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Gott ist anders im Vaterunser
Ein neuer Schlüssel für den interreligiösen Dialog
Der irreale Vater

Gott ist anders im Vaterunser

Die meisten Menschen können nicht viel anfangen mit der Bitte im Vaterunser: „Und führe uns nicht in Versuchung“. Dieser Satz widerstrebt dem, was sie von Gott denken. Auch jetzt wieder, beim Vaterunser-Projekt in PUBLIK FORUM, haben so gut wie alle, die sich zum Vaterunser äußern oder eigene Formulierungen dazu vorstellen, die Bitte in dem überlieferten Wortlaut abgelehnt. Sie lassen sie entweder aus oder machen daraus: „Und führe uns in der Versuchung“ oder „Erlöse uns von der Versuchung“.
Gott kann doch kein Sadist sein! Glauben und Vertrauen in Gott wären doch unmöglich, wo Gott als Vater oder Mutter, Helfer oder Freund, absichtlich in Versuchung führt. Kann Jesus so gebetet haben? Ist diese Bitte vielleicht mißverständlich überliefert oder falsch aus der Muttersprache Jesu, dem Aramäischen, ins Griechische übersetzt worden? Bei all solchen Zweifeln ist man versucht oder sieht sich gar berechtigt, den Satz abzuändern. Eugen Drewermann übergeht ihn einfach in der Einleitung zum Vaterunser-Projekt.

All diese Schwierigkeiten lösen sich jedoch völlig auf, liest oder spricht man das Vaterunser als Fingerreim. Man geht dabei das Vaterunser vom Daumen bis zum kleinen Finger und wieder zurück Satz für Satz durch. Jedesmal gibt der Finger der entsprechenden Bitte durch seinen Charakter das Stichwort.
Bei der Bitte „Und führe uns nicht in Versuchung“ ist man kurz vor dem Ende wieder beim Zeigefinger angekommen. Der steht als Zeiger natürlich für die Wahrheit, für das Vermögen des Menschen, richtig und falsch, gut und böse bewußt wahrzunehmen und zu unterscheiden. Durch das Stichwort „Wahrheit“ bekommt jene Bitte dann etwa folgenden Sinn: „Und führe uns mit der so wunderbaren Gabe der Erkenntnis nicht in Versuchung“.

So verstanden versetzt die Bitte die Beterin oder den Beter mit einem Schritt mitten in eine ganz neue, ungewohnte Beziehung zu Gott. Gott ist nicht mehr jemand für sich oder außerhalb des Menschen, dem man entweder vertraut, weil er glaubhaft, oder mißtraut, weil er vielleicht ein Sadist ist. Gott ist dem Menschen auf einmal unmittelbar nah und lebendig in dem, was ihn zum Menschen macht. Das ist hier die überaus schöne Begabung, gut und böse bewußt zu unterscheiden. Jedoch, alsbald zeigt der Mensch auf den Splitter im Auge des anderen, urteilt und verurteilt, und ehe er sich versieht, gerät ihm dies zum Glaubenszwang und steigert sich zum Vernichtungskrieg gegen das Böse. So lebt er fern vom Paradies, weil er eben vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen hat, den doch Gott gepflanzt hat (I. Buch Mose 3).
Ein Verhängnis sehen die biblischen Erzähler darin dennoch nicht. Wie auch eine moderne Anthropologie wissen sie von noch weiteren Begabungen, durch die der Mensch menschlich und Gott in ihm lebendig wird, die Gaben der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Lebens. So oft der Mensch sich all dieser Begabungen freut und sie sich zu eigen macht, so kann man sagen, ist Gott in ihm und er in Gott.

So hat Gott nichts mehr zu tun mit Macht, Moral und Bevormundung, gehorcht der Mensch nicht irgendwelchen Geboten oder gar Verboten. Eher umgekehrt beginnt er, endlich jene Bedürfnisse oder Emotionen bei sich wahrzunehmen und zuzulassen, die er sich in einer langen, entmutigenden Tradition der Bevormundung versagt und nicht erlaubt hat, den Willen zur Freiheit, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit oder den Mut zur Liebe.
Damit man sich aller dieser Begabungen vergewissern kann und keine vergißt, hat man schon in alten Zeiten in den fünf Fingern einen Leitfaden gefunden, den Fingerreim. Wie die fünf Finger in der Hand eine unzertrennliche Einheit bilden, so wollen auch Freiheit - Wahrheit - Gerechtigkeit - Liebe und Leben in Balance miteinander gelebt werden. Jede Begabung für sich allein führt, wie es oben bei der Wahrheit zu sehen war, in Zerstörung und Tod.
Heutzutage ist es die Freiheit, die George W. Bush als Anführer des reichen Westens mit ausdrücklicher Berufung auf Gott beschwört. Zu ihrem Schutz muß er deswegen gegen den Rest der Welt aberwitzige Sicherheitsanstrengungen in Gang setzen. Nur wenn die westliche Welt bei sich selbst auch den Sinn für Gerechtigkeit und den Mut zur Liebe, das heißt zum Entgegenkommen wiedergewinnt, ist das Desaster zu verhindern, das jene einseitige Freiheits-Propaganda zur Folge haben wird.

Das Vaterunser als Fingerreim ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie ein Gebet dazu verhelfen kann, Gott in der eigenen, sinnlich erfahrbaren Kraft wieder zu entdecken. Diese rettende Kraft steckt in den fünf Begabungen oder Emotionen gerade dort, wo sie verschlafen oder verkümmert sind, weil sie nicht erlaubt oder gewagt wurden. Diese Kräfte sind wie Wasser oder Feuer. Sie sind gewaltig, können aber deswegen auch zerstörerisch sein. Gerade darin geht einem Gott ganz anders auf. Gott ist nicht mehr jenseits, eine höhere, übernatürliche oder übersinnliche Energie, mit der der Mensch in Kontakt zu kommen sucht, weil seine natürlichen menschlichen Kräfte am Ende sind. Läßt man sich die Stichworte zu den einzelnen Bitten im Vaterunser anhand der fünf Finger geben, wird Gott diesseits erfahren, in der eigenen, immer wieder nicht für möglich gehaltenen Kraft.

Wie alle Bitten des Vaterunsers im Licht des Fingerreims einen neuen und auch heute noch klaren Sinn bekommen, wird ausführlich dargestellt in dem Buch: Gesang gegen die herrschende Meinung. Das Vaterunser - Ein Fingerreim, Radius-Verlag Stuttgart 2000.

nach oben zeigende Hand
http://bs.cyty.com/fingerreim/de/religion/vaterunser/index.shtml, Stand: 11. October 2012, jk