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Otto Dibelius: Das Jahrhundert der Kirche
Kirchlicher Bestseller jener Zeit wurde das Buch des jungen, 46-jährigen kurmärkischen Generalsuperintendenten Otto Dibelius (1880-1967) „Das Jahrhundert der Kirche“, erschienen im Dezember 1926 . Es erreichte in zwei Jahren sechs Auflagen. Es ist ein grundgelehrtes Buch mit vier Kapiteln. Der historische Rückblick bis zur Reformationszeit endet mit der Beschreibung der Novemberereignisse 1918 als „reinigendes Gewitter“. Es habe der Kirche die Freiheit beschert. „Sie war durch den Sturz der Monarchie mit einem Schlage rechtlich freier geworden als zuvor. Sie war zugleich innerlich freier geworden. Einem republikanischen Staat gegenüber konnten die Rücksichten nicht mehr gelten, die auf den König genommen werden mussten. Grundsätzlich war sie frei... Die Arbeit an der Kirche hat jetzt sicheren Grund. Wir haben eine Kirche. Wir stehen vor einer Wendung, die niemand hatte voraussehen können... Das Ziel ist erreicht. Gott wollte eine evangelische Kirche.“ (S. 77). Warum ist das 20. Jahrhundert für Dibelius ein „Jahrhundert der Kirche“? Weil sie in ihm den Ausgang in die Freiheit gefunden und ihn betreten hatte. Im zweiten Kapitel („Buch der Betrachtung“) beschreibt Dibelius die Kirche als soziologische Gestalt, im dritten Kapitel sieht er sich die christlichen Kirchen in der Welt an und vermutet eine „Welle der Kirchenbewegungen“. und im letzten, vierten Kapitel formuliert er mehrere Ziele der damaligen Kirche. Ich greife eines heraus „Der Aufbau aus der Gemeinde“. In der Verfassung der Union stehe der Satz: Die Kirche baut sich aus der Gemeinde auf. Das habe grundlegende Bedeutung, auch wenn das Umgekehrte nicht minder wichtig sei, dass die Gemeinde sich aus der Kirche aufbaut. „Aber wer die evangelische Kirche will, muss immer wieder daran erinnert werden, dass man diese Kirche nicht wollen kann über den Kopf der Gemeinde hinweg..... die Kraft zu allen ihren Aufgaben strömt ihr (der Kirche) aus den Gemeinden zu“ (S.248).
Man könnte meinen, es sei ein „Jahrhundert der Kirchengemeinde“, wenn man auf die damalige evangelische Presse und die Diakonie sieht. Jede Landeskirche hielt damals ein eigenes, mehrseitiges übergemeindliches Kirchenblatt, außerdem die einzelnen Ortskirchengemeinden Gemeindeblätter mit erbaulichen Erzählungen und persönlichen Nachrichten, eine Gesamtauflage von mehreren Millionen Exemplaren. Es war ein weites Kommunikationsnetz, das in Berlin von August Hinderer (1877-1945) geschickt und unabhängig von den Landeskirchenämtern organisiert wurde. Hinderer, ein württemberger Pietist, hat als Chef des Evangelischen Pressverbandes (epd) einen riesigen Pressekonzern in drei Häusern in Berlin Steglitz mit 14 Abteilungen und 14 hauptamtlichen akademischen Kräften geleitet, die sich mit der Presse, auch mit Film, Rundfunk und Volksbildung beschäftigten. Die Gesamtauflage aller kirchlichen Blätter betrug 19 Millionen Exemplare. Der epd produzierte außerdem eine eigene, reichsweite Zeitung „Das evangelische Deutschland“, das sich bis 1945 hielt.
Einen weiteren Höhepunkt in der evangelischen Kirche im Weimarer Staat stellten die Diakonissenmutterhäuser dar. Zu fast jeder Landeskirche gehörte ein vom Landeskirchenamt unabhängiges Mutterhaus, in dem Hunderte von Diakonissen ausgebildet, Hunderte von jungen Mädchen eine Ausbildung angeboten wurde, die dann in Krankenhäusern, Kirchengemeindestationen und Kindergärten Dienst taten. Ein weit gespanntes Netz von Hausbesuchen schuf um die Gottesdienstgemeinde und um die Tätigkeit der Pfarrer eine beneidenswerte Möglichkeit von Begegnungen und Kommunikation.
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