten 1934 in den Kirchenvorstand der neu gegründeten Martin Luther Gemeinde am Zuckerbergweg, andere schieden aus persönlichen oder politischen Gründen aus. Ab 1937 trat der Kirchenvorstand überhaupt nicht mehr zusammen, 1940 wurde der auf sieben Mitglieder geschrumpfte Kirchenvorstand wieder durch elf neue auf die gesetzmäßige Zahl von 18 Mitgliedern ergänzt.[53]

Der Kirchenvorstand der Pauligemeinde fiel bereits in den ersten 12 Monate auseinander: einer konnte die Wahl nicht antreten, weil er katholisch war, ein anderer wollte die Wahl nicht antreten, ein dritter legte sein Amt nach drei Wochen „ aus beruflichen Gründen“ nieder, fünf verzogen aus dem Gemeindegebiet, ein weiterer legte sein Amt im August 1934 nieder, und  der prominente Ministerialrat Kiehne besuchte überhaupt keine Kirchenvorstandssitzungen.[54] Dadurch war der Kirchenvorstand beschlussunfähig geworden. Ende 1935 wurden dem Landeskirchenamt von den drei Paulipfarrern einvernehmlich 18 Personen zum Kirchenvorstand vorgeschlagen, der mit geringen Änderungen angenommen wurde. Unter den 18 Mitgliedern waren auch wieder drei Frauen (Lehrerin Anna Löhnefink, Helene Lüddersens, und Johanna Tetzlaff). Es bedurfte 1935 bereits einiger Zivilcourage, sich für die Mitarbeit in einem Kirchenvorstand bereit zu erklären, der den Vorstellungen der NSDAP Ortsgruppe nicht entsprach und für den sich im Januar 1936 die Politische Polizei interessierte, die das Landeskirchenamt um Auskunft bat, warum der Kirchenvorstand von Pauli aufgelöst worden sei.[55] Dieser neue Kirchenvorstand hat sich einige Jahre später außerordentlich bewährt, als der Paulipfarrer Goetze aus politischen Gründen 1938 vom Dienst beurlaubt wurde.

Die Vorgänge in der Paulikirchengemeinde waren nicht typisch, aber sie machten deutlich, welchen Einfluss der politische Druck haben konnte. Er machte zugleich deutlich, wie man diesem Druck widerstehen konnte.

 

Der neue Stadtkirchentag

Außer in den Kirchenvorständen  machte sich der Wandel auch im Stadtkirchentag bemerkbar.

Der neue Stadtkirchentag trat am 18. August im Katharinengemeindesaal zusammen. Pfr. Schlott drängte den langjährigen, 71jährigen Stadtkirchenrat Runte zum frühzeitigen Rücktritt am 1. September und wurde zum kommissarischen Stadtkirchenrat ernannt. Pfarrer Kalberlah wurde sein Stellvertreter. Zum neuen Vorsitzenden wurde Landgerichtsdirektor Gerhard gewählt, zum Stellvertreter Pfarrer Benndorf. Gerhard erklärte als künftiges Ziel, alle evangelischen Deutschen zu Gott zu führen. Das war im Hinblick auf die 75 Prozent desinteressierten Nichtwähler für einen gestandenen Juristen ein Phantasieziel, aber es gibt zutreffend die immer wieder geäußerte Hoffnung auf ein verchristlichtes Braunschweig wieder.[56]

Dem Stadtkirchenausschuss gehörten nunmehr Pfarrer Wagner, Ministerialrat Kiehne, Reichsbahninspektor Rose und Schmiedemeister Heinemann an. Es war völlig neu zusammengesetzt. Die Wahl Wagners war eine gewisse Überraschung, weil sich auch Johannispfarrer Jürgens berechtigte Hoffnungen machen konnte, zumal Wagner erst seit einem halben Jahr in Braunschweig als Pfarrer tätig war.

Es wurden außerdem die Mitglieder des Friedhofsausschusses und des Kirchensteuerausschusses gewählt. Damit waren die traditionellen Säulen der Verwaltung Stadtkirchentag, Stadtkirchenrat und Stadtkirchenausschuss neu besetzt aber auch in Funktion. Von einer konsequenten Durchführung des Führerprinzipes konnte keine Rede sein.



 



[1] Helmut Kahle „Die Wahlen in der Braunschweigischen ev.-luth. Landeskirche“ 1976 unveröffentlichtes Manuskript; Überblick 41 f; Material zur Ausstellung  118 f;

[2] BTZ 5.7. 1933

[3] Magnifestschrift 1981 S. 147; auch BTZ 5.7.1933

[4] siehe Ludewig Landesgeschichte  984 f

[5] Palmer Material zum Kirchenkampf  32

[6] Wilhelm Rauls „Zehn Jahre Pastor an St. Magni (1933-1943) in Festschrift St. Magni 1031-1981 Braunschweig 1981 S. 147: „Während der Anfangszeit in Braunschweig kam eine Frau aus der Friesenstraße schmerzerfüllt zu mir und bat mich, ihren etwa 18jährigen Sohn zu beerdigen. Er war im Gebäude der AOK Am Fallersleber Tore geprügelt und misshandelt worden und an den inneren Verletzungen gestorben. Ich machte sie darauf aufmerksam, dass für die Friesenstraße der Pastor des anderen Gemeindebezirkes zuständig sei. Dies war ihr bekannt, aber sie bat inständig, dass ich die Beerdigung übernehmen sollte. Sie hatte dann noch die Bitte, dass ich mit keinem Wort die Umstände erwähnen möchte, die zum Tod ihres Sohnes geführt hätten.“                                   

[7] Scholder charakterisiert Müller so: „..ein schwacher Charakter. Der damals 50jährige stammte aus Westfalen, war  im Krieg Marinepfarrer geworden und bei dieser Laufbahn geblieben, die ihn 1926 als Wehrkreispfarrer nach Königsberg geführt hatte. Er war in seinem Amt der Typ des frommen Routiniers, der sich allen Situationen anzupassen verstand und die Sprache der pietistischen Kreise Westfalens ebenso beherrschte wie den forschen Ton des Reichswehrkasinos.“ S. 391. Auf einer Kundgebung der Deutschen Christen im Hofjäger

Anfang Juni hatte Pfarrer Beye unmissverständlich erklärt: „Der Reichsbischof soll Müller heißen“. v. Bodelschwingh sei einer, der „von einem Teil der verkalkten Kirchenregierungen zum Reichsbischof nominiert“ sei. Br. Sta 9.6.1933.

[8] Hitler hatte dem katholischen Bischof Berning erklärt, er könne sich „in die evangelische Kirche und ihre Struktur nicht hineinfinden.“ Scholder  389

[9] LAW NL Gremmelt 2 Schreiben von Röpke an Gremmelt vom 3.6.1933 Röpke begründete die Tatsache, dass er das Telegramm nicht mit unterzeichnet hatte, folgendermaßen: „Ich bleibe bei den Deutschen Christen.“

[10] LAW NL Goetze undatierte Durchschrift

[11] BNN 10.6.1933. Das Ablehnungstelegramm hatte folgenden Wortlaut: „Massenversammlung in Braunschweig lehnt den Pastor von Bodelschwingh als Reichsbischof ab und fordert Wehrkreispfarrer Müller.“  Der Adressat des Telegramms war v. Bodelschwingh. Br. Sta. 9.6.1933

[12] Sonntagsgruß 4.6.1933 S. 179

[13] Sonntagsgruß 11.6.1933 S. 188. Auch die beiden nächsten Juninummern des Sonntagsgruß brachten positive Bodelschwinghartikel, am 18.6. S. 194 ein Weißbuch zur Wahl von Bodelschwingh, in dem über die weit überwiegende Zustimmung der Bischöfe bei der Wahl informiert wurde und am 25.6.1933 S. 202 eine Gegenerklärung Bodelschwinghs, in der er den Vorwurf, hinter ihm verstecke sich die Reaktion, zurückwies.

[14] Sonntagsgruß 2. Juli 1933 S. 210

[15] Sonntagsgruß 9. Juli 1933 S. 218

[16] Palmer S. 15 „Die verhängnisvolle Wahl am 23. Juli  1933“;

[17] Landeskirchliches Amtsblatt 1933 S. 27 ff

[18] BrSta. 13. Juli 1933

[19] dazu Scholder Bd I 560

[20] BrSta 19.7.1933; BLZ 22.7.1933; BNN  22.7.1933

[21] BLZ 30.6.1933 „Die Kirche im Dritten Reich“ 

[22] Quelle BLZ 21.7.33

[23] BLZ 19. Juli 1933

[24] BrSta. 18.7.1933

[25] BrSta. 20. Juli 1933

[26] BrSta 21.7.1933

[27] BTZ 21.7.1933

[28] BLZ 20.7.1933

[29] BAA 19. Juli 1933

[30] BLZ 22.7.1933

[31] BTZ 23.7.1933

[32] Sonntagsgruß 23. Juli 1933 S. 233

[33] ebd S. 237

[34] „Eine Kundgebung nationalsozialistischer Pfarrer“ BV 1933 S. 238

[35] BV 1933 S. 237

[36] RuR August 1933 S. 117 ff

[37] Die Zahlen ergeben sich aus der Summer der beiden Listen, die unten in der Tabelle angegeben sind.

[38] Michaelisbote  3. Jahrgang Nr. 1 August Ernting 1933 o.S.

[39] LAW Akte S 52; BLZ 24.7.1933 „Evangelische Kirche geeint“; .„Überwältigender Sieg der Liste Deutsche Christen in der Stadt Braunschweig” mit Ergebnissen der Stadtgemeinden. Auch BLZ 25.7.1933 mit Stellungnahmen zum Wahlergebnis aus Berlin. BTZ 25.7.1933 „Der Sieg der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ mit Einzelergebnissen der Braunschweiger Stadtkirchengemeinden und aus den sechs Kreisgebieten. 

[40] BV 10.11.1929 S. 358

[41] Michaelisbote August Ernting 1933 o.S.

[42] BV am 30. Juli auf S. 124 mit.: 21.340 für Liste I und 96.960 für Liste II

[43] Sonntagsgruß 30.7.1933 S. 120 Martin Bücking „Nachklang zu den Kirchenwahlen“

[44]  Michaelisbote August Ernting 1933 Nr. 1

[45] BTZ 30.7.33

[46] BBL 57

[47] Sonntagsgruß 17.9.1933 Otto Jürgens Der Kampf der Kirche für die evangelische Freiheit S. 197 „Ihr geht es um nichts anderes als um Erneuerung und Verjüngung der Kirche“.

[48] Vergleich Gemeindeblatt für St.  Jakobi 1929 S. 8 und 1933 S. 31

[49] Zusammenstellung von Herrn Löffelsend

[50] Sonntagsgruß  30. 7. 1933  S. 246

[51] Michaelisbote 3. Jahrg. Nr.1 Ernting o.S.

[52] Sonntagsgruß 5.11.33 S. 353 ff, auch Sonntagsgruß 29.10.1933 S. 350

[53] Löffelsend Kirchenchronik S. 104 und S. 26 f

[54] LAW Personalakte Goetze Bd 5 Brief von 31. August 1934 an Kirchenführer Johnsen

[55] LAW Ortsakte Pauli Bd 4 Schreiben der Politischen Polizei an das Landeskirchenamt vom 6.1.1936

[56] BTZ 20.8.1933 



Zum Kapitel 6: Die Kircheneintrittswelle 1933 – 1935 – Ansturm auf Taufen und Konfirmationen






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