Der sensationelle Prozess der Braunschweiger Staatsanwaltschaft gegen den
deutsch-christlichen Landesbischof Beye vor dem Braunschweiger Landgericht im
März 1934 [1]
Stadtgespräch und ganzseitig in der Stadtpresse als
Stadtereignis groß aufgemacht war die Tatsache, dass der Braunschweiger Bischof
im März 1934 vor der 2. Strafkammer des Landgerichts auf der Anklagebank saß.
Vor sechs Wochen erst hatte die oberfeierliche Einführung im Braunschweiger Dom
mit Reichsbischof und allerlei deutschchristlicher und parteiamtlicher
Prominenz und dem dazugehörigen pi pa po stattgefunden. Nun titelte die
Parteipresse formgerecht „Der Prozess gegen Landesbischof a.D. Beye“, aber
nicht ohne Häme.[2]
Sowas hatte man auch im „Dritten Reich“ nicht alle Tage. A.D. „Ausser Diensten“
war formgerecht deshalb, weil bereits am 21. Februar als „Bevollmächtigter der
Deutschen Evangelischen Kirche“ Oberkonsistorialrat Evers vom Reichsbischof
eingesetzt war, um die dienstlichen Geschäfte im Landeskirchenamt zu führen.
Gerüchte liefen schon einige Wochen vorher. Es machte die Runde, dass am 30.
Januar Anzeige gegen den Bischof wegen Betrugs, Unterschlagung und Verleitung
zur Urkundenfälschung erstattet worden war. Am 10. Februar hatte Beye OKR Dr.
Breust förmlich von der Anzeige unterrichtet und ihn um Beurlaubung für sechs
Wochen gebeten. Damit war Beye nicht mehr im Landeskirchenamt tätig, was sich
innerhalb der Pfarrerschaft herumsprach. Nun kam für Beye viel darauf an, die
Ermittlungen möglichst in die Länge zu ziehen, um Zeit zu gewinnen. Dazu trafen
sich OKR Dr. Breust, Beye und Oberstaatsanwalt Rasche.
Beye hatte in Breust einen zuverlässigen Bekannten, der ihn
unbedingt im Amt als Bischof behalten wollte. Dazu hatten zahlreiche Gespräche
in Braunschweiger Ministerien und in Berlin von OKR Dr. Breust und Beye mit
Reichsbischof Müller und von Oberstaatsanwalt Rasche mit dem Leiter der
Pressestelle der Berliner Kirchenkanzlei Nikolaus Christiansen stattgefunden.
Aber die Staatsanwaltschaft beschleunigte die Ermittlungen, schloss sie nach
wenigen Tagen ab und beantragte am 17. Februar, das Hauptverfahren zu eröffnen.
Der Vorsitzende der Strafkammer Heinrich Lachmund teilte dem Reichsbischof am
20. Februar mit, dass im März das Hauptverfahren eröffnet werde. Am 24. Februar
informierte OKR Dr. Breust die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des
Landeskirchenamtes, dass Landesbischof Beye sein Amt am 23. Februar
niedergelegt habe. Staatsrat und Präsident des Landeskirchentages Bertram
berief den Landeskirchentag zum 24. Februar in das Landtagsgebäude ein, stellte
Oberkonsistorialrat Evers vor und teilte das Schreiben mit, in dem Beye dem
Landeskirchentag seinen Rücktritt mitgeteilt hatte. Damit war die Eröffnung des
Verfahrens für die Eingeweihten keine Überraschung mehr, aber sein Ausgang war
offen.
Es war im Grunde eine Kleinigkeit, um die es vor dem
Landgericht ging und die man auch „unter der Hand“ hätte regeln können. Beye
hatte in seiner Dorfgemeinde zeitweise die sehr geringen Beträge der
Sonntagskollekten etwas lässig abgerechnet. Das könnte man gegen die
ausgelegten Telephongebühren, sozusagen intern, abrechnen, meinte er. Bei
einer Rechnung für Reparaturarbeiten im Pfarrhaus hatte Beye auf zwei
getrennten Rechnungen von Arbeiten für die Kirchengemeinde und für das Pfarrhaus
bestanden, dann aber den Klempnergesellen veranlasst, die Rechnungsposten zu
Lasten der Kirchenkasse und zugunsten der Privatschatulle des Ortspfarrers zu
verändern. Für Beye waren das Kleinigkeiten, die er noch vor seinem Weggang aus
der Gemeinde erledigen wollte, aber das Bischofsamt ging für ihn nun mal vor.
Beye hatte in seiner Gegend Neider und Feinde aus
Parteikreisen, die eine Anzeige gegen ihn am 29.1. erstattet hatten. Bevor sich
jemand zu einem solchen Schritt entschließt, müssen vorher schwere
parteiinterne Dinge vorgefallen sein. Man sprach davon, Beye habe einen
„Parteifreund“ ins KZ gebracht und die andern würden auch noch folgen, habe er
gesagt. Beye markierte im kleinen Dorf Wenzen den Ortsgewaltigen, den man zu
fürchten habe.
Die Staatsanwaltschaft musste entscheiden, ob sie die
Anzeige weiter verfolgen wollte und befragte den Bischof erstmals am
geschichtsträchtigen Datum, dem 30. Januar. Es war nachmittags, Beye hörte die
Führerrede am Rundfunk und präparierte sich nebenbei für den Gottesdienst in
der Wolfenbütteler Marienkirche, der zu diesem Anlass angesetzt war.[3]
Das Gespräch mit dem Staatsanwalt Rasche verlief entspannt. Für die
Staatsanwaltschaft war die Anzeige zunächst kein großer Fisch. In einem
Gespräch zwischen dem Justizminister Alpers und Oberstaatsanwalt Rasche war zur
Erleichterung beider der Eindruck einer Nebensächlichkeit entstanden, die in
sich zusammenfallen würde.
Als aber Rasche am folgenden Tag vor Ort in der Dorfgemeinde
ermittelte, fühlte er sich ausgebremst, von Parteisympathisanten Beyes gestört,
die in Parteiuniform mitten in ein Ermittlungsgespräch platzten („So geht das
hier nicht“) und ermittelte nunmehr besonders penibel auf Mark und Pfennig.
Für Beye war die ganze Sache eine Intrige des Pfarrernotbundes.
Ihm war verdächtig, dass der Vorsitzende Richter Lachmund ein Vetter des
Pfarrernotbundvorsitzenden Heinrich Lachmund in Blankenburg war. Er
verdächtigte seinen Vikar Elster, dieser sammle in der Gemeinde Material gegen
ihn. Daher hatte Beye Elster kurzerhand aus Wenzen abberufen und zum
Kreispfarrer Teichmann nach Sambleben versetzen lassen, wo er keinen
Hausbesuche machen sollte und keinen Heimaturlaub erhielt. Die Kampfstaffel
Deutsche Christen um den Martinipfarrer Hermann Grüner hatte ein Dossier
angelegt und Beye gezeigt, in dem auch der Oberstaatsanwalt familiärer
Verbindungen zu Sympathisanten des Pfarrernotbundes verdächtigt wurde.
Für den Wenzener Kirchenvorstand war der Vorfall nichts
weiter als eine gottverdammte Bummelei ihres Pfarrers. Ein paar Mal war die
überhöhte Rechnung von 83,-- RM im Kirchenvorstand besprochen worden. Dort
hatte sie auch Vikar Elster mitbekommen. Immer wieder hatte Beye den
Kirchenvorstand hingehalten anstatt beschleunigt den Betrag zu bezahlen. Beye
hatte sich angewöhnt,
Außenstände erst nach mehrfachem Mahnen oder gar nicht zu
bezahlen. Nach dem rauschenden Fest am Abend seiner Einführung in einem Hotel
rief er dem Ober zu, er möge ihm eine Rechnung zuschicken. Dieser war um das
Trinkgeld geprellt und Beye bezahlte nicht die Rechnung. Erst als er bei einem
erneuten Besuch nicht mehr bedient wurde, bequemte er sich. Beye zeigte beim
Umgang mit Geld eine Mischung aus Dreistigkeit und Hilflosigkeit, wobei die
Dreistigkeit meist siegte.
Nach der Umsiedlung der Familie Beye nach Wolfenbüttel im
Oktober 1933 in die vom Vorgänger Bernewitz geräumte Dienstvilla hatte sich der
Kirchenvorstand sogar nach Wolfenbüttel begeben und ihren Pastor, den
nunmehrigen Bischof, an die Begleichung erinnert. Beye indes verkehrte dienstlich
schon in anderen Kreisen, war viel in Berlin, wobei ihn Pfarrer Grüner oft
begleitet hatte, ihm kam die Mahnung einfach zu popelig vor. Mit so was
behelligte man nicht den Bischof, noch dazu kurz vor seiner Einführung. Es
hatte auch keine geordnete, zeitgerechte Geschäftsübergabe durch den
zuständigen Kreispfarrer Krumwiede in Holzminden stattgefunden.
Der Stadtöffentlichkeit war Beye durch sein öffentliches
Auftreten beim Handelstag und beim Lutherjubiläum auf dem Hagenmarkt vor
Tausenden ein Begriff wo er mit seinem flotten, freien Redetalent Eindruck
geschunden hatte. Für diese Stadtöffentlichkeit schien der Prozess und seine
Folgen offen. Die einen erhofften sich durch einen Freispruch die Rückkehr
Beyes ins Bischofsamt und eine vernichtende Enttarnung der Machenschaften des
Pfarrernotbundes, andere befürchteten durch eine Verurteilung den endgültigen
Fall des Kirchen-Stars, als der sich der 30-jährige Beye forsch präsentierte.
Der nicht kleine Teil der keiner Kirche angehörenden Städter mag sich die Hände
gerieben haben: so ist das in und mit der Kirche. Heuchler von A bis Z, wenn
man erst mal dahinter leuchtet.
Das öffentliche Interesse war sehr groß, als der
Landgerichtspräsident Friedrich Lachmund am Sonnabend, dem 10. März, morgens um
9.00 Uhr die Verhandlung eröffnete. Die Zuschauertribünen waren voll besetzt,
auch von einigen Pfarrern und von strammen DC Leuten, die sich mit
Zwischenrufen und Klatschen an der Verhandlung beteiligten, was jedoch der
Vorsitzende strikt unterband. Beisitzende Richter waren Landgerichtsrat Lerche
und Landgerichtsrat v. Griesbach. In dieser Zusammensetzung tagte auch seit
April 1933 das gefürchtete Sondergericht und hatte sich als scharfe Waffe gegen
alle Abweichler des Systems „bewährt“.[4]
Die Öffentlichkeit lernte jedoch eine ganz andere Seite von
Lachmund kennen.[5]
Die Zusammensetzung entpuppte sich als eine der Kirche durchaus freundlich
gesonnene Strafkammer. Lachmund stammte aus einer Pastorenfamilie, und kannte
sich aus eigenem Erleben mit den Gewohnheiten eines Pfarrhauses und dem
Abrechnen von Kollektengeldern im Amtszimmer aus. Lerche gehörte zu einer in
Braunschweig hochangesehenen Pastorenfamilie mit kirchlichen Bindungen, die ihn
nach dem Kriege für den Posten eines Oberlandeskirchenrates in der Wolfenbüttler
Kirchenbehörde empfahlen. v. Griesbach galt als strammer Nationalsozialist.
Neben den drei Juristen saßen noch Abteilungsleiter Paul
Hohle aus Braunschweig und der Landwirt
Karl Meyer aus Boffzen als Schöffen. Diese sollten im Hintergrund die
entscheidenden Figuren in dem Prozess werden.
Diesem Landgericht saßen drei Verteidiger gegenüber,
Rechtsanwalt Dr. Brückel aus Hildesheim und Dr. Jürgens aus Wolfenbüttel als
Verteidiger von Beye und Rechtsanwalt Robert als Verteidiger des mitangeklagten
Kley sowie Rechtsanwalt Kahn. Die beiden arbeiteten in einer Sozietät zusammen.
Rechtsanwalt Jürgens kannte den Betrieb des Landeskirchenamtes und der
Landeskirche von vielen Prozessen, die er vor 1933 als Syndikus für die
Landeskirche zu bearbeiten hatte. Er wurde 1935 als Oberkirchenrat in die
Behörde eingestellt. Die Anklage vertraten Oberstaatsanwalt Rasche und
Staatsanwalt Seeligmeyer.
Es wurden elf Zeugen aufgerufen, darunter der Küster, der
Kirchenkassenrechnungsführer, der Vikar, der Bürgermeister, der Dorfpolizist
und die Arbeitergeberfamilie des Mitangeklagten Klempners Karl Kley, ein
anschauliches Kaleidoskop eines kleinen Dörfchens im Braunschweigischen. Da war
mit einem schnellen Ende nicht zu rechnen.
Prominentester Zeuge war der Regierungspräsident Dr.
Heinrich Muhs aus Hildesheim, der vor 1933 Gauleiter gewesen war und den
fabelhaften „restlosen“ Einsatz des Ortsgruppenleiters und Dorfpastors Beye für
die nationalsozialistische Bewegung bezeugte.[6]
Zunächst aber wurden die Beklagten vernommnen, als erster
mit sichtlicher Anteilnahme des Vorsitzenden und allerlei Formulierungshilfen
der 29jährige Klempner Karl Kley. Kley schilderte nun treuherzig, wie er den
Pastor immer und immer wieder mahnen musste, die Rechnungen endlich zu bezahlen
und wie Beye ihn schließlich aufforderte, Posten für das Pfarrhaus auf die
Rechnung für die Kirchengemeinde umzuschreiben. Auf der fingierten Rechnung
waren auch Arbeiten aufgezählt, die gar nicht durchgeführt worden waren, wie
Dachrinnen, Steckdosen, Eisenringe auf dem Ofenloch in der Küche. Also eine
normale „Schummelei“, wie sie nun so selten nicht ist und nicht auffliegt, wenn
sich alle Beteiligten einig sind. Bei seiner Vernehmung in Wenzen hatte Kley
erst lange herumgedrucktst, und der Oberstaatsanwalt hatte ihm schließlich gut
zugeredet: „Na, Herr Kley, nun wollen wir einmal in ihrer Sprache mit einander
reden. Antworten Sie einmal klipp und klar auf folgende Frage: Hat der Pastor
Beye gemogelt oder nicht? Darauf hat er mir wörtlich geantwortet: Ja, das ist
richtig“.[7]
Durch das Geständnis von Kley war die Anzeige erst tatsachenfest geworden.
Wilhelm Beye kehrte in seiner Vernehmung den verdienten
Parteigenossen heraus, der viel persönliches Geld in seine Parteiarbeit
gesteckt, Fahnen gekauft, im Pfarrhaus ein Parteibüro eingerichtet und öfters
fünf bis zehn SA Leute abends mit nach Hause genommen hatte. Er hatte in der
Dorfkneipe auch manche Runde geschmissen, und man erzählte sich, der
Schwiegervater hätte viel Geld. Tatsächlich hatte dieser seinem Schwiegersohn erst
vor einem Jahr ein Auto Marke Opel geschenkt, das jener für die vielen
auswärtigen Parteiversammlungen brauchte, anderes wurde auf ein Sparbuch
gebracht. Beye war, so erweckte er den Anschein, nicht klamm mit Geld, er
konnte damit aber nicht umgehen. So hatte er auch Unregelmäßigkeiten in der
Parteikasse vor Prozeßbeginn ausgebügelt.
Beye hatte sich für seinen Auftritt vor dem Landgericht zu
Hause das Parteiabzeichen an die Jacke geheftet als Zeichen für seine Treue für
Führer, Volk und Vaterland. Bei seiner Vernehmung trumpfte er sofort auf und
erklärte dreist wie großspurig zu beiden Punkten der Anklage: „Ich erkläre hier
mit Nachdruck, dass ich beide Vorwürfe zurückweise als infame Lüge“. Der
Vorsitzende unterbrach ihn: „Ich sehe eben, dass Sie das Abzeichen tragen, das
Hoheitsabzeichen. Das ist nicht erlaubt, wenn man als Angeklagter vor Gericht
steht. Darf ich Sie bitten, es einzustecken!“ Beye steckte das Abzeichen
wortlos ein.[8]
. Das wirkte für ihn ernüchternd.
Vergeblich versuchte der Vorsitzende dem Angeklagten ein
Geständnis für die Bummelei mit den Kollekten zu entlocken. Dabei entstand
folgendes Bild des kirchlichen Alltags nach einem Gottesdienst. „Was ist denn
nun mit diesen Geldern geschehen?“ fragte der Vorsitzende. Der Kirchendiener wäre
mit Ihnen an den Schreibtisch gekommen und hätte mit Ihnen abgerechnet, wo
blieb das Geld? Beye: „Das Geld hatte ich in einer Blechdose, die stand in
meinem Schreibtisch. Da kam das Geld hinein, und ließ sich dann sehr leicht
nachrechnen.“[9]
„Ich lieferte meine Kollekten ab, auf dem einen Zettel aufgeführt mit der
Endsumme, und ich lieferte gleichzeitig dem Kirchenrechnungsführer für dieselbe
Zeit einen anderen Zettel ab, worauf meine persönlichen Auslagen im Interesse
des Dienstes und Amtes verzeichnet waren, die stets ein Mehrfaches dieser
Kollektenbeiträge aufwiesen, und da war dann praktisch eine Aufrechnung
erfolgt.“ [10]
Der Vorsitzende vermutete, dass Beye auch für persönliche Einkäufe in die
Blechdosenkasse im Schreibtisch gegriffen habe. Das bestritt Beye vehement,
schilderte aber folgenden Fall aus dem kirchlichen Alltag: „Nein, aber es ist
so gewesen: Wenn ich meine Kollektenkasse hatte und es waren einige Mark darin,
und dann kam der Briefträger mit der Nachnahme vom Amtsblatt, das die Kirche zu
bezahlen hatte, dann habe ich das ruhig aus der Kollektenkasse herausgenommen
und hatte ja meinen Beleg für das Amtsblatt und habe dann mit dem
Rechnungsführer abgerechnet. Daraus lässt sich keinem Menschen ein Vorwurf
machen.“[11]
Die Behandlung dieses Vorwurfs betr. Kollektengelder
erzeugte eine unterhaltsame Stimmung im Landgericht. Der Vorsitzende Lachmund
unterbrach den Redeschwall Beyes: „Ich sehe eben, dass im Zuschauerraum
gefrühstückt wird. Ich mache darauf aufmerksam, dass hier keine Stehbierhalle ist.
Ich verbitte mir das!“ [12]
Der Pastor Faust aus Geitelde hatte sein Brot ausgepackt, denn es war
Vesperzeit in Geitelde.
Auch der Oberstaatsanwalt stocherte im kirchlichen Alltag
und wollte Schulden von Beye nachweisen. Wie viele andere Kirchengemeinden hatte
auch die Gemeinde Wenzen von der Buchhandlung Wollermann und Bodenstab am
Bohlweg Zeitschriften, Kalender und Broschüren zum Vertrieb zugeschickt
bekommen, die dann abgerechnet werden mussten. Da war ein Betrag von 60 RM
offen, den Wollermann vergeblich anmahnte. „Die Sorgen um die Finanzgebaren hat
meine Frau im großen und ganzen getragen, und ich bitte auch, meine Frau zu
fragen, wie die weitere Regelung dieser Angelegenheit von ihr gemacht worden
war oder ist, ich kann darüber keine Auskunft geben.. Ich habe keine Zeit
gehabt, mich im einzelnen um diese Dinge zu kümmern. Ich weiß nur, dass
zwischen der Buchhandlung Wollermann und Bodenstab und mir zweimal Differenzen
gewesen sind, die auch in die Rechnungen hineinspielen. Einmal die Lieferung
von Volksblatt-Kalendern. Die kriegte man einfach zugeschickt; dann hieß es:
hier hast du 90 Kalender, nun sieh zu, wie du die los wirst.. Vorsitzender:
„Damit brauchen wir uns im einzelnen nicht zu beschäftigen. Das interessiert
nicht. Beye: Daraus setzt sich die Summe aber zusammen. Vorsitzender: Das
interessiert nicht, woraus sie sich zusammensetzt“.[13]
Da trafen Alltag und die Versuche, Beye zu einem Eingeständnis zu bewegen,
Schulden zu haben, aufeinander. Der Beklagte blieb bei seinen Behauptungen.
Beye hatte tatsächlich bei einer Reihe von Firmen Schulden, wie spätere
Ermittlungen ergaben.
Um 12.45 wurde die Verhandlung unterbrochen und am
Nachmittag kurz vor zwei Uhr für weitere fünf Stunden bis 19.00 mit den
ausgiebigen und sich verzettelnden Zeugenvernehmungen fortgesetzt, die kein
Geständnis des beklagten, hartnäckigen Bischofs beförderten.[14]
Die ungewöhnlichste und längste Zeugenvernehmung beschloss den Nachmittag: die
Zeugenaussage des Oberstaatsanwalt Rasche. Er hatte das Bedürfnis, seine
ungewöhnlichen Erlebnisse bei den Ermittlungen in das Verfahren einzuführen. Er
war von Beye schwer angegriffen und der Zusammenarbeit mit dem Pfarrernotbund
verdächtigt worden. Das wollte Rasche aus der Welt schaffen. Außerdem
behauptete Beye, Rasche habe ihm am Ende einer Vernehmung den Rat gegeben, sich
eine Kugel in den Kopf zu schießen. Jetzt schilderte Rasche die damalige
Situation: „Der Angeklagte hat sich von mir verabschiedet mit erhobener Hand,
und ich habe auch die Hand erhoben. In der Tür hat sich der Angeklagte
umgedreht, ist wieder in das Zimmer gekommen und hat sich vor meinen
Schreibtisch gestellt und hat mich gefragt: Können Sie mir einen Rat geben?“
Diese Frage stellte er augenscheinlich unter dem Eindruck „Es ist verloren“.
Darauf habe ich gesagt: „Herr Landesbischof, ich will mich in Ihre Beziehungen
zwischen Ihnen und der Kirche nicht einmischen; das ist Ihre Sache“ –
wohlgemerkt: die Vernehmung war zu Ende – „aber“, habe ich ihm dann gesagt:
„wenn Sie als Mann den Mann fragen und wenn Sie Hitler und Ihr Vaterland
wirklich so lieben, wie Sie es immer gesagt haben, dann handeln Sie nach dem,
was Sie Deutschland angetan haben, so wie ein deutscher Mann in einer solchen
Situation zu handeln pflegt“. Das habe ich dem Angeklagten Beye gesagt.“[15]
Beye hatte den Oberstaatsanwalt richtig verstanden. Er sollte sich erschießen.
Rasche legte Wert darauf, dass dieser Rat privater Natur war und nicht mehr im
Zusammenhang mit der Vernehmung gegeben worden war. Außerdem sollte die
Situation ein außerordentliches Schuldeingeständnis Beyes beschreiben, zu dem
sich Beye im Laufe des Prozesses zum Ärger des Oberstaatsanwaltes immer noch
nicht bequemt hatte. Rasche führte auch den ermittelnden Polizeiinspektor als
Zeugen vor, der bei einer Gegenüberstellung von Beye mit Kley den deutlichen
Eindruck eines Schuldbewusstseins von Beye hatte. Die Beweise waren erdrückend,
und die persönliche Verteidigung Beyes belastete ihn zusätzlich. Er machte auf
den Vorsitzenden den Eindruck eines Mannes von „skrupelloser Gesinnung“, und nicht
„eines Geistlichen mit einer normalen ethischen Gesinnung“.
Rasche enthüllte auch den kirchenpolitischen Hintergrund, um
die Behauptung Beyes zu entkräften, dass er ein Opfer des Oberstaatsanwaltes
sei. Er war im Auftrag des Justizministers Alpers nach Berlin zum Reichsbischof
gefahren, der dem frisch eingeführten Braunschweiger Landesbischof keine
Rückendeckung mehr bot. Reichsbischof Müller ließ den Vorgang durch
Ministerialrat Jäger Göring melden. Aber auch Vizepräsident Christiansen habe
Beye anlässlich seines Besuches bei Alpers fallengelassen. „Ja, er muss weg;
das ist das Beste.. das Beste ist, wir geben ihm eine kleine Schreiberstelle
innerhalb der Kirche, dann ist er gut untergebracht, und dann ist die Sache
erledigt,“ hatte er gesagt.[16]
Diese Aussage hatte den Zweck, eine Rückkehr von Beye auf den Bischofsstuhl
endgültig zu verhindern, unabhängig von dem ausstehenden Urteil.
Schließlich zitierte der Oberstaatsanwalt den
Ministerpräsident Klagges zu dem Fall, der dann auch von der Presse weiter verbreitet
worden ist. „Wir stellen uns vor jeden alten Kämpfer und vor jeden alten
Parteigenossen; aber da, wo das Strafgesetzbuch anfängt, da muss unsere
Solidarität aufhören“.[17]
Klagges hatte vielmals bereits gegen diesen Grundsatz selber verstoßen, aber
hier machte sich ein moralischer Grundsatz gerade gegenüber einem Kirchenmann
gut öffentlichkeitswirksam.
Kurz vor 19.00 Uhr war der erste Verhandlungstag zu Ende.
Lachmund berief das Gericht für den nächsten Tag, Sonntag den 11. März, um
10.00 Uhr zusammen.[18]
Aber in Rücksicht auf den Gottesdienst im Dom begann die Sitzung erst um 11
Uhr. Es war der vierte Passionssonntag Lätare („Freue dich“). Die Verhandlung
zog sich von einer viertelstündigen Mittagspause unterbrochen, bis 16.00 hin,
weil der Staatsanwalt und vor allem die drei Verteidiger sehr ausführlich
plädierten. Das Kollektenverhalten interpretierte Oberstaatsanwalt Rasche als
Unterschlagung im Sinne des § 246 des STGB, aber die Schuld sei gering und die
Folgen unbedeutend. Daher bat Rasche das Verfahren in diesem Punkt
einzustellen. Die Angelegenheit mit der fingierten Rechnung hingegen verstand
der Staatsanwalt als Betrug und Untreue, wog dagegen den ungewöhnlichen Einsatz
Beyes für die Partei ab und beantragte fünf Monate Gefängnis. Für den Klempner
Kley beantragte der Oberstaatsanwalt wegen Mittäterschaft in Anbetracht des
Geständnisses 100 RM oder 20 Tage Gefängnis.
Die Verteidigung hingegen sah alle Schuld bei Kley, der
durch sein Geständnis die Hauptschuld jedoch auf Beye abschieben wollte und
beantragte Freispruch für Beye. Dabei verlas Rechtsanwalt Brückel noch ein
Telegramm der Reichsleitung der Deutschen Christen vom Tage: „Wir stehen in
festem Vertrauen bei Ihnen. Heil Hitler! Reichsleitung Deutsche Christen Dr.
Kinder“[19]
Rechtsanwalt Robert hatte es insofern schwer, weil ein Geständnis seines
Mandanten vorlag, eine Verurteilung also nicht zu vermeiden war. Er plädierte
aber anders als die Staatsanwaltschaft nicht auf Mittäterschaft, sondern auf
Beihilfe und beantragte eine geringe Geldstrafe.
Das Gericht hatte eine Urteilsverkündung nach knapp zwei
Stunden angekündigt, aber sie zog sich doch länger hin, denn sie wich erheblich
vom Antrag der Staatsanwaltschaft ab, und es gab unter den drei Richtern und
den beiden Schöffen offenbar eine unterschiedliche Beurteilung. v. Griesbach
war der Auffassung „einen alten Nationalsozialisten dürfe man nicht
verurteilen“ und hatte sich schroff gegen den Vorsitzenden gewandt. Ihm gelang
es, die beiden Schöffen auf seine Seite zu ziehen und eine Mehrheitsentscheidung
hinter verschlossenen Beratungstüren herbeizuführen. Der Vater v. Griesbachs
erzählte in Braunschweig, Beye habe seinen Freispruch nur seinem Sohn zu
verdanken. [20]
Der Vorsitzende Lachmund war über das Verhalten von v. Griesbach derart verärgert,
das er im nächsten Jahr eine Beförderung nicht empfahl.
Mit Klatschen, Beifall und Bravorufen vernahm das Publikum
um 19.45 Uhr, dass der Beklagte Beye von der Anklage freigesprochen wurde. Das
war nach dem Antrag auf Gefängnisstrafe eine dicke Überraschung. Es war
zugleich eine Ohrfeige für die Staatsanwaltschaft. Allerdings hörte sich die
Urteilsbegründung eher wie die einer Verurteilung an. In vielen Punkten gab
das Gericht der Staatsanwaltschaft recht und hob hervor, dass Beye nur mangels
Beweisen freigesprochen worden war. Also ein Freispruch zweiter Klasse. Beim
Beklagten Kley halbierte das Gericht den Antrag der Staatsanwaltschaft und
verurteilte ihn wegen Beihilfe zu 50 RM Strafe. Das war angesichts des
Geständnisses die geringste Möglichkeit des Gerichtes. Jedoch blieb der
Eindruck, dass der Hauptangeklagte vom Betrugsvorwurf freigesprochen und der
Mittäter wegen desselben Betruges wegen Beihilfe betraft worden war. Während
der Antrag der Staatsanwaltschaft (5 Monate Gefängnis- Geldstrafe) noch die
Balance hielt, ließ des Urteil diese Frage weit offen. Es galt als politisches
Urteil und als Bevorzugung des Hauptangeklagten aus parteipolitischen Gründen.
Lachmund verband die Urteilsverkündung mit einer ernsten
Mahnung, das Urteil nicht kirchenpolitisch auszuschlachten.
Der Prozess wurde von der Regionalpresse gründlich
kolportiert, wobei der viel- und querlesende Braunschweiger einige interessante
redaktionelle Unterschiede feststellen konnte.[21]
Der Braunschweiger Allgemeine Anzeiger (BAA) hatte zu Beginn
des Jahres 1934 die Braunschweiger Staatszeitung aufgeschluckt. Diese war die
staatlich subventionierte, regierungsnahe Stadtzeitung. Er kannte keine
Sonntagsausgabe und überschrieb seinen Artikel am Montag (12.3.) „Verhandlung
gegen den früheren Landesbischof“. Er vermied im Titel jede Wertung. Es ist die
einzige Stadtzeitung, die lediglich an einem Tag berichtete.
Die Braunschweiger Neueste Nachrichten titelte in der
Sonntagsausgabe am 11. März über ihrem vierspaltigen Bericht: „Wilhelm Beye vor
Gericht“. Da sie keine Montagsausgabe herausbrachte, erschien erst am Dienstag
dem 12.3. ein weiterer vierspaltiger ganzseitiger Bericht unter der Überschrift
„ Freispruch im Prozeß gegen Wilhelm Beye.“ Es war eine sachliche Darstellung
und die einzige, die auch das Detail am Beginn der Verhandlung beschrieb, dass
Beye das Parteiabzeichen abnehmen musste. Dieses deklassierende Detail
übergingen die drei anderen Stadtzeitungen und verrieten damit eine vorsichtige
Sympathie für den beklagten Bischof.
Nicht mit dem einfachen Familiennamen, sondern mit dem
Bischofstitel machte die Braunschweiger Landeszeitung ihre Sonntagsausgabe auf:
„Das Verfahren gegen Landesbischof a.D. Beye“. Die Nennung des Titels mochte
auf den Leser noch aufreizend wirken. Am Montag (12.3.) war der
eineinhalbseitige Bericht „Landesbischof a.D. freigesprochen“ betitelt. Dass
der Freispruch lediglich „mangels Beweisen“ ausgesprochen worden war, fügte der
Redakteur nur am Ende innerhalb des Berichtes an. Beim flüchtigen Leser blieb der
Eindruck hängen: Freispruch. Vielleicht bald nicht mehr „a.D.“, sondern wieder
im Dienst. Das war ein deutlicher Akzent pro Beye.
Genauso machte auch die Parteizeitung Braunschweiger
Tageszeitung in ihrer Samstag/Sonntagsausgabe auf: „Der Prozess gegen Landesbischof
a.D. Beye.“ Der Prozess sei „das Unerfreulichste, was wir in den letzten Jahren
erlebt haben“, hieß es zu Beginn. Der Bericht endete wegen des
Redaktionsschlusses schon mit der Einvernahme der beiden Beklagten. Am Montag
jedoch schwenkte die BTZ deutlich zu Gunsten Beyes um und titelten den
eineinhalbseitigen Bericht mit: „Landesbischof Beye freigesprochen“. Das
deklassierende „a.D.“ hatte die Redaktion weggelassen. Der Bericht
suggerierte, dass ein hässlicher Angriff auf einen bewährten Nationalsozialisten
abgeschlagen worden war. Dieser Artikel ging an den Intentionen der
Staatsanwaltschaft und des Staatsministeriums völlig vorbei, die eine
Unschuldvermutung und womöglich eine Wiederkehr strikt verhindern wollten. So
weit reichten offenbar die Fühler in der Redaktion nicht.
Keine Zeitung kritisierte das offen liegende Ungleichgewicht
von Freispruch für den Haupttäter und Geldstrafe für den Nebentäter.
In der regionalen kirchlichen Presse und in den
Gemeindebriefen wurde der Prozess mit keiner Silbe erwähnt. War es aus Schock
oder Beschämung? Oder war man sich der Endgültigkeit des Rücktritts noch nicht
sicher? Dieses merkwürdige Detail ist schwer einzuschätzen.
Beye konnte sich von der Parteizeitung gestärkt der
kommenden Zeit hingeben.
Er tat das auch und blieb in seiner Dienstvilla am Adolf
Hitlerweg (heute Neuer Weg) in Wolfenbüttel sitzen. Er räumte sie auch nicht,
als der Nachfolger im Juni ins Landeskirchenamt einzog, sondern inszenierte im
Stil der deutsch-christlichen Sturmstaffel eine folgenreiche Intrige
zum Sturz des Nachfolgers. Beye wusste nicht, welche Landeskirche ihn aufnehmen
würde, zumal die Staatsanwaltschaft gegen das widersprüchliche Urteil Revision
eingelegt hatte. Die Revisionsverhandlungen zogen sich justizintern noch Monate
hin und erst am 5. Dezember 1935 verwarf der 3. Strafsenat des Reichsgerichtes
in Leipzig die Revision. Solange hatte Beye auf eine endgültige
Wiederverwendung warten müssen.
Die brandenburgische Kirchenleitung verlieh ihm eine
Pfarrstelle im westpreußischen Landsberg an der Warthe. Aber mit dem Aufstieg
des Nationalsozialismus siegte der Parteifanatismus in Beye und die Lust am
Trostamt war ihm vergangen. Er zog den Talar 1941 aus, verzichtete auf alle
Rechte aus seiner Ordination und wurde Parteiredner. Das konnte jedermann im
Amtsblatt der Deutschen Evangelischen Kirche nachlesen. Sein Kollege im Dienst
der Kirche in der westpreußischen Gemeinde Wegner schrieb über ihn, als er sich
1949 wieder bei der Kirche meldete: „Beye war nach dem Ausscheiden aus seinem
Pfarramt Ortsgruppenleiter. Und als solcher sehr aktiv. Er hat jede Gelegenheit
benutzt, der Kirche zu schaden. Bei seinem Ausscheiden aus dem Amt soll er
geäußert haben, er sei froh, nicht mehr lügen zu brauchen. Noch in der
allerletzten Stunde hat er, als die Russen schon vor Landsberg standen, durch
den Drahtfunk eine Ansprache an die Bevölkerung gehalten, in der er die
Bevölkerung zum Ausharren ermunterte mit den Worten: Das Wort Evakuierung ist
aus unserm Sprachschatz gestrichen. Landsberg ist nicht bedroht. Kaum eine
Stunde später hat er selbst sich dann im Kraftwagen auf und davon gemacht.
Verhöre, die Pfarrer Wegner bei Nazistellen, wie z.B. der Kreisleitung über
sich hat ergehen lassen müssen, und bei denen Beye anwesend war, führte er auf
Beye zurück. Er soll auch erklärt haben, dass er bereit sei, der Stapo jede
Auskunft über Pfarrer zu geben. Den Kirchenältesten Eschert hat er verprügelt.
Bis zuletzt ist er in Amtswalteruniform aufgetreten. Unter den Landsberger
Gemeindegliedern herrscht noch heute eine große Erbitterung über Beye. Nach den
Äußerungen Wegners würde es niemand von ihnen verstehen, wenn Beye wieder ins
Amt käme.“[22]
Und in der Stadt Braunschweig? Die Langzeitfolgen des
Lätareprozesses waren erheblich: die Landeskirche erhielt bereits wenige Monate
später einen neuen Landesbischof, die Stadt Braunschweig im nächsten Jahr einen
neuen Propst, der deutsch-christliche Glanzlack, der manche deutsch-christliche
Pfarrer in die Stadt gezogen hatte, war ab. Die Kampfstaffel Deutsche Christen
wurde aufgelöst und seine Begründer Grüner verließ die Martinigemeinde in
Richtung Mecklenburg. Der Katharinenpfarrer lic. Korn übernahm eine Pfarrstelle
in Frankfurt.
Beye hat die Landeskirche nie wieder besucht.