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Bruchstücke der Weimarer Verfassung im Hitlerreich
Brach der Weimarer Staat in den Jahren 1930-32 allmählich in sich zusammen, oder wurde er von Hitler stückweise zertrümmert? In den Reportagen über den 30. Januar 1933 werden immer wieder die nächtlichen SA-Märsche vor der Reichkanzlei gezeigt, obwohl sie gar nicht repräsentativ für die Lage im Reich waren. Politisch entscheidend waren die Mittagsstunden, als Adolf Hitler vom Reichspräsidenten vereidigt wurde, und zwar – auf die Weimarer Verfassung. Am Anfang des Hitlerreiches steht die Weimarer Verfassung, die Hitler nie aufgehoben hat. Er fand eine gute außenpolitische Lage vor, und auch finanzpolitisch ging es bergauf. Er hat trotzdem die Weimarer Verfassung nach und nach fürchterlich verstümmelt, die Parteien verboten, das mühsam erkämpfte Wahlrecht für Männer und Frauen abgeschafft und 1934 sogar das Amt des Reichspräsidenten ruhen lassen. Er hat die Verfassung also mit anhaltendem Terror amputiert, aber er hat sie nie aufgehoben.
Mitte August 1934 hat Hitler einen neuen Diensteid eingeführt: „Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“ „§ 3. Die im Dienst befindlichen Beamten sind unverzüglich gemäß § 2 Ziffer 1 zu vereidigen.“ Eine Welle von Vereidigungen muss durch die Ministerien gelaufen sein, wobei die im Dienst befindlichen Beamten nun zwei Eiden gehorsam sein mussten: dem auf die Weimarer Verfassung und dem auf die Person Hitlers.
Ich will jedoch den Spuren der amputierten Weimarer Verfassung im Hitlerreich nachgehen. Herausragendes Beispiel bot Berlin während der olympischen Spiele 1936. Hitler setzte während der olympischen Spiele im Sommer 1936 die Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit für kurze Zeit wieder ein. Ein Hauch von Weimer wehte kurze Zeit durch Berlin.
Was ist aus dem Stabilitätsanker Ev. Kirche geworden? Die ev. Kirche wurde auch Opfer der Amputationsaktionen des ersten Macht- und Blutrausches. SA- und SS-Horden stürmten im Juni 1933 abends in die Räume des Ev. Kirchenausschusses, verwüsteten sie, versiegelten die Räume und hinderten die herbeigeeilten Oberkirchenräte am Betreten.
1937 versuchte die Hitlerregierung eine Amputation mit Hilfe der Justiz: sie brachte den beurlaubten Generalsuperintendent Otto Dibelius und Pfr. Martin Niemöller vor das Moabiter Gericht und klagten beide an, Heimtücke, Beleidigung und Verletzung des Kanzelparagrafen begangen zu haben. Die Prozesse schlugen hohe öffentliche Wellen. Otto Dibelius mit drei Verteidigern wurde am 6. August 1937 freigesprochen. Niemöller wurde zwar am 2. März 1938 zu einem halben Jahr Festungshaft verurteilt, die aber durch die Untersuchungshaft als abgegolten galt, für Niemöller faktisch ein Freispruch. Die Weimarer Verfassung bzw. ihre Justiz funktionierte also noch zeitweise und bewährte sich in der Öffentlichkeit des totalitären Staates ausgerechnet an zwei führenden Männern der Bekennenden Kirche. Es gab also Freiräume, die manche Verteidiger auszunutzen wussten. Herr Ludewig und ich haben in der Arbeit über das Sondergericht im letzten Kapitel ab S 295 über die Freiräume der Verteidiger bei den Verhandlungen im Braunschweiger Sondergericht in den letzten drei Monaten berichtet.
Ein weiteres sichtbares Zeichen, das die Weimarer Verfassung noch funktionierte, war die Beibehaltung der Kirchensteuern im Hitlerreich. Es gab zwar auch auf diesem Gebiet Amputationen, Einschränkungen, aber insgesamt blieb es bei der Zusage Hitlers bei der Einbringung des Ermächtigungsgesetzes, die Rechte der Kirche nicht anzutasten. Die Finanzämter sammelten auch im zunehmend brauner werdenden Sumpf die Landeskirchensteuer Jahr für Jahr ein und lieferten 1934 159 Millionen und 1940 355 Millionen Reichsmark ab. Hitler hat die Rechte angetastet, aber nicht aufgehoben wie auch die Weimarer Verfassung nicht. Die heute finanziell komfortable Lage der Landeskirchen hängt mit der gültigen Weimarer Verfassung zusammen, denn der Artikel 140 des Grundgesetzes lautet: „Die Bestimmungen der Artikel 137/ 138/ 139/ 141 der Verfassung vom 18. August 1919 wird Bestandteil dieses Grundgesetzes.“
Weitere Bruchstücke waren die ausgedehnte karitative Arbeit der evangelischen Schwesternschaften, sowie das Weitererscheinen der beliebten Herrnhuter Losungen sowie der Zeitung „Das Evangelische Deutschland“ bis März 1945 mitten im braunen Pressesumpf. Es gibt also viel Stoff für die nun folgende Aussprache.
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