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Das Begreifen begreifen

Das Begreifen begreifen

Eberhard Fincke, Braunschweig

Das Begreifen scheint eine Bewegung zu sein, eine Handbewegung. Wie aber sieht diese Bewegung aus? Sie soll offenbar zu einem „Begriff“ führen, doch wie gelangt sie dorthin? Folgt sie einem Rhythmus?
Daß wir es mit einer Handbewegung zu tun haben, bestätigen ähnliche Wörter wie „wahrnehmen“ oder „erfassen“. Dagegen hat die Bewegung in „erfahren“ wohl mehr mit den Füßen zu tun. Im „Verstehen“ schließlich scheint die Bewegung überhaupt stehen zu bleiben.

Das Paradox von Wahrnehmung und Bewegung

„Aufhören“, hat in früheren Zeiten der Herr der Aufseher seinen „Hörigen“ zugerufen, wenn er ihnen Anweisungen geben wollte. Dann hielten sie inne mit ihrer Arbeit, „hörten auf“, um genau „hinhören“ zu können und so zu „gehorchen“. Die Herrschaftsverhältnisse wirken in der Sprache immer noch fort. In der Regel denken wir beim Aufhören nicht mehr an das „Hören“. In der Sprache ist es jedoch aufbewahrt.

In der Tat, um genau zu hören oder zu sehen, hält man inne. Solange ein Mensch sich bewegt, kann er nur schlecht wahrnehmen. Wahrnehmung und Bewegung scheinen einander auszuschließen. Dies sehen wir bestätigt beim „Verstehen“. Wer genau verstehen will, bleibt „stehen“. Oder aber, und das ist eine Entscheidung von großer Tragweite, er versucht das, worauf seine Aufmerksamkeit gerichtet ist, zum Stehen zu bringen bzw. „festzustellen“, weil schlecht zu erkennen ist, was sich bewegt. Damit gelangen wir wieder zu jenem Herrn.

Militärisch gewendet heißt sein Kommando: „Stillgestanden!“ daraufhin rühren die Soldaten sich nicht. Der Kommandeur aber bewegt sich, mustert die Soldaten, während er die Front abschreitet und macht sich auf diese Weise ein Bild von ihnen, einen Begriff. Den braucht er, weil die Soldaten ihm jederzeit und überall zur Verfügung stehen sollen.

Feststellen heißt beherrschen

Die abendländische Wissenschaft tut es dem Kommandeur gleich. Statt selbst innezuhalten, bringt sie zum Stehen, was sie wahrnehmen will. Wie jener Herr befiehlt sie: „Aufhören!“ Gehorsam findet sie jedoch nur bei dem, was ohnehin steht, bei den „Gegenständen“. Diese „Objekte“ kann sie in Ruhe von allen Seiten begreifen, d.h. nun wiegen, messen und definieren, in Formeln fassen und auf den Begriff bringen. So kann man sich weltweit ziemlich leicht darauf einigen, was ein Stuhl ist, ein Kreis oder ein Würfel.

Pflanzen und Tiere gehorchen aber nicht. Wenn man sie trotzdem zum Gegenstand der Untersuchung machen will, muß man Gewalt anwenden. Um eine Blume zu zerlegen oder Feigenbeine zu zählen, hat der Mensch in der Regel eine Hemmung zu überwinden. Diese Hemmung stammt aus der Erfahrung, daß es sich rächen kann, wenn man fremdes Leben stört oder gar tötet. Man hat auf lange Sicht vielleicht selbst den Schaden oder gefährdet das eigene Leben. Von indianischen Kulturen wissen wir, wie vorsichtig bzw. achtsam sie allem Lebenden begegnen. Das eigene Interesse ist im Spiel, schiebt sich im wörtlichen Sinne „dazwischen“.

Ohne Gewaltanwendung wird das Begreifen sehr viel schwieriger. Es muß sich dann in das Spiel der Bewegung begeben. Es kommt damit selbst in Bewegung. Wie aber sieht diese Bewegung aus? Geläufig ist sie Gärtnern und Reitern z.B., allen, die sich darauf verstehen, mit lebenden Pflanzen und Tieren umzugehen, weil sie ernten oder den Nutzen haben wollen. Die Bewegung ist dann ein gegenseitiges Geben und Nehmen, zumindest muß der Mensch im eigenen Interesse die Bedürfnisse der anderen Seite wahrnehmen und ihnen entgegenkommen.

Der abendländischen Wissenschaft war das zu umständlich. Sie wollte genauer wahrnehmen und hat jene Hemmung, Gewalt anzuwenden, überwunden. Fortschreitend hat sie tatsächlich große Gewinne erzielt. Z.B. kann die herrschende Medizin mit ihren Diagnose- und Heilmethoden erstaunliche Erfolge vorweisen. unerbittlich freilich sind diese mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden. An ihnen kann man sehen, wieviel Gewalt da ausgeübt wird, verletzend und schädigend. Zudem liegen unzählige getötete Versuchstiere an ihrem Weg.
Nicht von ungefähr ist die ihren Gegenstand feststellende, beherrschende Medizin auch zur herrschenden geworden. So kann sie ihre Macht einsetzen, um alternative Heilmethoden, die einen Organismus nicht gewaltsam, sondern mehr als lebendes Gegenüber zu begreifen suchen, von der Finanzierung durch die Kassen auszuschließen. Anders als Pflanzen und Tiere sind Menschen bereit, sich jene herrschende Wahrnehmungsweise gefallen zu lassen. Sie „gefällt“ ihnen, weil sie selbst Vorteile davon haben.
Außerdem ist die Meinung verbreitet, daß die Herrschaft notwendig sei für ein friedliches menschliches Zusammenleben. Ohne eine übergeordnete Instanz, die Recht setzt im „Gesetz“ und Ordnung mit Gewalt durchsetzt, gäbe es nur Mord und Totschlag. Solche Meinung ist schon lange widerlegt (vgl. Uwe Wesel, Frühformen des Recht in vorstaatlichen Gesellschaften, Frankfurt 1985). Jahrtausendelang haben indianische, zum Teil auch noch heute steinzeitlich lebende Völker friedlich gelebt ohne höhere Instanz, Polizei, Gefängnisse und dergleichen. Jenes Vorurteil lebt lange, weil es der Rechtfertigung der Herrschaft dient.

Herrschaft ist Vereinfachung

Rechtfertigung wird gebraucht, weil die Alternative zur Herrschaft, der gegenseitige Interessenausgleich, schon im Umgang mit Tieren recht bequem ist. Dabei wollen Tiere nur leben und legen dafür friedlich Eier oder geben Milch. Menschen dagegen stellen weit mehr Ansprüche. Sie fordern nicht nur Lebensunterhalt, sondern auch gleiches Recht, Freiheit, volle Information und gegenseitiges Vertrauen. Das ist etwas viel auf einmal.
Schafft das menschliche Begriffsvermögen es überhaupt, in all diesen Punkten eine Einigung zu erreichen? In den letzten überschaubaren dreitausend Jahren jedenfalls hat man es nicht zu einem gemeinsamen Begriff von Frieden, von Recht oder Freiheit gebracht. Was die einen als Frieden begreifen, halten andere für das Gegenteil. Recht nehmen sie als Unrecht wahr, Freiheit als Zwang. Herrschaft dagegen macht den Einzelnen unabhängiger von seinen Mitmenschen. Eine dazu legitimierte Instanz „stellt fest“, was Recht ist. Endlose Palaver und Meinungsverschiedenheiten werden so beendet.

Zum Zuge gekommen ist das feststellende, beherrschende Begreifen vor allem in den Zwillingen technische Beherrschung und politische Herrschaft. Beide, der technische Fortschritt und die politische Herrschaft brauchen einander so, wie die Hände des Menschen. Hand in Hand haben sie, kurz gesagt, den technischen Fortschritt vorangetrieben: die politische Herrschaft konnte viele Menschen zwingen, ihre Arbeitskraft für ein Großprojekt herzugeben. Mit dem dadurch erzielten Reichtum finanzierte sie die Entwicklung technischer Neuerungen. Diese neuen technischen Mittel (und Waffen) steigerten wiederum die politische Macht, noch mehr Menschen zu binden für noch größere Projekte. So ist es schließlich z.B. gelungen, Menschen auf dem Mond zu landen und heil wieder nach Hause zu bringen oder die ganze Erde mit einem Netz ungeheuer schneller Informationsübertragung zu umspannen.

So einfach geht es nicht

Die faszinierenden Intelligenzleistungen der beherrschenden und herrschenden Wahrnehmung hatten und haben jedoch unglaublich kurzsichtige und verantwortungslose „Nebenwirkungen“: massive atomare, chemische und biologische Vergiftung der Biosphäre, Elend und Massenarbeitslosigkeit durch Kolonialismus und Rationalisierung. Nach und nach kommt durch diese Nebenwirkungen alles zum Stehen, lähmt die Wahrnehmung sich selbst. Die politische Herrschaft verliert unwiederbringlich ihre Bewegungsfreiheit. Sie kannn der Technik und der Industrie nicht mehr bieten, was diese benötigen, Rechtssicherheit und Geld. Konkret: Unter dem Kostendruck von struktureller Massenarbeitslosigkeit, Umweltproblemen, Energiesorgen u.a.m. sprechen nationale Regierungen ebenso wie lokale Gemeinden bei den Investoren vor. Sie unterbieten einander, um nur ja Arbeitsplätze zu schaffen und riskieren damit soziale Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und den Schutz der Umwelt.
Zunehmender Rechtsunsicherheit weiß die herrschende Wahrnehmung nur mit noch mehr Herrschaft zu begegnen, d.h. mit mehr Technik bzw. Rüstung zu hohen Kosten. Dadurch schrumpft ihr finanzieller Spielraum erneut. Andererseits läßt Rechtsunsicherheit die unternehmerische Bereitschaft zu finanziellen Investitionen, die für technische Innovationen gebraucht werden, zurückgehen. Die Angelegenheit fährt sich fest.

Zurück zur Bewegung

Ein Ausweg wird sich nur finden lassen, wenn es gelingt, den Horizont der Wahrnehmung wieder zu erweitern, sich zu lösen aus der Beschränkung auf den einen Standpunkt, von dem aus der griechische Philisoph und Techniker Thales (600 v. Chr.) die ganze Welt wahrnehmen und feststellen wollte. Das bedeutet, sich vom Herrschen-Wollen zu befreien und mehrere Standpunkte gleichzeitig zu beachten. Wie wir oben gesehen haben, gehört solche Wahrnehmung auch heute durchaus zur Alltagserfahrung. Irgendwie können Menschen auch dann verläßlich begreifen oder zuverlässige Begriffe finden, wenn es keine höhere Instanz gibt und man auf Entgegenkommen angewiesen ist. In den vielen hunderttausend Jahren der Menschwerdung müssen sie die Fähigkeit entwickelt haben, sich zu einigen auch bei einer Vielzahl von Ansprüchen und Interessen. Leben gab es ja nur als Überleben in der Gemeinschaft mit anderen und in der ständigen Auseinandersetzung mit allem, was auch leben will. Erst am Ende dieser langen Zeit, vor ein paar tausend Jahren, wurde der Weg in die Sackgasse der Beherrschung durch Gesetz und Technik angetreten.
Das ursprüngliche Begriffsvermögen muß also tief verankert sein und kann deswegen auch erforscht und genauer zugänglich gemacht werden. Es muß mit viel Bewegung fertig werden; denn es hat zur gleichen Zeit mehrere Interessen zu berücksichtigen, weil eben mehrere „Interessen“ im Spiel sind. Es ist an einen Jongleur zu denken, der mit mehreren Bällen hantiert und dabei doch selbst einer von den Bällen ist. Es gibt hier keinen festen Standpunkt, von dem aus das Ganze festgestellt oder gar beherrscht werden könnte.
Es scheint, daß das Begreifen eine Bewegung ist, die wir uns schwer vorstellen können und die sich auch der direkten Beobachtung entzieht. Andererseits wird sie als „Begreifen“ mit der Hand in Verbindung gebracht, hat also wohl doch eine durchaus körperliche Seite. Die Angelegenheit erinnert an die Teilchenphysik, die viele Vorgänge nur indirekt sichtbar machen oder berechnen kann. Wie also läßt sich die wahrnehmende Bewegung des Menschen genauer studieren? Welchen Rhythmus folgt sie?

Die Gestalt zeigt eine Bewegung

Da die Sprache uns an den Leib verweist, könnte dessen Betrachtung uns weiterhelfen. Außerdem führt das Stichwort „Bewegung“ zu den Gliedmaßen. Sie werden so genannt, weil sie in rechtem Maß oder Verhälnis zueinander stehen, so daß die Bewegung ihren optimalen Rhythmus erhält.

Das erste Beispiel dafür sind die Beine mit den Füßen. Es sind Sprungbeine, wie die Sprunggelenke und Knie ausweisen. Aber der Mensch hüpft meistens nicht: das wäre zu anstrengend. Er geht, d.h. statt gleichzeitig zu springen, lösen die Beine einander ab. Ein Bein pendelt vor das andere und übernimmt dessen Last. Sie entlasten einander wechselseitig und dadurch kommt der Mensch voran. Ihr Rhythmus ist ein einfacher Wechsel, be- und entlasten, tun und lassen, ein Schreiten.

In diesem Schreiten erkennen wir unschwer die oben erwähnte gegenseitige Hilfe. Dieser Rhythmus ist sozusagen der basso continuo aller Bewegung des Menschen. Wie grundlegend dieses Schreiten das Leben bestimmt, kommt im Deutschen z.B. in der Frage nach dem Gesamtbefinden zum Ausdruck: „Wie geht es?“. In vielen Wendungen äußert sich auch die Erfahrung, daß das Denken in Schritten voran kommt, nicht zuletzt tatsächlich beim Gehen und besonders auch im Gespräch. Im Dialog gehen die Partner, wie die Füße beim Gehen, von verschiedenen Standpunkten aus. So sehen sie die Angelegenheit zunächst verschieden, vielleicht sogar gegensätzlich, bis sie schließlich zu einem gemeinsamen Begriff finden. Gelingt das nicht, kann es sich um Dialektik handeln.
Von Dialektik hat man in der abendländischen Philosophie und Theologie dann gesprochen, wenn es auf eine Frage mehr als eine Antwort gibt, die wahr sind, sich aber gegenseitig ausschließen, z.B. ob Liebe nun Freiheit oder Bindung bedeutet. Da eine Entscheidung nicht zustandekommt, bleibt die Angelegenheit in Bewegung. Die Experten helfen sich dann mit dem Hinweis, sie sei eben dialektisch zu sehen. Für Laien bleibt dies meist unbefriedigend. Sie argwöhnen ein intellektuelles Verwirrspiel.

Hand in Hand gegeneinander

Noch deutlicher dialektisch geht es in der Bewegung zu, die wir bei Armen und Händen studieren können. Auch sie sind ein Paar, das sich gegenseitig hilft, aber ganz anders als es die Beine tun. Zur Fortbewegung braucht der Mensch sie meist nicht. Ihre Tätigkeit ist das Greifen.
Um etwas zu fassen oder zu greifen, üben die Hände gegeneinander Druck aus. Auch ziehen sie in entgegengesetzte Richtung, gerade dann, wenn sie zusammenarbeiten. Die Arme mit den Händen sind also also unentwegt in „engster Beziehung gegeneinander“, sozusagen als Gegenpol. Auf diese weise erreichen sie einen Ausgleich oder eine Balance. „Eine Hand wäscht die andere“, sagt eine besonders treffende Redensart.

Das Greifen - und vielleicht auch das Begreifen - , so lernen wir hier, kommt zum Ziel im Gegeneinander, das zugleich ein Miteinander ist. Ohne Gegeneinander gibt es kein Greifen. Ohne den Widerstreit zweier Interessen vielleicht auch kein angemessenes Begreifen.
So befremdlich dies erscheint, die unmöglich erscheinende Bewegung jedenfalls ist dem Menschen mit seinen Armen und Händen so vertraut, daß er in der Regel nicht einmal von ihr weiß. Unbewußt vollzieht er mit Armen und Händen ständig eine zwischen zwei Polen balancierende Dialektik. Jedoch, wenn Menschen ihre Beziehung zueinander ganz begreifen wollen, sind, so sahen wir oben, irgendwie noch mehr als zwei Gesichtspunkte im Spiel. Das lenkt den Blick von den zwei Armen auf die fünf Finger der Hände.

Das rhythmische Spiel der Finger

Die Finger eigentlich sind es ja, die greifen. So wird auch die Bewegung des Begreifens an ihnen zu studieren sein. Auch ihre Bewegung nimmt der Mensch normalerweise bewußt nicht wahr und wenn wir jetzt daran gehen, sie zu beobachten, kommen wir nicht weit. Zu unübersichtlich ist die gleichzeitige Aktion der Fünf und es scheint auch nichts Besonderes an ihr. Anders sieht es aus, wenn wir die Gestalt und die Funktion jedes Fingers beschreiben. Auf diesem Wege erschließt sich uns jene gesuchte Bewegung genauer; denn sie hat diese Gestalt geprägt. Jeder Finger unterscheidet sich markant von den anderen, und tatsächlich verkörpert er mit seiner Gestalt und Funktion ein Grundbedürfnis oder ein Grundstreben des Menschen.

Der Daumen spreizt sich von seinen Nachbarn ab und kann sich, frei beweglich, allen vier anderen entgegenstellen und so Druck auf sie ausüben. So entsteht ein Greifen. Dieses Geifen, das wir im Ganzen schon bei den Händen gesehen haben, spielt sich hier also vierfach ab. Mit dieser Beweglichkeit verkörpert der Daumen so etwas wie Freiheit, also das Streben des Menschen nach Unabhängigkeit und Macht über andere.

Der Zeigefinger zeigt auf das, was es zu wahrnehmen gilt, was richtig ist, und er verweist drohend das Falsche. So charakterisiert ihn die Suche nach Wahrheit.

Der Mittelfinger bildet in der Hand die Mitte der beiden Seiten und zugleich als längster Finger auch die Grenze ihrer Möglichkeiten. So steht er für den Menschen, wie er Augleich, Balance oder Gerechtigkeit herbeiführt.

Der Ringfinger lehnt sich immer an seine Nachbarn an und kann sich am wenigsten von allen allein bewegen. War es beim Daumen die Unabhängigkeit, so kommt in der Bewegung des Ringfingers die Abhängigkeit zum Ausdruck, die Gemeinschaftlichkeit und die Zuneigung zu anderen, mit einem Wort, die Liebe.

Den kleinen Finger sehen wir klein und verletzlich an der Handkante mit aller Kraft überleben und zupacken. In deiser Bewegung erkennen wir uns selbst als Kreaturen unter aller Kreaturen, wie sie am Leben hängen.

Was wir jetzt vor uns haben, sind fünf verschiedene Bewegungen, und die haben es in sich. Näher betrachtet läßt sich alles, was einen Menschen bewegt und treibt, auf diese Fünf zurückführen:

  1. Jeder Mensch hängt am Leben.
  2. Jeder braucht die Beziehung zu anderen Menschen.
  3. Jeder verlangt nach Gerechtigkeit in Geben und Nehmen.
  4. Jeder will wissen.
  5. Jeder strebt nach Freiheit.

Diese funf Bewegungen umfassen nicht nur alle Bedürfnisse des Menschen, sie widerstreiten einander auch. Sie streben in entgegengesetzte Richtungen. Wer z.B. auf Freiheit oder Unabhängigkeit aus ist, entfernt sich einerseits von der Gemeinschaft mit ihrem Schutz und übergeht auch den gerechten Ausgleich mit anderen. Wie wir schon oben sahen, geht das Genau-Wissen-Wollen gegen das Leben, und die Liebe der Gemeinschaft deckt manches zu, was der scharfe Blick gerade aufdecken möchte.

Die fünffache Dialektik in der Hand

Philosophisch-begrifflich gesprochen, stehen die begriffe Freiheit - Wahrheit - Gerechtigkeit - Liebe - Leben untereinander in dialektischem Verhältnis, d.h., sie bewegen sich gegeneinander und brauchen einander doch notwendig wie die beiden Hände des Menschen. Freiheit und Gerechtigkeit widersprechen einander, aber ohne Gerechtigkeit gibt es für den Menschen in der Gesellschaft der anderen keine Freiheit und umgekehrt. Wahrheit und Liebe scheinen sich schlecht mit einander zu vertragen und doch ist die Liebe ohne Wahrheit nicht Liebe. Auch reden wir von Wahrheitsliebe. Die Bindung der Liebe wird als Ende der Freiheit empfunden und doch wird die Liebe als Befreiung und selbst ein „Kind der Freiheit“.

Diese verwirrende Dialektik bzw. das Durcheinander der Gegensätze wird übersichlich und durchschaubar mit Hilfe der Hand. Sobald wir die Finger kreisförmig stellen und die widerstrebenden Beziehungen eintragen, erhalten wir das Pentagramm, ein in der Kulturgeschichte uraltes Symbol.

  Gerechtigkeit
Mittelfinger
 
Liebe
Ringfinger
Pentagramm Wahrheit
Zeigefinger
Leben
Kl. Finger
Freiheit
Daumen

In der Anordnung, wie sie sich jetzt ergeben hat, können wir etwas Überraschendes beobachten. Die einander gegensätzlichen Begriffe stehen immer gegenüber, während die benachbarten einander eher nahe sind.

Das Begreifen kommt in Gang

Das Pentagramm läßt sich in einem Strich zeichnen und genau in dieser Richtung die widerstrebenden Beziehungen so richtig in Fahrt. Die Bewegung geht jetzt nicht mehr zwischen zwei Polen immer hin und her, sondern sie nimmt jedes Mal eine neue Richtung. In der einzigartigen Schwingung des fünfzackigen Sterns treiben Bewegung und Gegenbewegung voran und führen mit fünf Schritten in eine nie stillstehende Balance.

  1. Schritt
    Setzen wir z.B. beim kleinen Finger ein, bei dem Wesen, das um sein Leben bangt. In seiner Not kommt ihm jetzt der Zeigerfinger „entgegen“, die Wahrnehmung; denn durch diese erfährt man, was in der Not helfen oder retten kann. Dieses „Entgegenkommen“ schwingt nun aber nicht einfach zurück, sondern macht eine leichte Drehung.
  2. Schritt
    Die Wahrnehmung kann bitter sein oder das, was zu tun ist, den Einzelnen überfordern. Darum winkt nun die Rettung beim Ringfinger, d.h. in der Zuwendung anderer. Indem der Mensch sich auf diese einläßt, wird er aus Alleinsein und Überforderung erlöst.
  3. Schritt
    Die Bindung, die zunächst befreiend war, kann sehr bald eng werden und die Gegenbewegung verlangen, die nun zum Daumen führt, in Richtung Freiheit und Ungebundenheit.
  4. Schritt
    Die Ungebundenheit muß sich nun nicht in Bindungslösigkeit und Willkür verlieren oder endlos in die Bindung zurückpendeln. Im Mittelfinger kommt ihr die „Gerechtigkeit entgegen“, der Ausgleich oder das Maß, das jedem Raum gibt und Grenze setzt. So wird Ordnung und Ausgewogenheit ins Geschehen gebracht.
  5. Schritt
    Durch die Ordnung aber kann die Bewegung überhaupt erliegen, in Starrheit verfallen. das wäre der Tod. Dagegen wehrt sich das Leben in Gestalt des kleinen Fingers. Das Leben ist wild und braucht Gewalt. Es stört und bricht die Ordnung. Wenn die Gewalt nun Zerstörung, Leid und Not angerichtet hat, ist wieder am Ausgangspunkt und geht in eine neue Runde.

Kurz gesagt: die fünf Gegensätze heben sich auf in fünffacher Gegenbewegung, die sich immer wieder erneuert.

Der Rhythmus der fünf Schritte

Was wir im Pentagramm gerade beobachtet haben, erinnert an den dialektischen Dreischritt, den Johannn Gottlieb Fichte und dann G.W. Friedrich Hegel im vorigen Jahrhundert zu erkennen glaubten und im Denken wie in der geschichtlichen Entwicklung wirksam sahen: Position - Negation - Negation der Negation bzw. Aufhebung der Negation. In deisem Rhythmus, so meinten sie, bewege sich das Begreifen, komme das Verstehen bzw. seine Verwirklichung voran.
Bemerkenswert ist dieses Denkmodell, weil es Wiedersprüche oder Gegensätze als Bewegungsschritte in einem Zusammenhang sieht. Aber es greift dennoch zu kurz. Das liegt an der abendländischen Denktradition. In dieser Tradition sind Natur und Geist Gegensätze, stammen wohl gar aus verschiedenem Ursprung. Die Natur ist dann irdisch, der Geist göttlich. Bei dieser Vorstellung ist es selbstverständlich, daß es keine direkte Verbindung zwischen Geist und Körper gibt. Der Geist bedient sich des Körpers allenfalls als Instrument. Zum Wesen des Denkens oder Begreifens kann man nicht über den Körper gelangen. Fichte und Hegel z.B. suchten ihn deshalb über die Logik. Daß aber die Sprache selbst mit Ausdrücken wie „wahrnehmen, begreifen, fassen“ auf den Körper verweist, hat man bisher nicht weiter beachtet. Die Bewegung des Greifens führt ebenfalls ins Leibliche, denn nur lebende Wesen greifen. In der Physik gibt es kein Greifen. So kann das Begreifen nicht eine Sache der Logik oder der Mathematik sein. Hier würden wohl auch drei Finger genügen, um festzustellen und zu verstehen.

Friede ist das Ziel des Begreifens

Die Bewegungen in der Physik sind vergleichsweise einfach. Viel komplizierter sind die sozialen Beziehungen im Zusammenleben der Menschen, wo alles in Bewegung ist. Anhand des Zusammenspiels der fünf Finger ahnen wir, daß der Mensch sich in Vielfalt dieser Widersprüche ziemlich mühelos zurechtfinden, sie begreifen kann. Die oben dargestellten fünf Schritte sind dabei nur eine Spielart der in der Hand sichtbaren, folgerichtigen Bewegungen. Es lassen sich viele solcher Fingerspiele zeigen (vgl. E. Fincke, Die Wiederentdeckung der sozialen Intelligenz, Stuttgart 1997). Wie in einem Kristall werden je nach Blickwinkel immer wieder andere einzigartige Strukturen in der Hand sichtbar. Diese Strukturen aber sind nur so etwas wie die Notenschrift zu fünfgliedrigen Rhythmen, denen das Denken und Begreifen wahrscheinlich folgt. Wie gesagt, das alles vollzieht der Mensch unbewußt. In allen Kulturen finden sich Hinweise, daß man die Rhythmen kannte und zur Reflexion benutzt hat. (Vgl. Fincke, a.a.O., S. 200ff.).

In der langen Geschichte der Herrschaft ist das Wissen von diesen Rhythmen vergessen worden; denn durch Herrschaft wurden die Beziehungen der Menschen zu anderen und zur Natur stark vereinfacht. Seit es immer offensichtlicher wird, daß dieser vereinfachte Umgang mit Mensch und Natur die Zukunft verspielt, werden die Hilfen wichtig, die in den elementaren Überlebensstrategien des Menschen verborgen liegen.
Eine Anthropologie, die darauf ihre Aufmerksamkeit richtet, kann einen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit und damit zum Frieden leisten. Die menschlichen Fähigkeiten zu Frieden und gegenseitigem Ausgleich, die in einer langen natürlichen und kulturellen Entwicklung gewachsen sind, werden auf diese Weise bewußt und zugänglich. Sie können dann im Kleinen wie im Großen in Gesellschaft und Politik praktisch werden.

nach oben zeigende Hand
http://bs.cyty.com/fingerreim/de/anthropologie/begreifen/index.shtml, Stand: 11. October 2012, jk