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[Kirche von Unten]

Zum Hitlerbild in der Deutschen Evangelischen Kirche

und

Ein Beitrag zur Kirchlichen Mitte

von Dietrich Kuessner

(Download des Buches einschließlich Anmerkungen als pdf hier)




Die Räumung der Konzentrationslager März / April 1945
Im Frühjahr 1945 bestanden im  Reichsgebiet u.a. folgende KZ-Lager. Die Namen der Schreckensorte sind:  Dachau (seit 1933), Emslandlager (seit 1933), Buchenwald (seit 1937), Neuengamme (seit 1938), Flossenbürg (seit 1938), Sachsenhausen (seit 1938), Mauthausen (seit 1938), Ravensbrück (seit 1939), Danzig-Stutthof (seit 1939), Groß Rosen (seit 1940), Hinzert (seit 1940), Mittelbau Dora (seit 1943). Bergen-Belsen (seit 1943).  In fast jeder Landeskirche befand sich ein KZ-Lager. Bekannt wurde das Gebet: „Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm“.

Seit 1933 hatte die Naziherrschaft das ständig wachsende System der Konzentrationslager zu einer eigenen Lagergesellschaft mitten und neben der Zivilbevölkerung eingerichtet. Sie war von der Bevölkerung ghettohaft abgetrennt, ein rechtsfreies Gelände, auf dem die Insassen der Schikane und dem Sadismus des männlichen und weiblichen Bewachungspersonals hilflos ausgesetzt waren.   

Seit Kriegsbeginn wurde die Masse der sowjetischen Kriegsgefangenen in die KZ verbracht, ihre Arbeitskraft ausgepresst und schließlich durch gezielte Unterernährung und Fehlen von hygienischen Grundbedingungen einem allmählichen, qualvollen Sterben überlassen. Sie wurden Todeslager, aber sie kurbelten die Kriegswirtschaft an, die Steuerkraft stieg und mit ihr auch die Höhe der an die Landeskirchenämter abgeführte Kirchensteuer.

Zu den Stammlagern gehörten viele hundert  Außenlager mit unfassbar unmenschlichen, ekelerregenden Lebensbedingungen.

Zum KZ Neuengamme im Süden von Hamburg  gehörten zum Beispiel im März 1945 Außenlager in Bremen, Hannover, Salzgitter, Braunschweig, Drütte, Watenstedt, Helmstedt, Porta, Osnabrück, Hildesheim, Lüneburg, Kiel, Uelzen, Wilhelmshaven, Wöbbelin, Wolfsburg. Allein in diesen leisteten nach dem letzten Vierteljahresbericht des SS - Standortarztes vom 29. März 1945  39.880 Häftlinge, darunter 12.973 Frauen Sklavenarbeit für die Kriegswirtschaft, bewacht von 2.211 SS Angehörigen. In den Frauenaußenlagern waren weiterhin 444 Aufseherinnen eingesetzt.

Zum bayrischen KZ Flossenbürg gehörten u. a. die Außenlager Ansbach, Eichstätt, Grafenreuth, Nürnberg, Regensburg,  Würzburg. Im Hauptlager, das ursprünglich für 300 Häftlinge geplant war, hausten Ende März 1945 in 23 Baracken  15.445 meist ausländische Häftlinge,  36.995 Häftlinge befanden sich in den Außenlagern, bewacht von 2.564 SS Männern und von 515 Aufseherinnen, dazu zahlreichen regionalen SS-Einheitenm.  

Vor dem Eintreffen der alliierten Truppen im Frühjahr 1945 wurden die KZ-Lager samt Außenlagern vom SS-Wachpersonal leer geräumt, Beweismaterial verbrannt und die oft völlig entkräfteten Häftlinge in Kolonnen bis zu 500 Häftlingen zu tagelangen Todesmärsche zu vermeintlichen sicheren Zielorten gezwungen. Zielorte der Häftlinge von Neuengamme z.B. waren Bergen-Belsen, Wöbbelin bei Ludwigslust und Sandbostel. Wer aus Entkräftung hinfiel, wurde kurzerhand erschossen.

Das KZ Kaufering IV war ein Lagerkomplex um die Stadt Landsberg in Bayern. Zielort des Todesmarsches war das KZ Dachau. Edith Raim: „Die Todesmärsche  blieben den Überlebenden als letzter Teil ihres Leides im Gedächtnis: Getrieben von der SS, tagelang ohne Essen , taumelten sie am Ende ihrer Kräfte durch Städte und Dörfer... Es geschah  vor den Augen einer Bevölkerung, die im ländlichen Bayern von vielen Auswirkungen des Krieges bis dahin verschont geblieben war.“ Viele Dorfbewohner und Kirchengemeindemitglieder waren Zeugen dieser Todesmärsche.

3000 Häftlinge des KZ Langenstein-Zwieberge, eines berüchtigten Außenlagers des KZ Buchenwald,  wurden am 5. April in sechs  Kolonnen zu je 500 Mann zusammengeprügelt und durch die Orte Quedlinburg, Emersleben. Wiederstedt, Köthen, Bitterfeld, Söllichau, Jessen, Seyda, Zahna bis in den Raum Coswig geschleppt. Der lange Todesmarsch führte durch Städte und Dörfer und ihre Kirchengemeinden. Einen dieser Todesmärsche, der durch das Harzer Städtchen Stolberg geschleppt wurde, beobachtete Oberkonsistorialrat  Heinz Brunotte, der mit den Akten der Berliner Kirchenkanzlei nach Stolberg geflüchtet war, und schrieb an seinen Vater: „Wegen der drohenden Annäherung der Feindpanzer wurden nun die Sträflinge fortgebracht und zwar unbegreiflicherweise in den Harz hinein. In den nächsten Tagen kamen durch Stolberg lange Züge von „Zebras“, entsetzliche Jammergestalten und Verbrechertypen, zu Fuß. Und nun haben wir sie nach dem Zusammenbruch wieder auf dem Rückmarsch hier, eine grässliche Sorge für die ganze Stadt. Denn nun sind sie frei und werden von den eingerückten Amerikanern begünstigt. In der ganzen ersten Woche zitterte alles vor ca. 150 Zebras, die hier und da plünderten, der Stadt alle Vorräte auffraßen und für die dann noch Bekleidungsstücke gesammelt wurden, wovon wir uns aber drücken konnten.“

Oberkonsistorialrat Heinz Brunotte hatte als Leiter der Kirchenkanzlei in Berlin präzise Kenntnisse von dem Innenleben der Nazihierarchie. Für ihn waren KZ-Häftlinge „Sträflinge“, die nach ihrer Befreiung in ihr altes asoziales Verhalten zurückfallend diebisch „alle Vorräte auffraßen“. Das war kein Stammtischgeplauder, sondern die echte persönliche Meinung, wiedergegeben in einem Privatbrief an seinen Vater. Es war die unverstellte Meinung der Mehrheit der Bevölkerung. Ein Eingreifen der Kirche, eine solidarische Geste, ein Funken von Mitgefühl und Verständnis war bei Oberkonsistorialrat Heinz Brunotte nicht erkennbar.

Die Stadt- und Dorfbevölkerung wurde nicht nur passiv Zeuge der Todesmärsche, sondern beteiligte sich auch aktiv am Massenmord. Ein Todesmarsch endete am Stadtrand  von Gardelegen in einem großen scheunenartigen Komplex, in den 1100 Häftlinge hineingetrieben, die Scheune angesteckt und die Häftlinge verbrannt wurden. An dem Massaker von Gardelegen waren beteiligt Angehörige der SS und HJ, Wehrmachtssoldaten, Parteifunktionäre  der NSDAP Kreisleitung, Männer des Volksturms.

Das Deutsche  Reich – ein Totenfeld
Nicht aus eigener Kraft wurde das Hitlerreich auf deutschem Boden zerstört, sondern durch die alliierten und sowjetischen Truppen. In der sog. deutschen Ardennenoffensive im Dezember 1944 / Januar 1945 waren 20.000 englische und amerikanische Soldaten gefallen, im März 1945 bei den Kämpfen im Ruhrkessel 1.500 amerikanische Soldaten, im April 1945 bei den Kämpfen vor Berlin bei den Seelower Höhen 33.000 russische Soldaten. Der Krieg war bereits entschieden, zu Hause konnten die Familien in den USA, in Sowjetrussland und in England auf die Rückkehr ihrer Söhne und Väter hoffen, aber sie kamen um Leben, weil die deutschen Männer - wie sie später entschuldigend beteuerten – verbissen ihr „Vaterland“ verteidigten. Dabei kamen  bei der Ardennenoffensive 17.000 deutsche  Soldaten, im Ruhrkessel 10.000, vor Berlin 12.000, und im April / Mai 1945 bei  Kämpfen in der Reichshauptstadt auf beiden Seiten insgesamt 170.000  Soldaten ums Leben.

Bei ihrem Einmarsch in das eroberte Deutsche Reich wurden die alliierten Truppen von der Vielzahl und ekelerregender Brutalität der nunmehr teilweise entleerten Konzentrationslager überrascht.

Am 11. April erreichten amerikanische Truppen das KZ Buchenwald  bei Weimar. Die Amerikaner trafen noch 21.000 Häftlinge aus ganz Europa im Lager an, die bereits einen Widerstand organisiert und 125 SS-Bewacher des Lagers festgenommen hatten. Am 16. April wurden ca. 1000  Weimarer Bürger ins KZ Gelände transportiert, die sich die im Krematoriumshof angehäuften Leichenberge ansehen sollten. Schon am 16. April erschien in der Londoner Times ein Bild  von den betroffenen Weimarer Bürgern vor den auf offene Wagen gestapelten Leichen. Der Name „Deutschland“ war für lange Zeit geschändet. Buchenwald hatte 136 Außenlager, von denen das im Harz gelegene Mittelbau-Dora ein selbständig verwaltetes Konzentrationslager geworden war.

Am 15. April 1945 erreichten britische Soldaten das KZ Bergen Belsen in der Lüneburger Heide, 10.000 Leichen lagen verstreut auf dem Gelände des Lagers. Vom Januar bis April 1945 waren mehr als 35.000 Häftlinge an Hunger oder Typhus gestorben.  Ein Teil der unkenntlichen Leichen war in einer Grube von 20 x 10 Meter und 3 Meter Tiefe auf offenem Feld  gestapelt und verbrannt worden. Auf Protest der Forstverwaltung und des Militärs des nahe gelegenen Truppenübungsplatzes Bergen-Hohne musste die Aktion eingestellt werden. Daher blieben die Leichen in den Baracken unbestattet liegen. Viele der nunmehr befreiten Häftlinge starben total geschwächt vor den Augen der Soldaten.  In den ersten 12 Wochen nach dem 15. April starben noch mehr als 13.000 ehemalige Häftlinge an den Folgen des KZ-Terrors. Viele ahnungslose Bewohner in den angrenzenden Dörfern und Städten wurden auf Lastwagen in das Lager gefahren, um dieser Verbrechen und Schande ansichtig zu werden. Einige mussten beim Abtransport  der Leichen mit helfen. Die Fotos der Verbrechen wurden zeitnah in den Zeitungen veröffentlicht und in den Kinos gezeigt.

Am Sonntag, dem 29. April, erreichten amerikanische Truppen das KZ Dachau und stießen zunächst am Eingang auf Eisenbahnwaggons  mit 2.300 verhungerten und erschossenen Häftlingen aus dem KZ Buchenwald. Im Stammlager Dachau befanden sich noch teils halb verhungerte, teils Typhuskranke, insgesamt  32.000 Häftlinge in einem völlig verdreckten Lagergebiet. Hunderte von Leichen lagen in den Baracken herum. „Hinter dem Stacheldraht und dem elektrischen Zaun saßen die Skelette in der Sonne und suchten sich nach Läusen ab. Sie sind völlig alterslos, gesichtslos“, beobachtete drei Tage später eine amerikanische Reporterin. Die oft jungen amerikanischen  Soldaten waren tief schockiert. „Jetzt wissen wir, wofür wir gekämpft haben“, sagten sie. Im Lager stießen sie noch auf ca. 50 jüngere SS-Angehörige. 40-50 von ihnen wurden von amerikanischen Soldaten inmitten von Leichenhaufen umgehend als Reaktion auf den fürchterlichen Anblick der Häftlingsleichen erschossen. Als der Journalist Stefan Troller das Lager einen Tage nach der Befreiung besichtigte:  „Diese Hunderte von Skeletten mit gelblicher Haut überzogen, die da herumlagen...   wo bleibt das Schuldgefühl, das Bekenntnis, die Reue, verdammt noch mal.“

Im September 1945 meldete das Landesnachrichtenamt in Sachsen allein für Sachsen 43 Todesmärsche mit bis zu 60.000 KZ Häftlingen. Die Auflistung nannte das Ausgangslager, die Routen und Zielrichtungen der Transporte,  sowie die Stärke und Zusammensetzung der Kolonnen und Fundstellen von Todesopfern.

Im April 1945 waren Feldwege, Dorfstraßen, Waldwege und Chausseen übersät von Leichen jener Todesmärsche, notdürftig mit Erde überdeckt. Es waren die nachrückenden alliierten Soldaten, die sich um eine geregelte Bestattung kümmerten. Dazu wurden die Bewohner der nächstliegenden Ortschaften herangezogen. Mir sind keine Berichte bekannt, wonach sich evangelische Pfarrer um die Bestattung gekümmert hätten und Plätze  auf den von ihnen verwalteten Friedhöfen zur Verfügung gestellten hätten, obwohl ein Begräbnis nach langer kirchlicher Tradition zu den sieben Werken der Barmherzigkeit gehört. Stattdessen standen Fragen der Zuständigkeit, der Zulässigkeit von Bestattung von zur Kirche nicht Zugehörigen, auch von Juden auf einem evangelischen Friedhof im Wege.

Nachdem ein Pfarrer die Leichenberge in Bergen Belsen unfreiwillig mit vielen anderen Bürgern  hat mit ansehen müssen und in sein Celler Pfarrhaus zurückgekehrt war, stammelte er nur leichenblass: „Das haben wir nicht gewollt.“ Dieser Satz wurde die Standardbehauptung des konservativen Bürgertums im Sommer 1945. Sie ermöglichte eine vollständige persönliche Abwehr sowie innere Abspaltung und schloss die Überlegung aus, ob die Kirche durch die Anerkennung Hitlers als Obrigkeit an solchem Terror und derartiger Bestialität mitschuldig geworden war.



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