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Gott ist anders im Vaterunser
Ein neuer Schlüssel für den interreligiösen Dialog
Der irreale Vater

Eberhard Fincke

Ein Schlüssel für den interreligiösen Dialog

Seit dem Anschlag vom 11. September und seinen Folgen leuchtet wohl auch dem Letzten ein, wie wichtig ein Religionsfrieden für den Weltfrieden ist. Wie aber können sich die Religionen verständigen? Nicht einmal die verschiedenen Konfessionen innerhalb einer Religion kommen weiter. Orthodoxe, Katholiken und Protestanten machen sich das Leben gegenseitig schwer, ebenso Sunniten und Schiiten, liberale und orthodoxe Juden. Andererseits haben sich noch nie so viele Menschen wie heute im ökumenischen oder interreligiösen Dialog engagiert.

Der Versuch über die Menschenrechte

Was kann die verschiedenen Religionen verbinden? Viele meinen, man könnte sich auf der Basis der Menschenrechte treffen, da sie doch umschreiben, was allen Menschen gemeinsam ist. Jedoch, die Menschenrechte sind in der westlich-christlichen Welt formuliert worden. Außerdem schafft der Begriff „Recht“ Probleme. Nach herrschendem Verständnis ist ein „Recht“ ein Gesetz, das durchgesetzt werden muss. In der westlichen Welt begreift man die Menschenrechte als Teil der Gesetzgebung und führt unter Berufung auf die Menschenrechte inzwischen sogar Kriege. Was dem einen als Recht und Gesetz gilt, kann dem anderen kaum als Verständigungsmittel einleuchten. Mit Recht und Gesetz erhebt man gewissermaßen den Zeigefinger. Das kommt beim Dialogpartner nicht so gut an. Daher ist es verständlich, dass die Initiative „Weltethos“ (Hans Küng) und das „Parlament der Weltreligionen“ anders vorgegangen sind.

Das Projekt „Weltethos“

Aus der Tradition der verschiedenen Religionen hat man „vier unverrückbare Weisungen“ herausgefiltert:

  1. Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben.
  2. Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung.
  3. Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit.
  4. Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und der Partnerschaft von Mann und Frau.

Diese „uralten Weisungen“, so meint Hans Küng, gehen aller Gesetzgebung voraus und stellen deshalb einen „vorrechtlichen Konsens“ dar. Sie gehören zum „Bereich des nichtpositiven Rechts“ (H. Küng/K.-J. Kuschel, Weltfrieden durch Religionsfrieden, München/Zürich 1993, S. 212 f.). Sozusagen vor aller Gesetzgebung sind sie schon gegeben. Das trifft nun aber nicht ganz zu. Unschwer sind in diesen vier Weisungen jene vier Gebote wiederzuerkennen:

Du sollst nicht töten- Ehrfurcht vor allem Leben.
Du sollst nicht ehebrechen- Partnerschaft von Mann und Frau.
Du solltst nicht stehlen- gerechte Wirtschaftsordnung.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden- Leben in Wahrhaftigkeit.

Die Zehn Gebote werden leider schon in der Bibel als Teil des Gesetzes überliefert und weithin auch heute so verstanden. Entsprechend sieht es in anderen Religionen aus. Mit den vier Weisungen formuliert man also in der altbekannten Weise ethische Forderungen, jetzt nur erweitert mit modernen Stichworten wie Solidarität, Toleranz und Gleichberechtigung. Das heisst, die Religionen hantieren auch in diesem Falle untereinander mit jenem ermahnenden Zeigefinger. Von dem gilt nach einem bekannten Wort von Gustav Heinemann, dass drei Finger auf einen selbst zurückweisen, wenn man ihn erhebt.
Das trifft nun genau die Situation, wie sie sich im interreligiösen Dialog darstellt. Es sind lauter Zeigefinger versammelt. Alle zeigen von sich weg auf das Sollen. Denn die Vertreter aller Religionen sind es gewohnt, den Weg zu weisen. Dagegen müßten sie gemeinsam nach dem Weg fragen. Statt des Zeigefingers sollten sie gemeinsam und ehrlich jenen drei Fingern folgen, die auf sie selbst gerichtet sind, und erforschen, wie es kam, dass sie zum Krieg beigetragen haben und es immer noch tun. Es geht also um Selbstprüfung im Dialog.
Genau damit würden die Religionen den Ursachen des Unfriedens wirklich näher kommen. Jedoch, ein solcher Dialog stellt hohe Anforderungen. Und eigentlich braucht man dazu eine neutrale Autorität oder Vermittlungsinstanz, der sich alle gleichermassen unterstellen oder anvertrauen können. Aber gerade daran scheint es zu fehlen. Die verbreitete Meinung z.B., alle könnten sich doch letztlich unter demselben Gott zusammenfinden, hilft nicht weiter. Über Gott ist man sich erst recht nicht einig. Müssen wir uns also vorläufig mit jenen vier Weisungen bescheiden, weil mehr eben nicht möglich war?

Die Hand ist der Schlüssel

Keineswegs. Nicht von ungefähr nämlich hat sich das Parlament der Weltreligionen bei diesen vier Weisungen getroffen. Dahinter steckt, was die Beteiligten nicht wussten, eine eben doch allen Religionen gemeinsame Basis; denn die vier Weisungen sind Teil eines Fingerreims.
Fingerreime kennt man heute noch als Kinderspiel. Dort, wo die heutigen Religionen wurzeln, in den uralten schriftlosen Kulturen, waren sie als Gedächtnisstütze geläufig. Darüber hinaus sind sie ein Mittel, die eigene Situation und die Beziehung zu anderen schnell und zuverlässig zu durchdenken.
Man nutzt beim Fingerreim die Tatsache, dass die vier Finger mit dem Daumen eine einzigartige Reihe bilden. Geht man vom Namen und Charakter jedes einzelnen Fingers aus, so verkörpert jeder ein markantes Anliegen des Menschen. Die fünf Anliegen oder Bedürfnisse lassen sich, beim kleinen Finger angefangen, so umschreiben:

Der Kleine, Schwache- alle brauchen Leben, Gesundheit, Sicherheit,
Der Anhängliche, Ringträger- alle suchen Liebe, Gemeinschaft, Zusammenhalt,
Der Mittlere- alle wollen Gerechtigkeit, Ausgleich, Balance
Der Zeiger- alle wollen die Wahrheit wissen, Orientierung
Der Dicke, Greifer- alle brauchen Freiheit, Unabhängigkeit, Macht

Die fünf grundlegenden Bedürfnisse sind also in den fünf Fingern versammelt. Sie umfassen alles, was Menschen brauchen. Diese Bedürfnisse bilden eine Einheit wie die Finger in der Hand. Auf einen Blick ist zu erkennen, dass auch jene vier Weisungen des Parlaments der Weltreligionen an den vier Fingern entlanggehen:

Leben - Partnerschaft - gerechte Ordnung - Wahrheit.

Der Daumen fehlt in dieser Reihe. Das ist kein Zufall; denn die meisten Religionen empfinden den Freiheitswillen des Menschen, für den der Daumen steht, eher als Störfaktor. Nehmen wir nun den Daumen hinzu, so bietet die Hand mit den fünf Fingern jenen gesuchten, auf der ganzen Erde stimmigen Leitfaden. An den fünf Fingern entlang kann man sich darüber verständigen, welche Bedürfnisse zu ihrem Recht kommen müssen, damit Friede wird.

Wird aber nun bei diesem Leitfaden nicht gleich mit fünf Fingern gedroht, statt nur mit dem Zeigefinger? So könnte es scheinen. Jedoch, die Hand ist allen Menschen gemeinsam, unabhängig von Sprache, Hautfarbe, Kultur und Religion. Der Leitfaden ist also nicht von oben vorgegeben wie ein Gesetz oder irgendwo erdacht. Vielmehr wird jeder Mensch und jede Religion von der eigenen Hand an sich selbst verwiesen. In allen religiösen Traditionen lassen sich auch Spuren von Fingerreimen nachweisen. So hat niemand Grund, dies als eine ihm fremde Weisung oder von aussen kommen-de Vorschrift abzulehnen.

Am Modell der fünf Finger hat der Mensch die fünf Anliegen oder Interessen vor Augen, die ihn mit allen Menschen verbinden. Friede wird, wenn und so oft alle fünf Interessen miteinander verbunden werden.
Je tiefer man in dieses Zusammenspiel eindringt, wie die Fünf einander widersprechen und doch ergänzen, um so deutlicher treten auch die Stärken und Schwächen bei jeder am Dialog beteiligten Religion in den Blick. Man muss sich dann nicht mehr voreinander rechtfertigen, sondern das gegenseitige Verständnis wächst und die Fähigkeit, für den Weltfrieden zusammenzuarbeiten.

Heilgard Stieber/ Eberhard Fincke/ Christine Gholipour-Ghalandari,
FINGERREIME
Hildesheim 2001

Eberhard Fincke,
HANDBUCH DER BEFREIUNG
Wie der Mensch in Bewegung kommt
Hildesheim 1995

Eberhard Fincke,
DIE WIEDERENTDECKUNG DER SOZIALEN INTELLIGENZ
Balance der Interessen in einer zukunftfähigen Gesellschaft,
Stuttgart 1997

Eberhard Fincke,
GESANG GEGEN DIE HERRSCHENDE MEINUNG
Das Vaterunser - ein Fingerreim,
Stuttgart 2000

nach oben zeigende Hand
http://bs.cyty.com/fingerreim/de/religion/interreligioeser-dialog/index.shtml, Stand: 11. October 2012, jk