Home Bücher - Kontakt - Impressum
Eine Einführung
english Praktische Orientierung
Recht
Religion
Anthropologie
 
Die Hand - mehr als das ideale Werkzeug
Die Hand ist der sichtbare Teil des Gehirns
Körpergestalt und Sprache
Das Begreifen begreifen

Eberhard Fincke

Körpergestalt und Sprache

Wie die Hand das Denken zugänglich macht.

Im Deutschen kann man an den modalen Hilfsverben besonders schön sehen, wie sich in der Gestalt der Hand eine Ordnung wiederfindet, die das Denken bzw. die Sprache prägt. Die modalen Hilfsverben drücken den Beweggrund aus für das, was wir tun oder erleiden, kurz gesagt, ob wir es wollen, mögen, sollen, können, dürfen, müssen oder nicht. Die sechs deutschen Wörter deuten in sehr verschiedene Richtungen; nur Wollen und Mögen sind so nah beieinander, dass man sie im Wollen zusammenfassen kann. So sind es genau genommen fünf Wörter, unter denen wir im Deutschen wählen können, wenn wir sagen wollen, warum wir in Bewegung kommen: weil wir es wollen-sollen-können-dürfen oder müssen. Mehr als diese fünf braucht es auch nicht; denn mehr Gründe gibt es nicht, etwas zu tun oder zu unterlassen.

I. Eine auffällige Parallele

Dass es fünf sind, scheint nun kein Zufall zu sein; denn wenn wir unsere fünf Finger genau betrachten, kehrt die Reihe der fünf modalen Hilfsverben in der unterschiedlichen Art wieder, in der wir jeden der Finger bewegen bzw. einsetzen. Alle fünf Finger sind ähnlich, aber jeder hat etwas Typisches.

Mit dem Daumen greifen wir, suchen etwas zu fassen, wollen es nehmen und festhalten, uns seiner bemächtigen. Wir spreizen den Daumen ab, wenden ihn gegen die anderen Finger und so übt er Druck auf sie aus. In all dem geht es deutlich um Druck, Macht, Greifen und Halten, Durchsetzung des eigenen Willens.

Mit dem Zeigefinger zeigen alle Menschen, deuten und drohen, weisen an, geben zu verstehen, befehlen, was man soll oder nicht soll, wohin man gehen soll.

Den Mittelfinger, der gleichzeitig der längste und stärkste Finger ist, setzen wir ein, sooft es gilt, soweit zu reichen, wie wir können. So erreichen wir die Grenze unserer Möglichkeiten, dessen was wir können oder nicht können. Gleichzeitig bildet er die Mitte der Hand, die Balance, die im Können steckt, den Grenzpunkt, von dem ab etwas sein kann oder nicht.

Den Ringfinger setzen alle Menschen allein kaum ein, sondern er geht immer zusammen mit seinen Nachbarn. Für ihn ist dies typisch, dass er sich anlehnt bzw. die Nachbarn abstützt. In ihrem Schonraum bzw. Schutz darf er sich bewegen, den Ring tragen, obwohl er doch auch recht groß und meistens wohlgestaltet ist, weshalb er auch „schöner Finger“ genannt worden ist. Er wird mit dem Herzen in Verbindung gebracht und so geht es bei ihm um das Dürfen, das auf Zuneigung, Erlaubnis und Entgegenkommen beruht.

Den kleinen Finger, klein und schwach an der Handkante, müssen wir schützen wie auch überhaupt unser Leben, d. h. wir müssen essen, trinken, schlafen usw., um am Leben zu bleiben. Natürlich kann man das in allen fünf Fingern sehen, denn alle sind klein und schwach. Während aber die anderen jeder durch etwas Besonderes charakterisiert sind, ist es hier eben die Kleinheit, wie der Name schon sagt, das Müssen, das unser Leben durchzieht.

Es ergibt sich also das Bild von der Hand, bei dem die fünf Finger für die fünf modalen Hilfsverben stehen.

Hand mit den fünf modalen Hilfsverben

Dass die fünf Weisen oder Beweggründe unseres Tuns so im Charakter der fünf Finger wiedergefunden werden sollen, widerspricht der in unserer Kultur selbstverständlichen Trennung von Körper und Geist bzw. der geläufigen Vorstellung von der Ungebundenheit des Denkens. Darum können bei jedem Finger Zweifel aufkommen, ob sein Charakter mit dem betreffenden Wort wirklich schlüssig in Verbindung zu bringen sei. Nimmt man jedoch alle fünf im Zusammenhang, dann ist die parallele Übereinstimmung offensichtlich. Und eine Ordnung wird erkennbar im Denken und Sprechen, die in Gestalt und Funktion der Finger wiederkehrt.

II. Die Ordnung wird bestätigt

Diese übereinstimmende Ordnung tritt noch mehr hervor, wenn wir die fünf modalen Hilfsverben in der Anordnung betrachten, wie sie in der Hand vorgegeben ist und zwar unter dem Gesichtspunkt der Freiheit. Für alle Menschen ist es von entscheidender Bedeutung, ob sie etwas tun oder lassen, weil sie es müssen oder ob sie es dürfen, können, sollen oder wollen. Die Reihe, in die wir die Fünf damit gestellt haben, führt in der Hand vom kleinen Finger zum Daumen. Genau in dieser Reihe entfalten die fünf modalen Hilfsverben die Freiheit.

Wenn wir sagen, wir müssen, dann sehen wir uns genötigt. Hier gibt es keine Freiheit, sondern nur Notwendigkeit. Alles, was uns am Leben erhält, müssen wir tun, weil wir sonst sterben. Und wo immer ein Tier, wie wir sagen, von seinem Instinkt geleitet wird, „kann es nicht anders“. Der Druck geht vom Leben selbst aus.
Bildlich gleicht das Müssen einer Kugel in einer Kugel oder einer Welle in einer Achse, so eng eingeschlossen, dass sie nur rotieren kann ohne einen Spielraum:

Kugel in einer Kugel

Beim Dürfen ist es schon anders. Dürfen wir, so hat es jemand erlaubt. Im Schutz dieser Erlaubnis entsteht ein Spiel- oder Freiraum. Dieser ist begrenzt wie bei einer kleinen Kugel, die rings umschlossen ist von einer deutlich größeren Kugel:

kleine Kugel in einer größeren
Freiheit als Spielraum

Beim Können ist der Freiraum geöffnet. Die Kugel steht auf der Schwelle oder die Angelegenheit auf der Kippe oder in der Waage. Die Kugel kann hinaus rollen, muss aber nicht. Der Freiraum steht halb offen. Es gibt zwei Möglichkeiten, entweder in der Erlaubnis zu verharren oder in die Freiheit zu gehen:

Kugel in einem Halbkeis
Freiheit als Möglichkeit

Beim Sollen ist der Schritt in die Freiheit getan. Es stehen nun alle Richtungen offen, doch eine davon wird dringend angeraten. Dorthin soll man gehen. Aber Sollen ist nicht Müssen. Man kann sich gegen den Rat entscheiden, man hat die Freiheit in alle Richtungen:

Kugel mit von sich wegweisenden Pfeil
Wahlfreiheit

Beim Wollen ist die Freiheit total. Damit man sie als Freiheit überhaupt noch wahrnehmen kann, ist es nötig zu sagen, was man will. Der Wille allein ist so sinnlos wie ein Daumen, dem alle vier Finger fehlen. Er braucht einen Gegendruck, einen Widerstand, um zu sich selbst zu kommen, sich bewusst zu werden, was er will. Die Hand mit dem abgespreizten Daumen, der sich den anderen entgegenstellt, bildet dies in jeder Beziehung ab. Der Mensch will, was er soll oder nicht soll, was er kann oder nicht kann, was er darf oder nicht darf, oder was er muss oder nicht muss.

Hatte sich im ersten Durchgang eine überraschende Übereinstimmung gezeigt zwischen den fünf Fingern und fünf modalen Hilfsverben, so ist im zweiten Durchgang in der Anordnung der fünf Finger eine klare, sprach-logische Ordnung erkennbar geworden. Genauso wie die Finger mit dem Daumen zusammenspielen, bringen wir mit den modalen Hilfsverben die Freiheit zur Sprache.

III. Die Ordnung wiederholt sich

Die soeben beobachtete Ordnung in der Anordnung der fünf Finger kehrt offenbar auch sonst im Körper des Menschen und in seinen Lauten wieder. Dies hat die Atemtherapeutin Ilse Middendorf in ihrem Werk „Der erfahrbare Atem“ aufgezeigt. Jeder Mensch kann schon mit einfachen Atemübungen nachvollziehen, wie die fünf Finger in der Reihenfolge vom kleinen Finger zum Daumen mit den Vokalen u-o-a-e-i zusammenhängen. In der gleichen Anordnung öffnen sich im Körper verschiedene Atemräume. Für die Einzelheiten wird auf das genannte Buch verwiesen.

IV. Vom Leiden zur Leidenschaft

Die bisher anschaulich und fühlbar gewordene Ordnung geht aber noch viel weiter. Um dies darzustellen, nehmen wir auf, was der Philosoph Viktor von Weizsäcker in seinem Werk „Pathosophie“ beschrieben hat. Er nennt die modalen Hilfsverben „pathische Kategorien“, weil sie das „Pathos“ des Menschen zum Ausdruck bringen, das, woran er leidet. Leiden bringt den Menschen in Bewegung und voran. Die vielen Spielarten dessen, woran der Mensch leidet, lassen sich in den „pathischen Kategorien“ zusammenfassen. Beispielsweise will der Mensch, was er nicht soll oder nicht kann. Er will nicht, was er muss, oder er will, was er nicht darf. Er soll oder darf, was er nicht kann, oder muss, was er nicht soll oder nicht darf.
Gibt es eine Ordnung in diesen verwirrend vielen gegenläufigen Beziehungen der „pathischen Kategorien“? Viktor von Weizsäcker hat von ihrem „pentagrammatischen Zusammenhang“ gesprochen, dies jedoch nirgends genauer ausgeführt. Aber der Hinweis auf das Pentagramm führt weiter.
Man erhält das Pentagramm, wenn man die Fingerspitzen im Kreis in den Sand oder auf ein Papier stellt und die so entstehenden fünf Punkte durch Linien miteinander verbindet. Unsere fünf modalen Hilfsverben oder pathischen Kategorien kommen dann entsprechend an den fünf Spitzen zu stehen:

Pentagramm mit den Begriffen Können Sollen Wollen Müssen und Dürfen auf den Spitzen

Diese Anordnung macht wieder andere Zusammenhänge zwischen den Fünf sichtbar. Sie bilden z. B. eine folgerichtige Kette, indem sie einander zu Hilfe kommen. Diese Kette führt in der Weise durch das Pentagramm, wie es oft gezeichnet wird, in einem Strich, ohne abzusetzen:

Pentagramm auf der Handfläche

Sieht sich ein Mensch ganz dem Müssen ausgeliefert, der Drohung dass er sterben muss, so rettet ihn am ehesten das Sollen, in dem er -etwa vom Arzt- erfährt, was er tun soll, damit er nicht stirbt.
Hat sich ein Mensch nun ganz auf das Sollen geworfen und geht darin unter, weil ihn Ratschläge, Vorschriften und Bestimmungen bedrängen und überfordern, so verschafft ihm das Dürfen Luft. Die Erlaubnis, alles nicht so eng zu sehen, verschafft ihm Freiheit, Entlastung und Erholung.
Wird ihm das Dürfen wieder zum Leiden, da er, eingehüllt in Fürsorge und Erlaubnis, sich selbst und alle Entschlusskraft verliert, so sprengt nun das Wollen bzw. der eigene Wille den goldenen Käfig, weckt Mut und Tatkraft.
Will der Mensch nun alles auf einmal, fängt tausend Sachen an, übernimmt und überfordert sich, so wird am ehesten das Können seine schlimme Lage erleichtern. Hält er sich an das, was er kann, beschränkt sich auf seine Möglichkeiten, so tut diese Begrenzung ihm wohl, verleiht ihm Halt und Ziel.
Richtet sich der Mensch aber nun ganz in der Begrenztheit dessen ein, was er kann, und meidet jede Herausforderung durch Neues oder Unbekanntes, verliert er seine Beweglichkeit und Kraft. Er muss schließlich krank werden. Das Leben bzw. das Müssen bricht in Krankheit aus, um ihm das Leben zu retten. Aus der Krankheit, dem Müssen, rettet in einem neuen Durchgang das Sollen.

Der Gang durch die fünf pathischen Kategorien zeigt, wie jede für sich im Leiden endet, wären da nicht die Kehrtwendungen. Durch sie wird das Leben leidenschaftlich, gelangt in eine Balance, die ständig in Bewegung ist. Nur in Bewegung gibt es die Balance. Anhand des Pentagramms tritt sie deutlich in den Blick. Auch andere folgerichtige Beziehungen zwischen den pathischen Kategorien lassen sich anhand des Pentagramms studieren.

V. Geist und Körper in Bewegung

Mit Hilfe des Pentagramms hat sich gewissermaßen in einer zweiten Gegenprobe bestätigt, dass die im Zusammenspiel der fünf Finger erkennbare Ordnung bis in alle Einzelheiten der Ordnung folgt, in der die fünf modalen Hilfsverben zueinander stehen. Wie diese alles umfassen, was den Menschen bewegt, so scheinen die fünf Finger alles zu „begreifen“, worauf es ankommt.
Wie Denken und Sprache körperlich bedingt sind und als körperliche Vorgänge sichtbar werden können, das sucht man zu erforschen, indem man mit vielen verschiedenen Methoden in den Körper, vor allem in das Gehirn eindringt. Mit den fünf Fingern bietet der Körper von sich aus einen Zugang zur Ordnung des Denkens ganz offen an. Aber es ist nicht der Körper allein. Gerade in den fünf pathischen Kategorien haben wir es mit dem Menschen in seinen sozialen Beziehungen zu tun. Ihm wird erlaubt, geraten und verboten; er setzt sich mit sei-nem Wollen durch, erfährt sich im Müssen und in den Grenzen, aber auch im Bewusstsein seines Könnens. Der „Geist“, der in der Vorstellung unserer abendländisch-christlichen Kultur eher von außen kommt, vom Körper Besitz ergreift, scheint doch eher eine Ordnung zu sein, die im Körper selbst wirksam ist und zugleich in den sozialen Beziehungen.

Anmerkungen

  1. Paläontologische und biologische Forschungen haben gezeigt, dass sich die fünf Zehen bzw. Finger im Mutterleib genau in der gleichen Reihenfolge entwickeln.
  2. Ilse Middendorf, Der erfahrbare Atem, Paderborn 1995, S. 63-65 und 139-141.
  3. Viktor von Weizsäcker, Pathosophie, Göttingen 1956, S. 60ff.
nach oben zeigende Hand
http://bs.cyty.com/fingerreim/de/anthropologie/koerpergestalt/index.shtml, Stand: 11. October 2012, jk