Die Kirche erobert den öffentlichen Raum
Die
durch die Ergebnisse der Juli„wahl“ errungene Vorherrschaft der Deutschen
Christen in den Braunschweiger Stadtkirchen sollte nun vertieft und befestigt
werden. Die großen deutsch-christlichen
Hoffnungen
waren ein unter Hitler verchristlichtes Deutschland und ein unter Klagges
verchristlichtes Braunschweig. Dazu seien die Tore weit geöffnet, erklärte der
spätere Landesbischof Beye.
Deutsch-christliche
kirchliche Aufbauwoche im September 1933 in der Brüdernkirche
Für kurze Zeit wurde die Brüdernkirche durch die Initiative
des Brüdernpfarrers Wagner zum Mittelpunkt der Deutschen Christen in
Braunschweig. Alfred Wagner, 31 Jahre alt, war im Frühjahr 1933 als Nachfolger
des verdienten, langjährigen Brüdernpfarrers Kausche gewählt worden. Der
Kirchenvorstand wünschte einen zeitgemäßen Generationswechsel. Wagner stammte
aus Thüringen und hatte zunächst ein Studium als Lehrer abgeschlossen, kurze
Zeit auch ausgeübt, danach Theologie studiert und war in einer Thüringer
Gemeinde Pfarrer gewesen. Dort war er auch der NSDAP beigetreten. Von dort
hatte er sich an die Brüdernkirche beworben.
Auf seine Initiative fand vom 3.- 8. September in der
Brüdernkirche eine „Kirchliche Aufbauwoche“, richtiger wohl „Aufbauwoche der
Deutschen Christen“ statt. Vorträge hielten Otto Jürgens, Johanniskirche,
Gerhard Kalberlah, Jakobikirche, Ernst Brutzer, Magnikirche, Alfred Wagner
sowie Otto Henneberger aus Thüringen. Die Aufbauwoche stand unter dem Leitwort
„Kämpfende Kirche“.
Montag: „Der Ruf nach der
Kirche und ihre Verantwortung“ (Otto Henneberger, Jena),
Dienstag: „Der Kampf der
Kirche um Volk und Staat“ (Alfred Wagner),
Mittwoch: „Der Kampf der
„Deutschen Christen“ für die Kirche“ (Ernst Brutzer, Magni),
Donnerstag: „Der Kampf der
Kirche für die Menschen“ (Gerhard Kalberlah, Jakobi),
Freitag: „Der Kampf der
Kirche für evangelische Freiheit“ (Otto Jürgens, Johannes).
Erstmals waren vier Stadtpfarrer an einer Stadtkirche
volksmissionarisch vereint in dem Ziel, die „Bewegung“ in die Gemeinden zu
tragen. Sie waren sich darin einig, dass es eine Kampfsituation und „einen Ruf
nach der Kirche“ gebe, und die zahlreichen Kircheneintritte schienen diesen
öffentlichen Trend zur Kirche hin zu bestätigen. Die „Deutschen Christen“ sahen
sich als jene, die diese Sehnsucht nach der Kirche verstanden und einladend
aufnehmen wollten.
Otto Henneberger, damals noch nicht Pfarrer an der
Paulikirche, sondern in Jena, eröffnete die Reihe mit dem einleuchtenden
Zweiteiler: Hitler rufe die Kirche und die Kirche habe diesen Ruf zu hören und
mit dem Evangelium zu erwidern. Hitler schiebe der Kirche „einen wesentlichen,
ja den wichtigsten Teil der Erziehungsarbeit an diesem erwachten deutschen Volk
zu.“ [1]
Waren das die Hoffnungen eines politisch Blinden, sehend zu werden? Henneberger
legte sich ein unrealistisches Bild vom Nationalsozialismus und seinen
Absichten zurecht.
Kalberlah fasste sein Thema in Predigtform. Sie ist uns im
Bericht einer Teilnehmerin erhalten und im Jakobigemeindebrief Oktober 1933
veröffentlicht.[2]
Kalberlah legte seiner Predigt drei Bibelworte zu Grunde: die Frage der Jünger.
Herr wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Was hülfe es dem
Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner
Seele? So jemand auch kämpft, wird er doch nicht gekrönt, er kämpfe denn
recht.“ Die Wahl dieser Bibelzitate konnten als eine Kritik an den erkennbar
tumultuarischen und gelegentlich brutalen Vorgehensweisen der Deutschen
Christen verstanden werden, wie sie Schlott und Beye an den Tag gelegt hatten.
Auch die Frage, wohin sollen wir gehen, ließ zunächst eine Antwort offen. So
war die Antwort im ersten Teil, der ein Loblied auf den ersten Reichsparteitag
in Nürnberg war, überraschend. „Mit innerer Anteilnahme und freudiger Bejahung
hätten wir Menschen die Tage von Nürnberg miterlebt. Die genialen prophetisch
anmutenden deutschen Reden unseres Volkskanzlers Adolf Hitler blieben uns
richtungsweisend und stärkend auch für das Kämpfen am Neubau der Kirche“. Wohin
sollen wir gehen? Klare Antwort: Ins Dritte Reich. Im zweiten Teil trennte sich
jedoch Kalberlah von dem klassischen Modell der radikalen Deutschen Christen,
die Drittes Reich und Gottes Reich identifizierten, sondern gab der Kirche
einen Platz neben diesem nationalsozialistischen Staat. Der Staat baue sein
Reich nach seinen eigenen Gesetzen. „Die Kirche aber baue nach den
Lebensgesetzen des Christentums, die ebenso vollständig anerkannt und zur
Geltung kommen müssten wie die Lebensgesetze des völkischen Staates.“ Der Kampf
der Kirche für den Menschen gehe dahin, alle Lebensbeziehungen auf Jesus
Christus hinzuführen. Der völkische Geist müsse also verwurzelt sein im
christlichen Geist.
Damit begab sich Kalberlah, wie alle gemäßigten Deutschen
Christen, in ein Dilemma. Es bestand in den immer wieder neu begonnenen
Versuchen einer überzeugenden Zuordnung von Nationalsozialismus und
evangelischer Kirche. Für Kalberlah war die Bejahung des
nationalsozialistischen Staates die Voraussetzung für eine gedeihliche
Entwicklung der Stadtkirchen im nationalsozialistischen Braunschweig. Umgekehrt
war die Bejahung der christlichen Kirchen und ihrer Werte die Voraussetzung für
ein gedeihliches Miteinander von Partei und Kirche, von Stadt und Stadtkirche.
Hakenkreuz und Christuskreuz verhielten sich für ihn wie
außen und innen, wie Leib und Seele. Der Staat sei zuständig für die äußere
Ordnung, die Kirche für die „Seele des Volkes“. Der Kampf um den Menschen, so
das Thema Kalberlahs, gehe also darum, die noch abseits stehenden Menschen „für
bewusstes Christentum evangelischer, deutscher Prägung zu gewinnen.“ „Eine
lebendige Gottesgemeinde, ein drittes christliches Reich, in dem die Kirche die
Seele und das Gewissen des Reichsvolkes sei – das sei das letzte Ziel allen
Kampfes der Kirche für den Menschen“.
Folgerichtig nannte Kalberlah in der Kirchenvorstandssitzung
im September 1933 die Gewinnung der politischen Ortsgruppen für den
Kirchenbesuch als einen der wichtigsten Punkte der künftigen Gemeindearbeit.[3]
Der Vortrag von Otto Jürgens erschien in Kurzform im
„Sonntagsgruß“ vom 17.9.1933 als Titelaufsatz. Jürgens polemisierte gegen „die
hässlichen Kämpfe“ in der Vergangenheit. Er meinte die Auseinandersetzung
zwischen jungreformatorischer Bewegung und Deutschen Christen, auch die
Auseinandersetzung um Friedrich v. Bodelschwingh als Reichsbischof und
natürlich die Polemik gegen die Deutschen Christen. Alle hätten bedenken
sollen, dass die Kirche vom Bolschewismus bedroht gewesen wäre und „dem Sieg
der nationalsozialistischen Bewegung ihre Rettung“ zu verdanken habe. Der
nationalsozialistischen Bewegung gehe es „um nichts anderes als um Erneuerung
und Verjüngung der Kirche“. Auch eine Religion könne alt werden und Jürgens
fragte: „Sind wir der Gefahr der Erstarrung in toten Formen und Sitten ganz
entgangen?“ So wie Luther dem Evangelium die Freiheit schöpferischer Gestaltung
wiedergab, so sollte auch die Kirche heute sich nicht isolieren, nämlich von
der nationalsozialistischen Bewegung, sondern um Erneuerung und Verjüngung
kämpfen. Von einer zu engen Verbindung des Evangeliums zum neuen Staat drohe
keine Gefahr, denn „wer an das Evangelium glaubt, weiß, dass es sich durchsetzt
und dass es nichts in sich aufnimmt, was seinem Wesen widerspricht.“ Otto
Jürgens konnte sich mit seinen 38 Jahren selber zu den Jungen rechnen und auf
eine führende Aufgabe innerhalb der Glaubensbewegung Deutsche Christen hoffen.
Das
deutsch-christliche Pfarrerbild
Während der deutsch-christlichen Aufbauwoche hatten sich die
möglichen Kandidaten für das künftige Propstamt in der Stadt Braunschweig
präsentiert. Da junge, dynamische und vor allem linientreue Pfarrer für die
zahlreichen, neu zu besetzenden Stellen gesucht wurden und Wagner das Vertrauen
des Gauleiters der DC, Johannes Schlott, gefunden hatte, wurde er von der neuen
deutsch-christlichen Kirchenleitung, Bischof Beye und Oberkirchenrat Schlott,
zum Propst von Braunschweig, damals Kreispfarrer genannt, berufen und am 8.
Oktober im Dom in einem Abendgottesdienst mit den anderen 5 Kreispfarrern in
dieses leitende Amt eingeführt.
Der zum Bischof zwar gewählte aber noch nicht eingeführte
Wilhelm Beye predigte aus diesem Anlass über das damals viel benutzte
Bibelzitat: „Wachet, steht im Glauben; seid männlich und seid stark“ (1. Kor.
16,13). Der Apostel Paulus ermahnt die Gemeinde in Korinth, angesichts des
nahenden Weltendes und des kommenden Herrn wachsam gegenüber den Mächten der
Finsternis zu sein und im Glauben fest zu bleiben. Diese eschatologische
Situation wurde nun auf die neue Hitlerzeit bezogen. „Ein starker Ton von
Mannhaftigkeit und Kampf klang durch die abendlichen Feierstunde“ empfand der
Lokalreporter und zitierte den Bischof folgendermaßen: „Unsre Zeit sucht einen
neuen Rhythmus... Die Kreispfarrer sollen in der Kirche Führer sein, Führer
für die Pfarrerschaft und Führer für die Gemeinden. Die Kreispfarrer stehen auf
Vorposten, sie sollen die Feldwache beziehen in vorderster Linie der Kirche.
Da gilt es wachsam zu sein. Die Kreispfarrer sollen darüber wachen, dass der Rhythmus
kirchlichen Lebens in der Braunschweigischen Landeskirche regelmäßig und
ordentlich pulsiert. Sie soll nicht nur Wächter über andere sein, sonder andere
auch wach halten. Sie werden auf ihrem Vorposten in dem Maße auszuharren
vermögen, als sie Vertrauen haben zu Jesus Christus, ihrem obersten Führer, und
zu ihren irdischen Führern, dem deutschen Führer Adolf Hitler, und dem Führer
der deutschen Reichskirche...“ Dann sang die Gemeinde „Komm Heiliger Geist und
mit Treuegelöbnis und Handschlag verpflichtete der Bischof die Kreispfarrer.
Gebet und Segen beschlossen die „Feierstunde“.[4]
Der Landesbischof entfaltete nichts weniger als ein neues
Pfarrerbild. Mit den Vergleichen „vorderste Linie“, „Wache“, „Vorposten“
reflektierte Beye das kriegerische Alltagsmilieu. Der Pfarrer sollte Soldat,
Führer, Wächter sein. Das war etwas anderes als Seelsorger und Hirte, der dem
Verlorenen nachgeht. Der Kampf war die herausragende Situation des Pfarrers.
Die Wachsamkeit, die Beye als neue pastorale Fähigkeit proklamierte, setzte
voraus, dass die Kirche ringsum von Feinden umstellt war. Das war ein typisches
nationalsozialistisches Trauma: die Bewegung der Partei fühlte sich fortgesetzt
bedroht durch Kommunisten, Bolschewisten, Intellektuelle, Juden, Rassefremde,
Ungläubige. Ihnen galt der rücksichtslose Kampf. In diesen Kampf reihten sich
die Deutschen Christen als Wächter und Führer
ein.
Wer sein Pfarramt als Führeramt verstand, war leicht in
Gefahr, die Gemeinde zur blinden Gefolgschaft zu entmündigen. Es widersprach dem
bekannten biblischen Bild von dem einen Leib und den vielen Gliedern und wie
alle Glieder gleich wichtig sind. Auch „das Haupt“, das als Führerbild
fungieren könnte, ist nichts ohne die lebendigen Funktionen aller anderen
Glieder. Nun sollten die Kreispfarrer „Führer“ sein. Wer bereits eine
soldatische Karriere hinter sich hatte, mochte für dieses Bild anfällig gewesen
sein.
Wagner war mit 31 Jahren der jüngste Propst, den die Stadt
Braunschweig bisher hatte. Nur der Landesbischof war noch ein Jahr jünger. Als
Kreispfarrer von Braunschweig war damals auch noch der Johannispfarrer Otto
Jürgens in Erwägung gezogen worden, der den Vorteil hatte, dass er die
Braunschweiger Verhältnisse kannte und es auch an vaterländischer Gesinnung
durch patriotische Reden zu nationalen Anlässen und als Garnisonspfarrer nicht
hatte fehlen lassen. Er hatte auch auf der Liste der DC kandidiert, konnte also
im kirchenpolitischen Sinne als zuverlässig gelten. Es war der Regierungsrat
Kiehne, der den Ausschlag gab und Wagner bevorzugte. Schon bei der ersten
Stadtkirchentagssitzung nach der Wahl war Wagner in den wichtigen
Stadtkirchenausschuss gewählt und Jürgens nur sein Stellvertreter geworden.
Wagner hatte als Kreispfarrer die Pfarrer Grüner an Martini,
die Pfarrer v. Wernsdorff und Baeck in Katharinen und Otto Henneberger an Pauli
eingeführt, alle unterschiedlich überzeugte Deutsche Christen.
Die Kirche besetzt den öffentlichen Raum Oktober 1933
Der 15. Oktober brachte einen Höhepunkt der
gesellschaftspolitischen Anerkennung der Kirche, wie sie seit den vergangenen
12 Jahren nicht stattgefunden hatte. Die Kirche besetzte den öffentlichen Raum
anlässlich der reichsweit durchgeführten Handelswoche. Die Kirchtürme waren mit
Hakenkreuzfahnen bestückt, Glocken läuteten den Tag ein. Auf dem Schlossplatz
hatten sich die Behörden, SA und SS eingefunden, um die Fahnenweihe der neuen
Innungsfahnen zu erleben, die alten erhielten einen Hakenkreuzwimpel. Auf dem
Schlossplatz herrschte ein buntes Bild. Die Handwerkerinnungen waren aufmarschiert.
Eine Musikkapelle spielte die Melodie des Niederländischen Dankgebetes.
Zahlreiche Musikvereine waren anwesend.[5]
Der gerade zum „jüngsten Landesbischof der Welt“ gewählte aber noch nicht
eingeführte Oberkircherat Wilhelm Beye[6]
hielt eine Weiherede und begann wie bei einem Gottesdienst mit der
trinitarischen Formel. „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen
Geistes“ schallte es über den Schlossplatz. Beye knüpfte an den Text des
Niederländischen Dankgebetes an, dessen Melodie eine Musikkapelle vorher
intoniert hatte. „Herr, mach uns frei“. Er begann mit einem Bekenntnis zu
Hitler, der am Vortag eine Volksabstimmung über den Austritt Deutschlands aus
dem Völkerbund angekündigt hatte.
„Es ist eine Ehrensache, in dieser Stunde namens der braunschweigischen
evangelischen Christen an dieser Stelle kundzutun, dass wir von unserem
lutherischen Glauben her als deutsche Männer und Frauen uns rückhaltlos für
diesen Kanzler und die Ehre und die Freiheit der Nation einsetzen werden.“
Danach verzichtete Beye völlig auf nazistische Wendungen,
die das Handwerk in die Anforderungen einer „neuen Zeit“ stellte, sondern
forderte die Rückkehr zu den biederen, konservativen Werten, darunter auch zu
Frömmigkeit.
„Der feste Grund, auf den die Alten den Handel gründeten,
hieß Ehrlichkeit, Treue, Frömmigkeit.“.. „Ihr seid der Gefahr der
Verproletarisierung deswegen entgangen, weil ihr einen Führer gefunden habt,
der Adolf Hitler heißt, und der euch zu dem Ursprung alles handwerklichen
Schaffens wieder hingeführt hat. Deutsche Handwerker! Es gibt ein Wort der
Heiligen Schrift, „nur wer im Geringsten treu ist, wird auch im Größten treu
sein“. Jener Adolf Hitler, der in seiner Jugend auf dem Bau stand und Stein auf
Stein aneinander fügte und jene Treue im Kleinen bewiesen hat, ist auch der,
der die Treue im Großen uns allen halten kann und wird.
Und jener Zimmermann aus Nazareth hat in der Enge seiner
Familie, in der Enge väterlichen Handwerkes jene eigentliche Größe erlebt und
erfahren, die auf der Treue, auf der Ehrlichkeit und auf häuslicher Frömmigkeit
ruht. Nur wo die drei Dinge noch vorhanden sind, im Haus und im Handwerk, wird
es wohl stehen um ein Volk, nur da wird auch das Handwerk gedeihen.
Mit neuen Fahnen seid ihr hier hergezogen und rings im Kreis
grüßen die Jahrhunderte alten, die von alter deutscher Handelskraft und Ehre
und Treue und Frömmigkeit zu künden wissen. Die neuen Innungsfahnen der Bäcker,
Fleischer, Maurer, Schneider und Mechaniker sollen von euch getragen werden als
deutsche Menschen, die das wissen, es ist schlecht bestellt um das deutsche
Handwerk, wenn die ursprünglichen Tugenden der Treue, Ehrlichkeit und
Frömmigkeit uns verloren gehen. Ihr Fahnenträger, zeigt euren Brüdern vom
Handwerk die neuen Fahnen, entrollt sie, dass sie jeder sehen kann, ich ermahne
euch, bleibt stehen auf dem Boden des alten Handwerks, das heißt deutsch und
christlich in allem. So zieht denn hin mit den neuen Fahnen. Nehmt mit in euren
Herzen die alten deutschen Tugenden: fromm, ehrlich und treu!“ Mit einem kurzen
Gebet, dessen Schluss lautet: „Unsere Losung stets sei, Deutschland erwache,
Herr, mach uns frei“, schloss Beye.
Es erscheint mir billig, über das Gemisch magerer
Gedankentiefe und hohem Redepathos schnell hinwegzugehen. Auch ist das Bild
Beyes in der Landeskirche durch seine gelegentlich ordinäre Redeweise und durch
das unrühmliche Ende vor dem Landgericht Braunschweig nur ein halbes Jahr
später geprägt und getrübt. Im Oktober 1933 auf dem Braunschweiger Schlossplatz
mag bei den Hörern hängen geblieben sein: „Donnerwetter, der Hitler war auf dem
Bau“, also ein einfacher Mann aus dem Volk und nun Jesus auch. An Hitler und
Jesus sollte sich der Braunschweiger Handwerker in Zukunft ausrichten und Treue
und Frömmigkeit beweisen. Das war zwar alles zusammenphantasiert, darauf kam es
aber in diesem Augenblick nicht an. Sondern entscheidend war die Forderung von
der Rückkehr zu den alten Werten, die leicht nachzuvollziehen war, verbunden
mit den überraschenden Garanten für diese Werte: Hitler und Jesus. Das hinterließ
in freier Rede dahingeschmettert durchaus seinen Eindruck. Die Kirche war also
wieder öffentlich geachtet und ansehnlich repräsentiert.
Hinter dieser Kulisse verbarg sich auch die Gleichschaltung
der Braunschweiger Handwerkskammer und die Durchdringung mit Parteigenossen.
Aber es gelang den Nazis durch derlei Veranstaltungen, auch den Mittelstand an
sich zu binden. Dass dabei auch die evangelische Kirche eine Rolle spielte, war
das eigentlich Neue. Das war der Weg zu einem christlichen Braunschweig unter Klagges.
Glockenweihe in Katharinen 15.10.1933
An diesem 15. Oktober 1933 wurde auch neue Glocken der
Katharinenkirche in die Türme im Zusammenspiel von Partei und Kirche
hochgezogen.
Schon beim Glockenguss am 13. September 1933 waren etwa 500
Gemeindeglieder, zum großen Teil Angehörige der Zelle 4 der Ortsgruppe Hagen
der NSDAP, auf 18 Lastwagen nach Hildesheim gefahren, um in der Werkstatt dem
Gusse beizuwohnen. „Die Glockenweihe auf dem Hagenmarkt gestaltete sich zu
einem erhebenden Festtage des erneuerten Volkes, das heimfinden wollte auch zum
Glauben und zur Kirche seiner Väter,“ beginnt ein Bericht im
Katharinengemeindebrief.[7]
Eine SS-Kapelle führte den Festzug an und spielte „Der Gott,
der Eisen wachsen ließ“.
Die Glocken trugen folgende Inschrift „Zerschlagen in des
Weltkriegs Not erstanden neu in Aufbauzeit/ Friedensbotin der Ewigkeit/
Beschirme Deutschland, treuer Gott.“ Die Formulierung stammte von Pfarrer
Bücking.[8]
Der stellvertretende Bürgermeister Gebensleben bat in seiner
Weiherede: „möge die nationalsozialistische Bewegung Erlösung bringen und
Befreiung von den unwürdigen Fesseln, die das deutsche Volk noch zu Boden
ziehen. „Orgelspiel, Chöre und Marschmusik begleiteten die Glocken auf dem Weg
in die luftige Höhe“.[9]
16 SS – Männer hievten die Glocken in den Turm. Katharinenpfarrer Gennrich
ergänzte die Berichte in der Regionalpresse mit folgendem Zusatz: „Es ist noch
hinzuzufügen, dass gleichzeitig mit ihrer großen Schwester zwei kleine
„Bimmelglocken“ für den Dachreiter der Kirche gegossen und in Gebrauch genommen
worden sind. Sie wiegen 40 bzw. 80 Pfund und sind im Fries mit dem Eisernen
Kreuz, dem Hakenkreuz und dem Stahlhelm geschmückt. Eine trägt die Inschrift:
„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“
Luthertag auf dem Hagenmarkt am 14. November 1933
Der Staat warb um die Kirche, die Kirche warb um die Partei.
Ausdruck für dieses gegenseitige Werben war der von Landeskirche und
Landesregierung gemeinsam gefeierte Luthertag anlässlich des 450 Geburtstages
von Martin Luther. In allen evangelischen Kirchen des gesamten Reiches waren
aufwendige Lutherfeiern organisiert. Zu diesem Anlass wucherten Phantasien über
Parallelen zwischen Martin Luther und Adolf Hitler. Im Leitorgan der
Lutheraner, der Allgemeinen Ev. Luth. Kirchenzeitung, hatte der Professor für
Kirchengeschichte in Erlangen Hans Preuß am 20. und 27. 10. 1933 einen Aufsatz
unter dem Titel "Luther und Hitler" veröffentlicht. Beide seien
deutsche Führer, beide zur Errettung des Volkes berufen, beiden gehe der Schrei
nach einem großen Mann der Rettung voraus, beide seien aus dem Bauernstand, sie
treten in den 30iger Jahren ihres Lebens als gänzlich unbekannte Leute auf,
beide liebten ihr Vaterland, die Frauen treten für beide aus der Öffentlichkeit
zurück in die Häuslichkeit, beiden lehnten den Parlamentarismus ab und kämpften
einen Zwei-Frontenkrieg und als leuchtende Schlussparallele: "Luther und
Hitler fühlen sich vor ihrem Volke tief mit Gott verbunden". Hitler kenne
das Gebet. "Er denkt auch an den Heiland". „Man hat gesagt, dass
deutsche Volk habe dreimal geliebt: Karl den Großen, Luther und Friedrich den
Großen. Wir dürfen nun getrost unseren Volkskanzler hinzufügen. Und das ist
wohl die lieblichste Parallele zwischen Luther und Hitler." [10]
Der Verfasser Hans Preuß war seit 1914 Professor in Erlangen
und damals 57 Jahre alt, keinesfalls ein wilder Deutscher Christ, vielmehr ein
vielgelesener anerkannter Autor. Sein Buch „Die deutsche Frömmigkeit im Spiel
der bildenden Kunst" (1920) hatte mehrere Auflagen erlebt.
Die Lutherstädte Eisleben, Wittenberg und Coburg planten im
August, September und Oktober großangelegte Lutherwochen. Es gab Plaketten,
eine Illustrierte, Fähnchen. „Mit Luther und Hitler für Glaube und
Volkstum" war die öffentlich plakatierte Losung der sächsischen ev.-luth.
Landessynode am 17.11.1933. Dr. Walter Grundmann, der spätere Professor für
Neues Testament, 1933 Gaupropagandaleiter der DC, schrieb: Das Wollen der
Deutschen Christen heiße „die Revolution Adolf Hitlers hineinzugründen in die
deutsche Reformation Martin Luthers."
In den Textvorschlägen für die Lutherfeiern in den Schulen
wurde immer wieder auf die verquere Traditionslinie Luther - Friedrich d. G. -
Bismarck - Hitler abgehoben: Luther und Hitler, die Retter und Führer aus
deutscher Not. Auf die Melodie "Deutschland , Deutschland über alles"
wurde die Strophe gesungen „..Und es soll die Losung sein / evangelisch bis zum
Sterben / deutsch bis in den Tod hinein."
In die Planungen zum Lutherjubiläum am 10.
November platzte die Ankündigung Hitlers, aus dem Völkerbund auszutreten und am
12. November eine Volksabstimmung, verbunden mit einer „Reichstagswahl“,
abzuhalten. Der Austritt aus dem Völkerbund war ein großer, aber verdeckter
Schritt, den inneren Kriegszustand nach außen zu tragen, denn General Ludwig
Beck gab die Anweisung, den Umfang der Reichswehr innerhalb von vier Jahren von
21 Divisionen auf 62 Divisionen aufzustocken.[11]
Hitler hielt wieder mal seine bekannten Reden an die Deutschen. Braunschweig
ließ er bei seiner Wahlagitation aus und redete in Hannover. Nach Braunschweig
kam Minister Rust und agitierte im Eintrachtstadion, das von 100.000
Braunschweigern gefüllt gewesen sein sollte.[12]
Mit einem ungeheuren Propagandaaufwand wurde
auf die Rede Hitlers am 10. November in den Werkshallen der Berliner
Siemenswerke hingearbeitet. Es war die erste, von der Bevölkerung geforderte
Meinungsäußerung nach den Märzwahlen. Während der Hitlerrede standen sämtliche
Betriebe in Deutschland still. Die Frauen waren aufgefordert, ihre Radioempfänger
bei voller Lautstärke in die Fenster zu stellen. Nach der Hitlerrede sollten
die Glocken läuten. Hitler stand erhöht auf einem Generatorenhaus, unter ihm
Tausende von Arbeitern, die eine unerhörte Energie verströmten. Es war der
erste Test Hitlers, ob es ihm gelungen war, in einen Teil der Arbeiterschaft
einzudringen. „Vielleicht werden einige unter Ihnen sein, die es mir nicht
verzeihen, dass ich die marxistischen Parteien vernichtet habe. Ich sage Ihnen:
Meine Freunde, ich habe die anderen Parteien genauso vernichtet“.[13] Mit dieser Antwort konnte auch ein
Braunschweiger Arbeiter zufrieden sein. Goebbels erklärte in einem Interview,
das die Braunschweiger Staatszeitung am 9.11.1933 veröffentlichte, den
Charakter der Wahl, wo es doch keine unterschiedlichen Parteien mehr gebe. Die
Abstimmung solle „das deutsche Volk in eine noch nie da gewesene Einheitsfront
zwingen“. Angesichts dieser erwünschten „Einheitsfront“ war es beachtlich, dass
es in der Stadt Braunschweig 7.917 Neinstimmen gab, wenn man die veröffentlichten
Zahlen ernst nehmen kann.
In die Propagandawelle zur Abstimmung wurde
auch die Kirche eingeschaltet, kein Wörtchen von Luther sollte diese Priorität
stören. Bischof Beye rief zur Stimmabgabe auf. „Der lebendige Gott hat uns in
Adolf Hitler den Führers unseres Volkes geschenkt“, es gelte sich „rückhaltlos
zum Führer zu bekennen.[14]
Gegen ein Gottesgeschenk mochte nun ein evangelischer Christ auch nicht
anstimmen. Fritz Dosse titelte seine Wochenkolumne „Sonntagsgedanken“ in der
Br. Staatszeitung am 11.11.1933 unter „Das christliche Ja“. Es stünde an diesem
Sonntag zur Entscheidung, ob die Wahrheit oder die Lüge in der Welt regieren
sollte. Mit „Lüge“ meinte er die Schuldfrage des 1. Weltkrieges. Kirche habe
Bollwerk und Damm gegen den alles zersetzenden Bolschewismus zu sein. Die
Christen sollten sich in Gebet und Fürbitte hinter den Führer des Volkes
stellen, in der Überzeugung, dass der Herr der Geschichte uns diesen Führer und
Retter in der Stunde der Entscheidung geschenkt habe. [15] Am Abstimmungstag sollten Kirchen
und Pfarrhäuser beflaggt werden.
Kreispfarrer Wagner nahm im Gottesdienst am
14.11. in der Brüdernkirche Bezug auf die Abstimmung am vorhergehenden Sonntag.
Hinter dem deutschen Volk steht heute der Wille des Führers. Der Führer glaube an
die letzten Tiefen, an die letzten Kräfte im deutschen Menschen, an die Kräfte,
die Gott in dieses Volk hineingelegt habe. Der Glaube des Führer dieses Dritten
Reiches sei ein Glaube an den Schöpfergott. Der Weg zu Deutschlands Ehre, Größe
und Freiheit könne nur aus dem Glauben kommen.“[16]
Die Lutherfeierlichkeiten wurden also
reichsweit auf den 19. November verlegt. An diesem Tag fand jedoch in
Braunschweig der lange vorbereitete Handelsstag statt. Klagges, der ein hohes
kirchenpolitisches Interesse hatte, Nationalsozialismus und Christentum
miteinander zu verbinden, verlegte den Luthertag im auffälligen Gegensatz zu
allen anderen nationalsozialistischen Führern auf Dienstag den 14. November,
erteilte den Schulen kurzerhand vormittags schulfrei für Schulgottesdienste,
organisierte auf dem Hagenmarkt eine zentrale Lutherfeier für alle
Braunschweiger Schulen und redete selber zu diesem Thema. Luthers
Thesenanschlag sei ein revolutionäres Handeln, das sich keineswegs auf die
Kirche beschränken wolle, sondern sein Trachten ginge darauf aus, „wieder
deutsches Leben in deutschen Landen zu gestalten."[17] Der durch Luther entstandene
konfessionelle Riss sei durch Hitler geheilt. Er habe die Reformation vollendet
durch die Schaffung der deutschen Einheit, der sich auch die Kirchen
unterzuordnen hätten. Luther und Hitler verhielten sich also wie Anfänger und
Vollender. Klagges schloss mit dem Ruf: „In diesem Sinne wollen wir das uns
überkommene Erbe weiterpflegen und mit frohem Herzen in dem Ruf einigen: unser
deutsches Volk, sein großer geschichtlicher Volksmann Martin Luther und sein
großer gegenwärtiger Führer Heil!“
Luther wurde auch eingespannt für den
Antikommunismus Hitlers. Im Braunschweiger Aufruf zum Luthertag hieß es: „Wir
stehen in den Geburtswehen einer neuen Zeit. Deutschland ist erwacht und kämpft
um seine Seele. Wer soll in diesem Kampfe Führer sein? Martin Luther oder
Lenin?..Wer sein Volk aus ganzem Herzen liebt, muss das Werk des deutschen
Reformators ehren, dessen ganzer Kampf der Freiheit des deutschen Wesens und
Glaubens galt."
Nach Klagges sprach der designierte
Landesbischof Beye, kritisierte die Darstellung Luthers als Theologen als
einseitig, feierte Luther als Schöpfer eines deutschen Christenglaubens und
forderte nach dem Aufbruch der Nation auch den Aufbruch des deutschen Christen
zu seiner Kirche. „Darum halten wir fest an diesem Gott, darum schauen wir auf
ihn, so wie Luther uns dieses Schauen gelehrt hat und können singen in dieser
Stunde aus übervollem Herzen: Ein feste Burg ist unser Gott, Heil Hitler.“ Die
SA Kapelle intonierte das Kirchenlied, die Menge nahm die Hüte ab und sang mit.
Diese Szene auf dem Hagenmarkt erscheint uns
heute gespenstisch. Der Mischmasch aus aktuellem politischen und kirchlichem
Interesse und die erbärmliche Verkennung und Reduzierung Luthers stoßen ab.
Damals jedoch wird bei den aus den Schulen abkommandierten Schülern und vielen
Eltern das über den Hagenmarkt erschallende Lutherlied im Gedächtnis geblieben
sein und die Tatsache: Protestantismus und Nationalsozialismus sind keine
Gegensätze, für die Kirche nicht und für die politische Spitze auch nicht. Für
Klagges war das keine Propaganda, sondern eine persönliche ideelle Auffassung,
an der er bis 1945 festgehalten hat und an der auch kein Klaggesbiograf vorbeisehen
kann.
In jedem Fall jedoch eröffnete Klagges der
Landeskirche mit dieser für ihn typischen Veranstaltung einen öffentlichen
Raum. Anders als in den Stadtblättern wurde die Veranstaltung von der
kirchlichen Presse nicht aufgenommen. Das Braunschweiger Volksblatt und der
Braunschweiger Sonntagsgruß übergingen die Veranstaltung bei ihrer
Berichterstattung.
Zum vorgesehenen Jubiläumssonntag, dem 12.11., hatte das
Geistliche Ministerium, die Stadtgeistlichkeit, zu einem Festvortrag in das
Altstadtrathaus eingeladen, das mit Lutherbüste und Hakenkreuzfahne geschmückt
war. Kreispfarrer Wagner begrüßte die Anwesenden mit der Einsicht, dass Luther
wie Hitler den Deutschen die Einheit geschenkt habe. Es sprach Prof. Manitius
aus Berlin. Es gelte das Kämpferische bei Luther vor die Augen der Gegenwart zu
rücken – im Casino erinnerte man sich an die Front, das Kämpferische – und die
Religion müsse wie von Luther auch in der Gegenwart wieder ganz ernst genommen
werden. Der Vortrag lief auf eine Werbung für die Deutschen Christen hinaus, zu
denen heute Luther wohl auch gehören würde. [18]
Einen Tag später hatte der Evangelische Bund in den Hofjäger
eingeladen. Auch Studienrat Dr. Müller zog in seiner Begrüßung die inzwischen
strapazierten Vergleiche zwischen Luther und Hitler. „Das sei das Gemeinsame
der Reformation und der Erneuerung Deutschlands, dass beide eine Besinnung auf
deutsches Denken und eine Erweckung der deutschen Seele seien.“[19]
Beim 3. Stiftungsfest des Evangelischen Männervereins der
Martinikirche im November 1933 hielt der Gemeindepfarrer Benndorf eine
Gedenkrede auf Martin Luther und zog gewagte Parallelen: „Hätte man ihm (Martin
Luther) den Schandvertrag von Versailles vorgelegt, er hätte ihn nicht
unterschrieben. Er hätte ihn mit demselben Mut abgelehnt, wie er in Worms den
höchsten Vertretern der Staatsmacht sagte: „Hier stehe ich. Ich kann nicht
anders.“ Und wenn ich 1926 in einer meiner Predigten sagte, wir werden einmal
wieder einen Luther bekommen, so sage ich heute, dass wir ihn in unserm Volkskanzler
Hitler haben“. [20]
Dieser quälende und unsinnige Vergleich beschreibt in seinen
Wiederholungen die damalige enorme Sehnsucht, der neuen Bewegung die Kirche
nahe zu bringen und von ihr reformerische Impulse zu empfangen.
Stadtkirche und Partei gehen aufeinander zu
Zum volkskirchlichen Programm gehörte es, dass sich die
Kirchen für die Partei weit öffneten.
So beschloss der neue Kirchenvorstand der Jakobigemeinde in
einer seiner ersten Sitzungen, auf die NSDAP Ortsgruppe Hohe Tor zuzugehen und
ihre Mitglieder für die Kirche und zum Gottesdienstbesuch zu gewinnen. Eine
erste Gelegenheit zu einer gemeinsamen Aktion bot sich am 9. November 1933.
Hitler wollte die Blamage seines ersten erbärmlichen Putschversuches im
November 1923, von München aus nach Berlin zu marschieren und die dortige
Regierung zu stürzen, vertuschen und in einen Sieg umlügen. 1933 war der
zehnte Jahrestag dieses blamablen 9. November, der in Zukunft nun mit einem
düsteren Ritual ausgestattet wurde. Im ganzen Reich sollte dieser 9. November
zum feststehenden Gedächtnistag im braunen Kultkalender ausgebaut werden. Dazu
lud der Jakobikirchenvorstand die örtlichen Parteigliederungen, den SA Sturm
31/92 zu einem Gottesdienst in die Kirche ein. Die Kirche war voll besetzt. Die
SA hatte ihre Fahnen mitgebracht, die um den Altar postiert wurden. Pfarrer
Gerhard Kalberlah hielt eine Gedächtnispredigt auf die Toten des ersten
Weltkrieges und „der Bewegung“, die „für Deutschland“ gefallen seien. Dieser
kümmerliche Versuch einer Sinngebung des schauerlichen Todes im Blutsumpf an
der Front fand indes bei vielen Familieangehörigen auf die Dauer eher Gehör als
die Einsicht eines sinnlosen Sterbens in einem verbrecherischen Krieg.
Parteigenosse Nolte las die Toten der Bewegung laut vor.[21]
Auch in der Magnikirche fand sich zu diesem Anlass eine
große Parteigemeinde aus SA und SS Mitgliedern zusammen. Der Gottesdienst am
9.11. wurde verbunden mit einem Gedenken an den Tod des Gemeindemitgliedes
Gerhard Landmann. Statt einer ursprünglich geplanten Gedenktafel in der Kirche
wurde ein Gedenkstein in der Kirchenmauer geschaffen. Seine Inschrift lautete:
Gerhard Landmann, geb. am 6. Juni 1904, unser Gemeindeglied, starb als SS-Mann
für sein Vaterland am 30. Juni 1933“. Gemeindepfarrer Brutzer mahnte die Gemeinde:
„Möge diese Inschrift gelesen werden von allen, die sich im Gotteshaus sammeln,
um dem die Ehre zu geben, von dem und durch den und zu dem alle Dinge sind.
Möge ein Jeder, der sich deutsch nennt, es für seine heiligste Pflicht ansehen,
für die Ehre des Vaterlandes einzutreten.“ Dann intonierte die Orgel das Lied
von sog. guten Kameraden, beim Singen erhob die „Gemeinde“ die Hand zum
Hitlergruß.[22]
So besetzte die Partei mit ihrem Ideenschmalz den kirchlichen Raum. Der andere
Magnipfarrer Wilheln Rauls begegnete im Harz der Mutter des von eigenen
SS-Leuten versehentlich erschossenen Sohnes Gerhard und zeigte sich befriedigt,
dass für ihren Sohn umgehend zehn andere Männer in Rieseberg als Rache
erschossen worden seien.[23]
Wenige Tage vorher wimmelte es im Dom von SA, SS, Stahlhelm,
Kriegervereinen, HJ, studentischen Korporationen. Fahnenträgern schritten unter
den zum Hitlergruß erhobenen Händen bis vor den Altar. Am 29. Oktober gedachte
diese Versammlung, die man kaum als Gemeinde ansprechen kann, des 18. Todestages
von Oswald Boelcke, eines Hauptmanns einer Jagdstaffel, mit zahlreichen
Luftsiegen, dessen Maschine jedoch mit einer deutschen Maschine kollidierte,
wobei Boelcke tödlich abstürzte. Boelcke wurde zu einer Militärikone des 1.
Weltkrieges. Im Dom predigte Otto Jürgens über „Wisset ihr nicht, dass auf
diesen Tag ein Fürst und ein Großer gefallen ist?“ (2. Sam 3,38) Man lebe ja
heutzutage Gott sei Dank in einem anderen Deutschland, „in dem wir wieder ohne
zu erröten an die Gräber unserer Toten treten können.“ Boelcke sei unbesiegt
geblieben, „ein hohes Vorbild der Pflichterfüllung und des Opfersinns.“
Jürgens begrüßte Hitlers Austritt aus dem Völkerbund als ein entschiedenes Nein
„gegenüber der bisherigen Politik der Erfüllung und der Schande“. Nach der
Predigt das Lied vom sog. guten Kameraden, wozu die Fahnen pathetisch gesenkt
wurden, Gebet, Segen und Ein feste Burg.[24]
In den militanten Staat Hitlers fügte sich diese Art von Gottesdienst genau
ein.
Der zweite Braunschweiger Landesbischof wird im Dom in sein Amt eingeführt,
Januar 1934
Die deutsch-christliche Herrschaft in Stadt und Land
Braunschweig erreichte mit der Einführung von Wilhelm Beye zum zweiten
Landesbischof der Landeskirche am 21. Januar 1934 im Braunschweiger Dom ihren
Höhepunkt. Beye war erst vier Jahre Gemeindepfarrer in Wenzen, in der Nähe von
Einbeck gewesen, im August 1933 zum Oberkirchenrat ernannt und am 12. September
zum Landesbischof gewählt worden. Nur die Einführung hatte sich hinausgezögert.
Beye war für das Amt viel zu jung, 30 Jahre alt, im Mai 1903 geboren, aber
Jugend galt als Trumpf. Auch Hitler konnte im Vergleich zu seinen Vorgängern im
Kanzleramt als junger Mann gelten. Beye war keine theologische Leuchte. Er
hatte das erste Examen und auch das zweite theologische Examen in Wolfenbüttel
wiederholen müssen. Der Prüfungsvorsitzende Landesbischof Bernewitz soll
während der Prüfung gemurmelt haben: „Ich kann nicht ansehen des Knaben
Sterben“, ein Zitat über einen Sohn Abrahams (1. Mose 21,16)[25],
aber die Parteiarbeit und die Glaubensbewegung der Deutschen Christen hatten
ihn hochgespült. Die Braunschweiger Tageszeitung veröffentlichte das neue
Bischofskreuz, das ihm umgehängt werden sollte. Es hing an einer Kette mit
kleinen, eingelassenen Hakenkreuzchen. Schlechtes Omen: es war nicht
rechtzeitig fertig geworden. Das offiziöse Foto zeigt Beye ohne sein neues
Hakenkreuzdienstkreuz. Die Landeskirche hat sich nach 1945 dieses Bischofs
geschämt und wollte die Erinnerung an ihn tilgen. Es gibt bis heute keine
Darstellung von ihm, ist auch nicht vorgesehen. So war es schon eine ziemliche
Provokation, dass Ottmar Palmer in der ersten Darstellung der Landeskirche über
jene Zeit im Jahre 1961 seitenweise den Text der Braunschweiger Landeszeitung
zu dieser Einführung zitierte.[26]
Zur Einführung am 21. Januar 1934 hatte die BTZ unter der
Überschrift „Blut-Boden-Glaube“ ein Interview mit den künftigen Bischof Beye
veröffentlicht, in dem er seine frühen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus
an der Universität Tübingen hervorhob.[27]
Beye hatte sich zum Nachteil seines Theologiestudiums einem studentischen
Bataillon angeschlossen, das in den umliegenden Dörfern kommunistische Nester
aushob. Bei einem Parteitag in Nürnberg 1923 habe er Hitler erstmals erlebt und
gesehen. Das Interview sollte verdeutlichen, dass lupenreine Loyalität zu
Hitler und seiner Partei deutlichen Vorrang vor theologischen Kenntnissen
hatte. Zu seiner Einführung waren der deutsch-christliche Reichsbischof Müller
nach Braunschweig gekommen und zahlreiche weitere deutsch-christliche
Prominenz. Im Dom hatten die Spitzen des Landes, der Behörden und der
Reichswehr Platz genommen, ein Fahnenmeer war vom Schlossplatz in die Kirche
marschiert und hatte sich um den Altar platziert, 100 Pfarrer hatten sich in
der Katharinenkirche versammelt und waren in feierlichem Zug in den Dom
marschiert. „Heil Hitler, Heil Hitler, Heil Hitler, Heil Hitler“ grüßten Große
und Kleine am Straßenrand in allen Ton und Lautstärken, obwohl er gar nicht da
war. Der sog. deutsche Gruß hatte sich völlig eingebürgert, ein besonders
seltsames Phänomen. Die Orgel intonierte Bach, die Singakademie schmetterte
Händels „Denn die Herrlichkeit Gottes des Herrn“ aus dem Messias, und an den
aktuellen erinnerte der Reichsbischof in seiner Predigt. „Halten wir nicht dem
Manne, den Gott uns geschenkt hat, die Treue bis zum Letzten, dann ist auch für
Deutschland das Letzte gekommen, dann gibt es nur eins: Chaos und Untergang“[28].
Daneben gelte es die Wahrheit Christi und des Heilandes zeitnah der Bevölkerung
zu verkündigen. Diese „aus unserm Blut erwachsen, solle in den Gotteshäusern
neue Kraft und neue Freudigkeit finden, um den Lebenskampf führen zu können“.
Kitsch, Frömmigkeit und Pathos trieften von der Kanzel. Das Treuegelöbnis galt
nicht nur den Ordnungen der Landeskirche, sondern auch „dem Führer“ und dem
Reichsbischof. Beye gelobte es, so wahr ihm Gott helfe. Die Figur Hitlers
durchzog denn auch die folgende Predigt des neuen Landesbischofs, angefangen
von dem Parteimärchen der Errettung durch ihn aus der bösen Weimarer Zeit, am
Ende ein langes Zitat aus dem frommen Schluss von Hitlers Rede am 1. Mai, das
Hitler mit „Amen“ beschlossen hatte. Dazwischen der Appell: „Du, deutscher
Mann, geh in deiner Mannesgeltung, die du dir im stolzen Schritte der SA wieder
erkämpft hast, und sei wieder Prediger deiner Brüder im Braunhemd.“ Die
deutsch-christliche Predigt reduzierte sich auf den Anruf Hitlers und Gottes,
und zwar in dieser Reihenfolge und in zackigen Appellen. „Du, deutsche Frau,
sieh dir deine Nachbarin an, lehr die wieder beten“. Dazwischen „Nun bitten wir
den heilgen Geist“ und „Mein Schöpfer steh mir bei“. Am Ende war der Dom bis in
den letzten Winkel von diesem Irr- und Mischmaschglauben entweiht und
verschmutzt.
An diesen Nachmittagsgottesdienst schloss sich noch eine
Festversammlung in der Stadthalle an der Celler Straße an, die mehrere Tausend
Personen fasste. 5000 Programme waren gedruckt worden. Es war wie bei den
deutsch-christlichen Versammlungen üblich, Parteispalier von SS Männern, SA
Kapelle, Reden, immer dieselbe Masche. Der Badenweiler Marsch zu Beginn,
Kirchenchöre mit „Nun lasst uns Gott, dem Herren“ und „Sei Lob und Ehr“, am
Ende das unvermeidliche und viel missbrauchte „Ein feste Burg“ mit
abschließendem Horst Wessel Lied.
Die von der Regionalpresse groß herausgestellte
Veranstaltung sollte das enge Verhältnis von Landesregierung, Stadt, Partei und
Landeskirche und Stadtpfarrerschaft demonstrieren. Es sollte außerdem über die
Stadt in die evangelische Kirche in Deutschland hinausstrahlen und zeigen, dass
die Deutschen Christen noch da sind, denn sie hatten seit dem 13. November 1933
einen enormen Bedeutungs- und Mitgliederverlust erlitten. Damals hatte auf
einer zentralen Sportpalastveranstaltung der Berliner DC Führer Krause die
Abschaffung des Alten Testamentes gefordert. Reichsbischof Müller hatte seine
Mitgliedschaft bei den Deutschen Christen niedergelegt. Außerdem stand immer
noch sein Empfang bei Hitler als staatliche Anerkennung als Reichsbischof aus.
Aber auch nach innen hatte der Tag seine Schönheitsfehler.
Der Vorgänger, Landesbischof Bernewitz, war nicht erschienen. Es wurde auch
keine Grußadresse vorgelesen. Die Stadtpresse hatte sein vom Zaren verliehenes
Ehrenkreuz abgebildet, das Bernewitz in Ermangelung eines Amtskreuzes seit
seiner Einführung im September 1923 als Bischofskreuz getragen hatte. Beye
indes wollte nicht „das Russenkreuz“, es trug noch kyrillische Buchstaben,
sondern eben eine eigenes zeitgemäßes mit Hakenkreuzen. Es war auch nur die
Hälfte der Pfarrerschaft erschienen. Ein Drittel hatte sich seit November 1933
im Pfarrernotbund zusammengeschlossen und dem Bischof die Gefolgschaft
aufgekündigt. Von der Braunschweiger Stadtpfarrerschaft fehlte der Hausherr des
Domes. Mit der Ankündigung der Einführung brachte die städtische Presse die
Nachricht, dass der Domprediger Karl v. Schwartz vom Dienst beurlaubt sei. Das
war ein primitives Menschenopfer auf dem Altar deutsch-christlicher Räson. Die
Domgemeinde war dem Spektakel wohl ferngeblieben.
So lag über dem fromm-nazistischen Getöse ein Schatten, der
sich in den nächsten Monaten bedrohlich ausweiten sollte.