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Gott ist anders im Vaterunser
Ein neuer Schlüssel für den interreligiösen Dialog
Der irreale Vater

Der irreale Vater oder: Die Ausbeutung der Liebe

Eberhard Fincke, Braunschweig

Es liegt nahe, das ganze Vaterunser vom ersten Wort her zu verstehen, vom Wort „Vater“. Dieses Wort gibt dann sozusagen den Ton an, wie ein Vorzeichen in der Musik. Kann aber das vielfach emotional aufgeladene Wort „Vater“ der Schlüssel zum Verständnis des Vaterunsers sein? Schillert das Bild des Vaters nicht schon gegenwärtig allzusehr, erst recht in der langen Geschichte des Christentums? Nur scheinbar ist es doch leicht verständlich.

So fordert Eugen Drewermann in der Einführung zum „Vaterunser-Projekt“ der Zeitschrift PUBLIK FORUM mit Recht, dass heute auch biblische Wörter wie „Gott“, „Vater“, „Reich Gottes“ oder „Wille“ übersetzt werden müssen. Aber zu dem Wort „Vater“ findet man in dem ganzen Heft dann doch keine Rückfrage. Vielmehr werden die Leserinnen und Leser am Ende des Heftes zur Beteiligung eingeladen mit der Maßgabe, der Inhalt des Vaterunsers zeige das Bild Jesu vom himmlischen Vater auf, einem „zärtlich, barmherzigen, menschenfreundlichen Gott, im Gegensatz zum Gottesbild eines strafenden, rächenden, eifersüchtigen Superpatriarchen.“

Nun hat man schon immer die zuvorkommende, bedingungslose, unendliche Liebe Gottes mit der Vater- oder Mutterliebe verglichen. Weil sich der Mensch jedoch hier einseitig als geliebtes Kind sieht, ist dieses Bild gefährlich. Liebe kann ja auf die Dauer nicht einseitig bleiben, ohne ein Unglück zu werden. Vielmehr wandelt sich das geliebte Kind - hoffentlich - in einen liebenden Menschen.

Mit anderen Worten gehört zum Vater darum auch dies, dass er dem Kind bei aller Liebe die Grenzen aufzeigen, d. h. ihm Bedingungen stellen muss (ideal-typisch gesprochen mit Erich Fromm, „Die Kunst des Liebens“). Nur so kann das Kind nach und nach selbstständig und eigenverantwortlich werden, selbst wieder Vater oder Mutter sein. Bliebe es Kind, so würde die Mutter von ihm auf die Dauer in ihrer bedingungslosen Liebe überfordert und ruiniert.

Genau dies ist nun eingetreten im Verhältnis des abendländischen Menschen zur Erde, von der er nach uralt religiösem Verständnis doch genommen ist. Er ist im Begriff, sie zu zerstören, weil er kindisch verantwortungslos glaubt, alles zu dürfen, was er kann. Aus der Angst und Ohnmacht angesichts der damit angerichteten sozialen und ökologischen Not soll ihm Gott oder die christliche Kirche heraushelfen. Die spricht ihm von Gott als dem unendlich liebenden und vergebenden Vater. So kommt es in der kapitalistisch organisierten Gesellschaft in klassisch-kindlichem Narzißmus zum Pendeln zwischen alles beherrschen wollendem Allmachtsgefühl und der Realitätsflucht zu einem allmächtigen, liebenden Vater.

Aus dem geliebten Kind wird kein liebender Mensch, und das Vaterunser macht man zur Projektionsfläche für die irrealen Vaterwünsche einer „vaterlosen Gesellschaft“. Nicht ein Vater, eine Autorität, eine Wertordnung oder ein Gesetz kann ja letztlich dem Menschen sagen, was er tun darf und was nicht, sondern nur seine Liebe zu sich selbst und zu allem Lebendigen. Dies eigentlich ist der Glaube Jesu. Der wird verdunkelt, versteht man die Bitten des Vaterunsers vom Vater her.

Die Bitten des Vaterunsers sind nicht nach oben gerichtet, sondern von einem liebenden Menschen formuliert, d. h. in gegenseitiger Zuwendung. Die ersten drei Bitten kommen Gott entgegen; denn sein Name (nicht „Vater“!) soll geschützt werden. Gott soll zum Zuge kommen, mit dem, wie er Gerechtigkeit versteht und sein Wille soll geschehen.

Die Brotbitte ist in vollendeter Gegenseitigkeit formuliert, nachhaltig, wie wir heute sagen, die Bedürfnisse aller anderen mit bedenkend. Die Vergebungsbitten sind ausdrücklich gegenseitig gesprochen. Die Bitte, nicht in Versuchung geführt zu werden, hat schon immer irritiert, weil und solange sie eben an einen Vater gerichtet wird. Neigt er zum Sadismus? In einer gegenseitigen, partnerschaftlichen Beziehung wirkt diese Bitte ganz anders, ebenso wie die Bitte um Erlösung. Gegenseitige Verbundenheit, Beistand und Solidarität klingen durch.

Noch deutlicher tritt der gegenseitige Charakter der Bitten im Vaterunser hervor, folgt man der Anregung, das Vaterunser könne in der Form eines alt-israelitischen Fingerreims gedichtet sein. Auf jeden Fall wird das Vaterunser damit deutlich anders verstanden als bisher, aber doch wohl näher bei dem, was Jesus selbst gemeint hat. Anders als beim Credo, das einen Kompromiss darstellt, der in einem langen Abstimmungsprozess vieler Menschen gefunden wurde, haben wir im Vaterunser doch wohl die durchdachte Äußerung eines Einzelnen vor uns. Bevor man dazu einlädt, einen solchen Text nach eigenem Verständnis abzuwandeln, sollte man zunächst versuchen, die Intention des Verfassers möglichst genau zu erkennen.

nach oben zeigende Hand
http://bs.cyty.com/fingerreim/de/religion/der-irreale-vater/index.shtml, Stand: 11. October 2012, jk